© Fischer Verlag
von Philipp Maier
In wohl regelmäßigen Abständen treibt sich ein sog. Schlüsselroman durch die Feuilletons. Dann wird mit einigem Ach und Krach die Wahrheit hinter einer beliebigen Prominenz entlarvt: die Überheblichkeit, die Drogen, der Sex, der Lärm. Ein kleiner Diskurs dreht seine Runde der erbaulichen Zerstreuung um die Frage, ob die anderen Leute tatsächlich so leben. Ein überaus vermögender Geschäftsführer einiger Gazetten beispielsweise, der gärend-saure Ansichten vor der Öffentlichkeit versteckt und die nun endlich von allen Leuten dankbar gewusst werden. Doch wie gelangt eine Person in solche Wichtigkeit, die es lohnt, entschlüsselt zu werden? Durch welche unergründliche Kombination „von Genie oder Tücke, von Timing oder Begabung, Glück oder Courage oder wilder Entschlossenheit“ (Sandel, S. 225) versammelt sich um die betreffende Person das Interesse der Massen, diese wertschätzende Verachtung und immer das Geld? Die zähneknirschende Antwort fällt meist auf die „Leistung“. Diejenigen, die kraft ihrer Anstrengung sich schmeichelnd als Gewinner im Schlachtfeld der Gesellschaft behaupten, versichert durch das Geld, der Spiegel ihres Verdienstes. Im Glanz dieser Verausgabungen finden unsere Gesellschaften zum Begriff der Gerechtigkeit, jenem „Gerede vom Aufstieg“ und damit zur Ideologie unserer Gegenwart.
Mit dem 2020 erschienenen Buch „The Tyranny of the Merit“ oder im Deutschen „Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratie zerreißt“ von Michael J. Sandel steht der Schlüssel in den Bibliotheken, nicht zum nichtigen Kanon von Prominenz und Wichtigkeit, sondern zum Rätsel unserer Zeit. Die Leistung oder Meritokratie, so Sandel, wird zur prägenden Legitimierungsstrategie von gesellschaftlicher Ungleichheit, im Licht der Leistung erscheint diese als gerecht. Das Dilemma einer solchen Gerechtigkeit ist, dass sie systematisch Verlierer produziert. Diese können nicht länger ihren Frust und Unmut an den Adel adressieren, welcher ohne jede Leistung in der Feudalzeit durch Geburt seine Privilegien ererbt, sondern sie sind durch fehlendes Vermögen und Talent selbst für ihr Auskommen, ihren Stand in der Gesellschaft verantwortlich. Sandel zeigt, dass sich dieses Dilemma durch die ökonomischen Liberalisierungen durch Thatcher und Reagan etabliert hat, von der Opposition Clinton, Blair und Schröder daraufhin abgesichert wurde und sich unter Obama zur systematischen Herabwürdigung jener Personen ohne Bildung und Geld verfestigt hat. Das gegenwärtige Erodieren demokratischer Gesellschaften ist die Konsequenz aus diesem Dilemma, da das Politische ohne das Emotionale nicht zu denken ist und die Demütigung der Verlierer durch die Überheblichkeit der Gewinner den plausiblen Zorn entzündet, welcher vom autoritären Opportunismus aufgefangen wird.
Die Tyrannei der Leistung erwächst nicht allein aus dem Gerede vom Aufstieg. Sie setzt sich aus einer Ansammlung von Einstellungen und Umständen zusammen, die die Leistungsgesellschaft insgesamt vergiftet haben. Erstens: Die Wiederholung der Botschaft, wir seien für unser Schicksal selbst verantwortlich und hätten verdient, was wir bekommen, höhlt unter den Bedingungen ausufernder Ungleichheit und zum Stillstand gebrachter gesellschaftlicher Mobilität die Solidarität aus und demoralisiert diejenigen, die von der Globalisierung zurückgelassen wurden. Zweitens: Darauf zu bestehen, dass ein Uni-Abschluss der vorrangige Weg zu einem angesehenen Job und einem anständigen Leben sei, sorgt für ein auf Bescheinigungen beruhendes Vorurteil, das die Würde der Arbeit untergräbt und diejenigen erniedrigt, die keine Uni besucht haben. Drittens: Darauf zu bestehen, dass gesellschaftliche und politische Probleme am besten durch hochgebildete, wertneutrale Experten gelöst werden können, entspricht einer technokratischen Konzeption, die die Demokratie korrumpiert und normale Bürger entmachtet. (Sandel, S. 117f.)
Die Überheblichkeit fand stets Anlass zur moralischen Kritik. Mythologisch bei Ikarus, biblisch in Babel, durch die Bescheidenheit des Diogenes, bei den Humanisten wie Erasmus und Brant oder in der Literatur wie etwa bei Cervantes. Die Distinktion und Selbstgefälligkeit der Gebildeten ist für die Moderne bei Bourdieu durchleuchtet und findet bei Sandel zur effektiven Analyse und Kritik der Gegenwart. Der vorbehaltlose Glaube an die Kraft der Bildung weist sich immer mehr als Chimäre aus. In den Parlamenten demokratischer Gesellschaften haben deutlich mehr als 90 Prozent der Abgeordneten einen universitären Abschluss, nur zeichnet sich ab, dass bei all dieser technokratischen Kompetenz die Erosion der Demokratie nicht verhindert, sondern vielmehr durch diese provoziert wurde. So die These von Sandel, die als Einwand schwer wiegt. Die Bewältigung der gegenwärtigen Krisen wird in einem Mehr an Bildung erhofft, von der Sandel nüchtern feststellt: „Im Rahmen eines Systems, das nicht einmal den Anschein einer Gleichheit der Ergebnisse anstrebt, ist es nicht zu vermeiden, dass das Bildungswesen aufgefordert wird, die Schwerstarbeit zu verrichten […]. Und weil die Ungleichheit beständig zunimmt, verlangen wir immer mehr vom Bildungssystem und erwarten, dass es die anderen Sünden der Gesellschaft sühnt.“ (Sandel, S. 141). Doch fällt Bildung nicht mit einer ethischen oder politischen Kompetenz zusammen. So verweist Sandel auf die großen Reformen wie die Abschaffung der Sklaverei oder die Sozialgesetze des 19. Jahrhunderts, die entscheidend durch die Initiative von Menschen ohne höhere Bildung möglich wurden und substanziell zum moralischen Fortschritt beigetragen haben.
Neben dem Kredentialismus – dem Elitarismus der Zeugnisse – zeichnet Sandel auch die ökonomischen Hintergründe des Glaubens an die Leistung nach:
Alles, was die Erfolgreichen ehrlicherweise von sich behaupten können, ist die Tatsache, dass sie es – durch eine unergründliche Kombination von Genie oder Tücke, von Timing oder Begabung, Glück oder Courage oder wilder Entschlossenheit – geschafft haben, effektiv auf das Durcheinander der gewichtigen oder auch frivolen Wünsche und Begierden einzugehen, aus denen sich die Verbrauchernachfrage in jedem beliebigen Moment zusammensetzt. Die Befriedigung der Verbrauchernachfrage hat jedoch keinen Wert an sich; ihr Wert hängt von dem moralischen Status der Ziele ab, denen sie dient. (Sandel, 225f.)
Sandel bedient sich einer direkten Sprache, die Gegebenheiten und Komplexitäten unserer Zeit beeindruckend zugänglich und verständlich aufarbeitet, welche dennoch Konzentration abverlangt, aber teilweise in Wiederholungen verfällt. Die Demontage gegenwärtiger Selbstgewissheiten gelingt dem Text auch fünf Jahre nach Veröffentlichung umfänglich und spielt durch die Abkehr vom eigenen Verdienst und der eigenen Leistung die Ethik einer Orientierung auf das Gemeinwohl frei und damit die Öffnung selbst: Ein Schlüssel zum Rätsel dieser Zeit.
Denn je mehr wir uns für eigenverantwortlich und autark halten, desto schwieriger ist es, Dankbarkeit und Demut zu lernen. Doch ohne diese Empfindungen ist es so gut wie unmöglich, sich um das Gemeinwohl zu sorgen. […] Um einen Weg aus der polarisierten Politik unserer Tage finden zu können, brauchen wir eine Abrechnung mit Verdienst und Leistung. (Sandel, S. 27)
Sandel, Michael J.: Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratie zerreißt. Frankfurt am Main: Fischer, 2020. 20 €.
