Brennen für die Möglichkeit – „Sag Feuer“ von Selma Asotić

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von Matti Keller

In ihrem Gedicht I dwell in Pos­si­bi­li­ty (Ich woh­ne in der Mög­lich­keit) fasst die US-ame­ri­ka­ni­sche Dich­te­rin Emi­ly Dick­in­son die Lyrik als

A fai­rer House than Pro­se –
More num­e­rous in Win­dows –
Supe­ri­or for Doors – 

Ein Nach­hall die­ser Ver­se fin­det sich in einem der 37 Tex­te von Sel­ma Aso­tić, die unter dem Titel Sag Feu­er am 17. Novem­ber erst­mals auf Deutsch bei Suhr­kamp erschei­nen. Das Gedicht Für die Frau, die mei­ne Spra­che lernt, nach­dem ich ihre erlernt habe beginnt mit den Zeilen

Hier gibt es kein offe­nes Feld und kein Haus
aus Fens­tern. Die­se Spra­che ist ein Zim­mer, in dem du kniest,
in dem die Stim­me Ruß von den Wän­den kratzt,
Bis dir irgend­wann der dunk­le Efeu
im Hals hinaufrankt. 

„Hier“, das ist die Spra­che, in der das Gedicht geschrie­ben wur­de, das Bos­ni­sche. Und „Hier“, das ist auch ein in bos­ni­scher Spra­che geschrie­be­nes Gedicht, das sich kri­tisch mit den Bedin­gun­gen sei­ner eige­nen Mög­lich­keit aus­ein­an­der­setzt. Wo Emi­ly Dick­in­son, anschei­nend ganz hei­misch in ihrer Mut­ter­spra­che, von einem „Woh­nen in der Mög­lich­keit“ schrei­ben konn­te, ist die Spra­che als Bedin­gung der Lyrik bei Aso­tić ein ver­ruß­tes Zim­mer und das Spre­chen eine dunk­le, poten­zi­ell gif­ti­ge Pflan­ze, die sich ihren Weg aus dem Bauch, durch die Spei­se­röh­re in den Mund her­auf­bahnt – ein kör­per­li­cher, ein schmerz­haf­ter Pro­zess von unheim­li­cher Schönheit.

Die Gedich­te in Sag Feu­er neh­men es aber nicht nur mit der Spra­che auf, in der sie ver­fasst sind, son­dern stel­len sich ande­ren ideo­lo­gi­schen Kon­struk­ten genau­so selbst­be­wusst ent­ge­gen: Der Nati­on etwa, die­ser „Mut­ter sab­bern­der Söh­ne / mit ihrem haben wol­len“ oder der Hei­mat, die, bevor sie Hei­mat wur­de, doch nur „eine öde Pau­se zwi­schen Orten“ war. Und auch gegen­über ‚dem Wes­ten‘ wis­sen sie sich zu behaup­ten, der immer wie­der in neu­er Ver­klei­dung auf­tritt: Als Rich­ter, der eine Unzu­ver­läs­si­ge Zeu­gin dar­über belehrt, dass ihr Glück und der schö­ne Gar­ten, den sie hat­te, bevor „sie die Stadt / in die Ver­gan­gen­heit umsie­del­ten“ nicht rele­vant für den Gerichts­pro­zess sei. Oder als besorg­ter Intel­lek­tu­el­ler, „Kolum­nist des New Yor­ker“, der Ame­ri­ka vor der Bal­ka­ni­sie­rung ret­ten will. Und als „Noa aus Oslo“, der in ein „Land der kom­ple­xen inter­eth­ni­schen Bezie­hun­gen“ gekom­men ist, „um die Mecha­nis­men der Gewalt zu erfor­schen“ – „nur noch ein paar Geno­zi­de, und er hat sei­ne Professur.“

Sel­ma Aso­tić beschleu­nigt auf 119 Sei­ten das Marx‘sche Ver­spre­chen der „Bour­geois-Epo­che“: „Alles Stän­di­sche und Ste­hen­de ver­dampft, alles Hei­li­ge wird ent­weiht, und die Men­schen sind end­lich gezwun­gen, ihre Lebens­stel­lung, ihre gegen­sei­ti­gen Bezie­hun­gen mit nüch­ter­nen Augen anzu­se­hen.“ Pas­send beschwö­ren die Gedich­te diver­se Geis­ter ver­gan­ge­ner Revo­lu­tio­nen her­auf, so etwa den jugo­sla­wi­schen Volks­hel­den Mati­ja Gubec, der 1573 einen Bau­ern­auf­stand anführ­te und dafür auf grau­sa­me Wei­se hin­ge­rich­tet wur­de oder die sowje­ti­sche Revo­lu­tio­nä­rin, Diplo­ma­tin und Autorin Alex­an­dra Kol­lon­tai, die sich als Volks­kom­mis­sa­rin für die Rech­te der Frau­en ein­setz­te und als ein­zi­ges Mit­glied des Zen­tral­ko­mi­tees der KPdSU den sta­li­nis­ti­schen Ter­ror überlebte.

Der Titel ist also abso­lut ernst zu neh­men. Sag Feu­er schont sei­ne Leser:innen nicht mit vor­sich­ti­gen Reform­vor­schlä­gen. Im Gegen­teil ver­wehrt es sich dezi­diert gegen Beschwichtigungsversuche:

            Statt Trost
sage ich
Feu­er. Statt Ver­zeih sage ich Feu­er.
Statt
Okto­ber sage ich das Licht
nimmt die Far­be von Schüs­sen an.

Die kla­re que­er-femi­nis­ti­sche Hal­tung die­ser For­de­run­gen klingt bereits in der Aus­ein­an­der­set­zung mit der Mut­ter­spra­che an, in der „bär­ti­ge Ver­ben ihre Stö­cke“ nur dann ruhen las­sen, wenn frau sich tot­stellt. Als kon­struk­ti­ves Gegen­prin­zip zum Patri­ar­chat wird die weib­li­che Genea­lo­gie, die Matri­li­nea­ri­tät, in Stel­lung gebracht, die einen gro­ßen Raum in den Gedich­ten ein­nimmt: Immer wie­der taucht Nana auf, die Groß­mutter, die hört wie „gelehr­te Män­ner­mün­der / Geschich­ten wie­der­käu­en / über Iblis [den Teu­fel] in der Frau.“ Und Nie­mand schreibt nach Hau­se ist eine Serie von vier Gedich­ten, in der das lyri­sche Nie­mand Brie­fe an Mama ver­fasst.  
Es wer­den Rei­bungs­punk­te, Wider­sprü­che und Kon­flik­te zwi­schen den Gene­ra­tio­nen ver­han­delt in die­sen Tex­ten – und doch bestehen sie auf die Ver­bun­den­heit und den gene­ra­tio­nen­über­grei­fen­den gemein­sa­men Kampf, der nicht immer gleich aussieht:

Eine beißt auf den Stein
in ihrem Mund, die nächs­te schluckt
die Zäh­ne hin­un­ter. Die Drit­te spuckt aus.
Spricht.

Und hier, im Spre­chen über weib­li­ches und les­bi­sches Lie­ben und Begeh­ren, im eman­zi­pa­ti­ven Spre­chen über den weib­li­chen Kör­per fin­det Aso­tić dann doch zur Mög­lich­keit. Eine wei­te­re Gedicht­rei­he ist es, die vomers­ten Mal in der ein­zi­gen Les­ben­bar mei­ner Stadt, über das Coming Out hin zum Mono­log fürs ers­te Date führt. Die­ser beginnt mit den Versen:

Wie ein Streich­holz bin ich gemacht aus
gren­zen­lo­sen Mög­lich­kei­ten, mit lodern­dem Haar
beu­le ich die Fins­ter­nis ein. 

Wo Dick­in­son in der Mög­lich­keit wohn­te, da brennt Aso­tić für sie.

 

Sag Feu­er erscheint am heu­ti­gen 17. Novem­ber 2025 in einer zwei­spra­chi­gen Aus­ga­be bei Suhr­kamp. Wer neu­gie­rig gewor­den ist und erst­mal rein­le­sen möch­te, fin­det den Text Mono­log für ein zwei­tes Date in eng­li­scher Spra­che auf der Web­site der Jazz-Sän­ge­rin Jele­na Kul­jić, die ihn auf ihrer neu­en Plat­te Fun­da­men­tal Inter­ac­tions ver­tont hat.