Im Kreis der Familie

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Foto: Schau­ins­blau

von Myriam Kammerlander 

Jedes Jahr an Hei­lig­abend füt­ter­te Herr M. die Tau­ben. Er wuss­te, dass es unsin­nig war, da die Tau­ben in der Groß­stadt eher an Fett­lei­big­keit als an Hun­ger lit­ten, dass über­dies vie­le die Tau­ben nicht lei­den konn­ten und daher kei­nen Sinn dar­in sahen, ihnen etwas Gutes zu tun. Trotz­dem mach­te er sich, sobald es däm­mer­te, mit einer Tüte voll Weiß­brot auf den Weg zum Domplatz.

Im schwin­den­den Licht hat­ten die Häu­ser erst schar­fe und dann immer wei­che­re Kon­tu­ren, die von den Gas­la­ter­nen gelb ange­strahlt wur­den. Herr M. ging gemäch­lich, den Stock in der einen und die Tüte mit dem Brot in der ande­ren Hand, und ver­mied es dabei, den Leu­ten in den Häu­sern all­zu offen­sicht­lich in ihre Weih­nachts­fens­ter zu blicken.

Der Platz vor dem Dom war men­schen­leer. Herr M. setz­te sich auf eine Bank, schenk­te sich Kaf­fee aus sei­ner Ther­mos­kan­ne ein und war­te­te. In der Kir­che hör­te er die Orgel spie­len. Eine Wei­le saß er so und genoss die Ruhe, bis ihm das Merk­wür­di­ge auf­fiel: Es war weit und breit kei­ne Tau­be da, nicht eine ein­zi­ge. Kein Gur­ren, kein Rucken, kein sanf­ter Flü­gel­schlag. Kein eili­ges Tip­peln über die Pflastersteine.

Herr M. run­zel­te die Stirn. Seit er den­ken konn­te, war der Dom­platz vol­ler Tau­ben gewe­sen. Mit ihrem geschäf­ti­gen Rucke­dig­uh lie­fen sie einem direkt vor die Füße und kack­ten den Sta­tu­en ver­dienst­vol­ler Män­ner der Stadt­ge­schich­te auf den Kopf.

 

Das war das Ein­zi­ge gewe­sen, was Inge an den Tau­ben gemocht hat­te. Dass sie sich nicht dar­um küm­mer­ten, wer wich­tig und wer unbe­deu­tend war. Sie gin­gen ein­fach allen auf die Ner­ven und waren dar­in äußerst gerecht. Über sei­ne sen­ti­men­ta­len Anwand­lun­gen hat­te sie den Kopf geschüt­telt. Trotz­dem hat­te sie in den letz­ten Jah­ren ihrer Ehe das Brot für ihn und sei­ne Tau­ben geschnit­ten, fei­ner als er es je zustan­de gebracht hät­te. Sie hat­te die Tüte auf den Küchen­tisch gestellt und eine Ker­ze dane­ben. „Du kannst ja noch zum Fried­hof gehen.“ Dar­über wie­der­um hat­te er manch­mal den Kopf geschüt­telt und Inge sen­ti­men­tal gefun­den. Glaub­te sie wirk­lich, dass es einen Unter­schied mach­te, ob da nun eine Ker­ze fla­cker­te oder das Grab dun­kel blieb? Trotz­dem war er ihr zulie­be nach sei­nem Tau­ben­gang auf den Fried­hof gestapft. Wäh­rend er unter­wegs war, putz­te Inge zu Hau­se letz­te Fle­cken weg, die für sein Auge unsicht­bar waren. Wenn er zurück­kam, ent­zün­de­ten sie gemein­sam die Ker­zen und dann saßen sie mit Punsch am Küchen­tisch und schau­ten den win­zi­gen Weih­nachts­baum an.

Mit den Jah­ren war das Bäum­chen immer klei­ner gewor­den. Seit Tho­mas ver­un­glückt war, hat­ten sie nie­man­den mehr, für den sich das gan­ze Brim­bo­ri­um lohn­te. Aber Inge woll­te einen Weih­nachts­baum. So hol­ten sie Jahr für Jahr einen im Wald. Einen klei­nen. Sie gin­gen mit einem Pick­nick­korb hin­aus, immer zur sel­ben Lich­tung. Dort, wo sie ihr Bäum­chen schlu­gen, streu­ten sie Kör­ner für die Wald­vö­gel. Dann setz­ten sie sich noch ein Weil­chen hin und tran­ken Kaf­fee auf einem umge­fal­le­nen Baum­rie­sen, der von Jahr zu Jahr von dich­te­rem Moos bewach­sen war. Wäh­rend es um sie her­um all­mäh­lich däm­mer­te, war­te­ten sie dar­auf, dass ihre Gaben ent­deckt wur­den. Manch­mal hat­ten sie Glück und lausch­ten dann still dem sanf­ten Flat­tern und Flü­gel­schla­gen. Sie tru­gen den Baum nach Hau­se und dach­ten, es hät­te schlech­ter kom­men kön­nen. Bis irgend­wann Inges Bei­ne ein­fach unter ihr nach­ga­ben. Inge war hart im Neh­men, doch an die­sem Abend wein­te sie. Sie hielt das Bäum­chen fest an die Brust gepresst, wäh­rend er sie hucke­pack, über Wur­zeln und Äste nach Hau­se schleppte.

Statt in den Wald gin­gen sie nun auf den Markt und kauf­ten ein Bäum­chen, das so klein war wie sei­ne Ren­te. Sie stell­ten es mit­ten auf den Küchen­tisch. Inge befes­tig­te drei Ker­zen­hal­ter dar­an, zwei glä­ser­ne Vögel und ein paar Stroh­ster­ne und sie ver­si­cher­ten sich, dass es immer noch ein sehr schö­ner Weih­nachts­baum sei.

 

Danach fing das mit dem Tau­ben­füt­tern an. Sie konn­ten ja nicht den gan­zen Nach­mit­tag zusam­men zu Hau­se hocken. Wenn Hei­lig­abend dann end­lich kam, waren sie hoff­nungs­los zer­strit­ten. Inge dabei zuzu­se­hen, wie sie durch die Woh­nung hum­pel­te und den Besen schwang, mach­te Herrn M. ner­vös. Er hat­te ver­sucht es ihr aus­zu­re­den, doch sie war stur wie eh und je. Er hat­te ver­sucht ihr zu hel­fen, aber sie mach­te dann alles noch­mal neu. Spä­tes­tens wenn sie die Lei­ter her­aus­zerr­te, weil sie im obers­ten Win­kel des Küchen­fens­ters noch einen Fleck ent­deckt hat­te, muss­te er unbe­dingt an die fri­sche Luft. So ent­stand ihre Arbeits­tei­lung. Er ging zu den Tau­ben und danach auf den Fried­hof. Sie mach­te die Woh­nung schön, polier­te Tho­mas‘ Bild, und wenn alles blitz­te und blink­te, kam er nach Hau­se und es war Weih­nach­ten. Sie zün­de­ten die Ker­zen an und dach­ten, alles in allem hät­te es schlech­ter kom­men können.

Bis zu die­sem Jahr, als Inge sich ver­schätz­te. Sie hat­te nur noch die Vor­hang­stan­ge gera­de rücken wol­len. Nur noch die­sen einen Stern dar­an befes­ti­gen wol­len, der immer so schön für ihn leuch­te­te, wenn er wie­der­kam, auch wenn sie nicht wuss­te, ob er ihn jemals bemerk­te. Sie hat­te sich nur ein klein biss­chen zu weit nach vor­ne gelehnt, hat­te die Lei­ter nicht noch ein­mal ver­rückt, weil die Schmer­zen in der Hüf­te mit jedem Auf- und Abstei­gen uner­träg­li­cher wur­den. Sie hat­te ihm nie gesagt, wie uner­träg­lich die Schmer­zen in Wirk­lich­keit waren, weil er sonst dar­auf bestan­den hät­te, selbst hin­auf­zu­stei­gen, ihr zumin­dest die Lei­ter zu hal­ten, die Lei­ter am Ende gar ver­steckt hät­te. Sie brauch­te das Gefühl, dass sie noch unab­hän­gig auf eine Lei­ter stei­gen konn­te. Und sie brauch­te unbe­dingt die­se zwei Stun­den allein mit Tho­mas, bevor Weih­nach­ten kam.

Als die Welt um sie her­um unauf­halt­sam ver­rutsch­te, hat­te sie ver­sucht, sich an der Vor­hang­stan­ge fest­zu­hal­ten. Mit dem Stern in der einen und der Vor­hang­stan­ge in der ande­ren Hand ging sie zu Boden, wo Herr M. sie fand. Er hat­te kei­nen Stern im Fens­ter gese­hen. Mit bösen Vor­ah­nun­gen und schwer atmend war er die Trep­pe hin­auf­ge­eilt und kam doch zu spät. „Hans“, sag­te sie schwach.

 

Jedes Jahr an Hei­lig­abend füt­ter­te Herr M. die Tau­ben. Er wuss­te, dass es unsin­nig war. Doch für ihn war es das nicht. Sobald es däm­mer­te, mach­te er sich auf den Weg zum Dom­platz. Mit einer Tüte Weiß­brot, das er so fein geschnit­ten hat­te, wie er eben konn­te. Zu Hau­se war­te­te der Weih­nachts­baum. Einer im Topf. Er hat­te ihn mit drei Ker­zen und zwei glä­ser­nen Vögeln geschmückt. Er wür­de die Ker­zen anzün­den und sich mit einer Tas­se Punsch an den Tisch set­zen. Nur den Stern häng­te er nicht mehr auf. Wenn er nach Hau­se kam, ver­such­te er, nicht nach oben zu bli­cken, wo das Weih­nachts­fens­ter dun­kel blieb seit dem Sturz.

In den letz­ten Jah­ren hat­te er statt­des­sen ange­fan­gen, die Ster­ne zu zäh­len, die ande­re Leu­te in ihre Fens­ter hin­gen. Er wuss­te nicht, war­um er das tat. Auf eine Wei­se fand er es tröst­lich, dass es in der Stadt auf dem Weg zum Dom­platz fünf­und­sech­zig leuch­ten­de Ster­ne gab. Fast war es, als wür­de ihr Licht ihm gel­ten. Und gewis­ser­ma­ßen war das ja auch so. Ihr Licht galt allen, die zufäl­lig vor­bei­ka­men, ob das nun jemand Wich­ti­ges war oder jemand Unbe­deu­ten­des wie er.

 

Herr M. trank sei­nen Kaf­fee aus. In der Kir­che ver­klang die Musik. Er hör­te, wie das Por­tal geöff­net wur­de. Wie jedes Jahr pos­tier­ten sich dort zuerst die Minis­tran­ten mit ihren Körb­chen für die Kol­lek­te. Bald wür­den die Leu­te her­aus­strö­men und der Platz wäre vol­ler Leben.

Die Tau­ben waren nicht gekom­men. Herr M. schraub­te den Becher auf die Ther­mos­kan­ne und erhob sich umständ­lich. Er strich sei­nen Man­tel glatt, pus­te­te in die kalt gewor­de­nen Fin­ger. Er ver­stau­te die Kan­ne in der wei­ten Man­tel­ta­sche neben der Ker­ze. Mit der Brot­tü­te in der einen und dem Stock in der ande­ren Hand schritt er steif­bei­nig, doch wür­de­voll über den Platz und merk­te gar nicht, dass die Minis­tran­ten ein­an­der anstie­ßen und auf ihn deu­te­ten: Da ist der Alte wieder.

 

Auf dem Fried­hof war es still. Hier und da fla­cker­ten Ker­zen auf den Grä­bern. Ihr Licht fiel auf zer­fal­len­de Geste­cke, Engel und Täfel­chen, auf denen Din­ge zu lesen waren wie „Ich ver­mis­se dich“ oder „Unver­ges­sen“. Tho­mas‘ Platz hat­te damals Inge aus­ge­sucht, wäh­rend Herr M. zu nicht viel in der Lage gewe­sen war. Ganz hin­ten ver­steckt, zwi­schen Mau­er und Hecke. Eine Bank gab es dort, auf der man in Ruhe sit­zen konnte.

Herr M. ging müh­sam in die Hocke. Auf dem Grab wuchs ein klei­ner Hage­but­ten­strauch. Er häng­te die Stroh­ster­ne hin­ein, stell­te die Ker­ze in die Hal­te­rung und zün­de­te sie mit zitt­ri­gen Fin­gern an. Mit einem Rest Kaf­fee setz­te er sich auf die Bank und hielt die Brot­tü­te im Schoß. Das Ker­zen­licht fiel auf das klei­ne Täfel­chen, auf dem nur die bei­den Namen stan­den. Das reich­te, fand Herr M. An alles ande­re konn­te er sich erinnern. 

 

Als er auf­blick­te, stand Inge neben ihm. „Da bist du ja“, sag­te sie. Er wun­der­te sich, aber nur kurz. Sie setz­te sich. Er reich­te ihr den Becher. Sie nahm einen Schluck. Dann deu­te­te sie auf sei­ne Brot­tü­te. „Die Tau­ben waren heu­te gar nicht da“, sag­te er.  Inge sah ihn freund­lich an. „Heu­te ist doch Weih­nach­ten“, füg­te er wie zur Erklä­rung hin­zu. Sie lächel­te und griff in die Tüte. „Ich habe dir lei­der nichts Bes­se­res mit­ge­bracht“, sag­te er ent­schul­di­gend. „Dafür habe ich es so fein geschnit­ten wie ich konn­te.“ Inge lächel­te wie­der. „Komm“, sag­te sie, „füt­tern wir die Tau­ben.“ Sie streu­ten die Brot­kru­men auf den Kies­weg vor sich, um das Grab her­um, auf das Grab, auf die Bank neben sich. Sie war­te­ten. Und da hör­ten sie: Ein Flat­tern, ein Flü­gel­schla­gen. Inge und Herr M., der schon lan­ge nicht mehr Hans gehei­ßen hat­te, blick­ten auf und sahen: Hun­der­te Tau­ben. Mit ihrem geschäf­ti­gen Rucke­dig­uh tip­pel­ten sie eilig über den Kies­weg und ihnen direkt vor die Füße. Sie flat­ter­ten auf die Bank und auf den klei­nen Grab­stein. Sie pick­ten die Brot­kru­men vom Grab und pro­bier­ten auch die Stroh­ster­ne und die Hage­but­ten. Sie hock­ten ihr auf dem Schoß und kack­ten ihm auf den Hut. Hans und Inge lach­ten, schau­ten und hiel­ten sich an den Hän­den wie einst.

 

Am Mor­gen des ers­ten Weih­nachts­ta­ges fan­den Fried­hofs­gän­ger Herrn M.

Er saß auf der Bank, der Kopf war auf die Brust gesun­ken. Sein Ell­bo­gen ruh­te auf der Leh­ne, fast so, als hiel­te er jeman­den im Arm. Auf dem Schoß hat­te er eine lee­re Papier­tü­te, neben ihm stand der kalt gewor­de­ne Kaf­fee. Um ihn her­um lagen ver­streut ein paar Brot­kru­men. Eine Tau­be hat­te ihm auf den Hut gekackt.

Die Frau sah ihn zuerst. Sie sprach ihn an, berühr­te ihn vor­sich­tig an der Schulter.

„Es gibt so viel Ein­sam­keit an Weih­nach­ten“, sag­te sie traurig.

„Er sieht eigent­lich ganz fried­lich aus“, sag­te der Mann und leg­te den Arm um sie.

Myri­am Kam­mer­lan­der wur­de 1988 in Mün­chen gebo­ren. Als Musi­ke­rin und freie Kul­tur­schaf­fen­de, nach Wan­der­jah­ren zwi­schen Küns­ten und Hand­werk, zwi­schen Ber­lin, Skan­di­na­vi­en und Alpen lebt sie nun in Augs­burg, wo sie Umwelt­ethik stu­diert und die Baye­ri­sche Aka­de­mie des Schrei­bens absol­viert hat. Sie inter­es­siert sich für die Ver­bin­dun­gen von Krea­ti­vi­tät und Gemein­schaft, Natur und Poe­sie, und erforscht die rege­ne­ra­ti­ve Kraft von Kunst. Im Schrei­ben beschäf­tigt sie, wie das Ver­gan­ge­ne in die Gegen­wart hin­ein und durch sie hin­durch leuchtet.