Espresso con fobia

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von Johannes Kormann

Unschlüs­sig star­re ich auf den Bild­schirm mei­nes Han­dys. Dann auf den Laden­ein­gang vor mir, über dem in aus­geb­li­che­nen Buch­sta­ben die Wor­te HEYZEL COFFEE pran­gen; und wie­der zurück auf das Dis­play. Mei­ne Fin­ger­nä­gel tip­pen dar­auf her­um, um die Kar­te zu ver­grö­ßern. Gedul­dig pul­siert der Pfeil an Ort und Stel­le: „Sie haben Ihr Ziel erreicht“. Ganz so, als wol­le er mir sagen: “Ich geh nir­gend­wo mehr hin, das kanns­te kni­cken!” Die Kar­te ver­schwin­det. Doch für einen Augen­blick, bevor der Bild­schirm erlischt, blitzt das Bild zwei­er Mäd­chen auf, die eng anein­an­der geschmiegt in die Kame­ra lächeln. Wie aus einer Wer­bung für das neu­es­te iPho­ne. Oder einer kit­schi­gen Rom­com (ohne Til Schwei­ger). Und obwohl ich sol­che Bil­der eigent­lich nicht abkann, spü­re ich kurz einen schmerz­haf­ten Stich in der Brust. Das ist alles dei­ne Schuld, den­ke ich mit einer Mischung aus Wut und Trau­er. Vor­sich­tig gehe ich näher an den Ein­gang her­an und bli­cke mich um. Auf der Stra­ße ist nie­mand zu sehen. Nur aus dem Laden her­aus sind gedämpf­te Stim­men zu hören. Ner­vös zup­fe ich mei­ne FFP2-Mas­ke zurecht und über­le­ge, sie doch wie­der abzu­neh­men und nach Hau­se zu gehen. Ich soll­te es ein­fach las­sen. Doch dann schleicht sich der süß­lich-wür­zi­ge Geruch von frisch auf­ge­brüh­tem Kaf­fee in mei­ne Nase und über­nimmt die Kon­trol­le: Wie von selbst tap­sen mei­ne Füße in die Ein­gangs­ni­sche, zie­hen mei­ne Hän­de an der Tür­stan­ge. Jetzt oder nie! Noch ver­füh­re­ri­scher als zuvor schlägt mir der Duft ent­ge­gen und umhüllt mich mit einer Decke aus Aro­men und lau­war­men Erin­ne­run­gen. Für einen Moment gebe ich mich ihnen hin. Sanft zieht mich die im Laden tönen­de melan­cho­lisch-fröh­li­che Pop­mu­sik in die Wirk­lich­keit zurück. Vor­sich­tig wage ich mich wei­ter vor und betrach­te das Innen­le­ben. Decken- und Steh­lam­pen tau­chen die höl­zer­nen Tische in ein war­mes, gelb-gol­de­nes Licht. Die Couch­ecken und gepols­ter­ten Ses­sel sind alle belegt. Vie­le unter­hal­ten sich mit Freun­den oder haben vor sich einen Lap­top oder Zei­chen­block auf­ge­baut und arbei­ten eif­rig vor sich hin. Zu mei­ner Erleich­te­rung beach­tet mich nie­mand. An den Wän­den hän­gen Male­rei­en und Bücher. Sie tra­gen Titel wie: Kein Stress, Die Stadt der träu­men­den Bücher, It’s all good. Neben einem der Tische hän­gen dicht an dicht fünf typisch-rote Feu­er­lö­scher. Kunst oder kann das weg? Die Atmo­sphä­re wirkt hei­me­lig und zugleich ange­nehm ver­spielt. Melan­cho­lisch füh­le ich mich an ver­gan­ge­ne Kaf­fee-Aben­de erin­nert. Jetzt kann ich ver­ste­hen, wes­halb sie mich hier­hin mit­neh­men woll­te. Doch bevor ich mich wei­ter umse­hen kann, bemer­ke ich, wo ich ver­se­hent­lich gelan­det bin: In der Schlan­ge. Sofort wallt in mir die gut bekann­te Angst auf. Sie ket­tet sich um mei­ne Bei­ne und mei­nen Brust­korb. Panik brei­tet sich in mei­ner Brust aus, wie Frost auf einer Fens­ter­schei­be; das Atmen fällt mir schwer. Über­all um mich her­um sit­zen sie an den Tischen und täu­schen vor, mich nicht zu beach­ten. Doch ich weiß genau, dass sie jede mei­ner Bewe­gun­gen ver­fol­gen. Wenn ich jetzt nicht gehe, ist alles zu spät. Nein, das stimmt nicht! Halt­su­chend grei­fe ich nach mei­ner eige­nen ver­schwitz­ten Hand. Tie­fes Ein­at­men. Ich muss hier weg! In Gedan­ken zäh­le ich bis fünf. Gezwun­gen lang­sam male ich mit einem Fin­ger Krei­se auf mei­nen Hand­rü­cken. Tie­fes Aus­at­men. Ich blei­be. Wie­der­ho­len. Mir geht es gut, mir geht es gut; es geht mir gut! rede ich mir ein, wäh­rend ich leicht mei­ne Mas­ke anhe­be, um nicht an dem Papier­fet­zen zu ersti­cken. Wenn ich will, kann ich jeder­zeit abhau­en. Das Gefühl von Frei­heit hilft etwas. Lang­sam – viel zu lang­sam – lässt mein Flucht­in­stinkt nach. Kom­plett kann ich die Panik aber nicht abschüt­teln. Sie hat sich zu einem klei­nen Ball in mei­nem Bauch zusam­men­ge­presst. Zur Ablen­kung luge ich mit über­trie­be­nem Inter­es­se an mei­nem Vor­der­mann vor­bei Rich­tung The­ke. Auf einer alten Krei­de­ta­fel über dem Kopf der Baris­ta sind in ver­schnör­kel­ter Schrift die ver­schie­de­nen Kaf­fees, Tees und Snacks auf­ge­malt. Noch ist sie zu weit ent­fernt, als dass ich die Namen und Prei­se dar­auf ent­zif­fern könn­te. Statt­des­sen kon­zen­trie­re ich mich auf die süßen klei­nen Kaf­fee­be­cher mit Augen und Ärm­chen, die mit einem gro­ßen Lächeln auf ver­schie­de­ne Berei­che der Kar­te hin­wei­sen (In den Sprech­bla­sen ste­hen Wort­wit­ze wie „Don’t be mean, drink with caf­feine!“ oder „Bean me up Scot­ty“). Unwill­kür­lich muss ich lächeln. Schlech­te Wort­wit­ze sind Bal­sam für die See­le. Mein Herz schlägt wie­der im nor­ma­len Takt. Noch fünf Leu­te vor mir. Ich könn­te mir einen Kaf­fee To Go holen, begin­ne ich ernst­haft zu über­le­gen. Das hät­te ich mir ver­dient. Und mit der Baris­ta wer­de ich auch fer­tig! Ich bal­le die Hand zur Faust. Und schlimms­ten­falls kann ich mich immer noch umdre­hen und aus dem Laden gehen… Aber das packe ich! Mein Adre­na­lin ver­wan­delt sich in posi­ti­ve Erre­gung; Flüs­si­ges Glück, das mein Herz durch die Adern häm­mert und mich von innen wärmt. Go me! Ich wer­de es tun! Die Schlan­ge rückt vor­wärts. Noch vier Leu­te vor mir. Aus dem Augen­win­kel sehe ich eine Bewe­gung. Ich dre­he mich um und star­re direkt in zwei hasel­nuss­brau­ne Augen. Das Gesicht eines jun­gen Man­nes, der sich mit der Hand durchs Haar fährt. Er starrt zurück. Neben sei­nen Augen bil­den sich Fal­ten und er nickt mir zu. Wegen der Mas­ke kann ich sei­nen Gesichts­aus­druck nicht rich­tig deu­ten. Ver­wirrt nicke ich zurück. Was zum Teu­fel will der von mir? Dann bemer­ke ich, dass hin­ter ihm noch mehr Leu­te anste­hen. Fuck. Die Schlan­ge hat sich um mich gewun­den und ist im Begriff mich zu erwür­gen. Es ist alles zu spät: Wer ent­schei­det sich bit­te spon­tan kei­nen Kaf­fee mehr zu wol­len? Das kauft mir nie­mand ab! Ner­vös ver­su­che ich die Leu­te zu zäh­len, die mir den Weg nach drau­ßen blo­ckie­ren. 4, 7 oder sind es 10? Mit vol­ler Wucht kehrt die Panik zurück. Der Mann in mei­nem Rücken blickt an mir vor­bei und zeigt nach vorn: „Willst‘ nicht…“ Vor mir war eine gro­ße Lücke ent­stan­den. Hei­ße Röte ver­brennt mein Gesicht, wäh­rend ich mit schwe­rem Atem in der Schlan­ge auf­rü­cke. Man hat mich erkannt. Sie wis­sen, dass ich hier nicht hin­ge­hö­re. Ich mer­ke, dass die Gesprä­che zu einem Rau­nen und ich ihr abfäl­li­ges The­ma wer­de. Ich mer­ke, dass alle nur noch zum Schein in Büchern blät­tern und auf ihren Lap­tops her­um­tip­pen; dass statt Zeich­nun­gen nur noch häss­li­che Kari­ka­tu­ren von mir in die Blö­cke gekrit­zelt wer­den: Sie ver­ur­tei­len mich. Ich muss es nicht sehen oder hören. Ich WEISS es. Ich hebe die Hand zum Mund. Mei­ne Fin­ger­nä­gel sto­ßen gegen den Stoff. Die scheiß Mas­ke ist im Weg. Die Schlan­ge rückt vor­wärts. Nur noch 2 Leu­te vor mir. Nur noch 2 Leu­te vor mir?! Schweiß läuft mei­nen Rücken hin­un­ter und durch­nässt mein Top. Mein Herz­schlag häm­mert in mei­nen Ohren. Statt sanf­ter Pop­mu­sik höre ich nur noch Death Metal. Ver­zwei­felt ver­su­che ich mei­ne Atmung zu beru­hi­gen. Kur­zes Ein­at­men. Ich muss hier weg! Ich muss hier weg! Ich muss hier weg! Aus­at­men. Auf der Suche nach Ablen­kung blit­zen mei­ne Augen durch den Laden. Ich lese die Buch­ti­tel der Bücher an der Wand, um mich zu beru­hi­gen: Stra­fe. Das Buch ohne Gna­de. Ver­blen­dung. Nine­teen-eigh­ty-four. Das Lächeln der Kaf­fee­be­cher ist psy­cho­tisch. Die Schlan­ge rückt erbar­mungs­los vor­wärts. Ich schlie­ße die Augen und blen­de alles aus. Alles bis auf die Röst­aro­men in der Luft, den Geruch fri­scher Milch, die Süße des Sirups. Das schaf­fe ich. Ich atme zag­haft ein und aus. „Das schaf­fe ich“, wie­der­ho­le ich lei­se mur­melnd und öff­ne wie­der die Augen. Vor mir ragt bedroh­lich die Ange­bots­ta­fel auf. Hek­tisch mus­te­re ich sie:

Kaf­fee, Cap­puc­ci­no, Milch­kaf­fee, Ame­ri­ca­no, Dark Roast, Cara­mel­li­to, Lat­te Mac­chia­to, Caf­fé Lat­te, Raf­fa­el­lo Cap­puc­ci­no, Moc­ca Cap­puc­ci­no, White Moc­ca Cap­puc­ci­no, Halb und Halb Cap­puc­ci­no, Sno­wy Moc­ca, Frap­puc­ci­no, Espres­so, Espres­so Mac­chia­to, Espres­so con Pan­na, Espres­so Cor­ta­do, Heyzel Cof­fee, mit Ama­ret­to, Kokos, Maca­da­mia, Man­del, Kara­mell, Vanil­le, Hasel­nuss, Scho­ko, Zimt, White­moc­ca, Pfef­fer­minz. Mit Bio-Milch, Bio-Soja­milch, lac­to­se­frei­er Milch, Hafer­milch, Schlag­sah­ne in Low Fat oder Decaf, Heiß oder Iced, in Sin­gle oder als Dou­ble.   

Gott ist das VIEL! Unru­hig tre­te ich auf der Stel­le und sor­tie­re aus. Nichts expe­ri­men­tel­les wie Pfef­fer­minz. Mit Kof­fe­in. Heiß. Mit Milch? Viel­leicht Espres­so. Erschro­cken bli­cke ich auf und erken­ne, dass ich an der Rei­he bin. Die Schlan­ge rückt vor­wärts. Ich bin ihr nächs­tes Opfer. Freund­lich und auf­for­dernd blickt mich die Baris­ta an. Hin­ter ihr glit­zern bunt die ver­schie­de­nen Fla­schen mit Aro­men. Ihr Fun­keln blen­det mich. Ich hole tief Luft und ver­su­che alles zu unter­drü­cken: Das Keu­chen, das Zit­tern, das Schwit­zen. Ich schaue zurück. Der Aus­gang ist frei, die Schlan­ge geschrumpft. Ich spü­re im Rücken die Bli­cke der ande­ren wie Dol­che. FLUCHT! Schreit es in mir. BLEIBEN! Schreie ich zurück.

Johan­nes Kor­mann, gebo­ren 1997 in Lai­me­ring, ist schon sein Leben lang von Geschich­ten und ihrer Macht begeis­tert. Ab 2013 begann der Stu­dent der Ver­glei­chen­den Lite­ra­tur­wis­sen­schaft sei­ne Ideen in Skript­form fest­zu­hal­ten – eini­ge der dar­aus ent­stan­de­nen Wer­ke ver­öf­fent­licht er auf sei­ner Web­site und sei­nem Watt­pad-Account. Unter Ein­flüs­sen der Thea­ter­kul­tur sowie diver­sen japa­ni­schen und west­li­chen Seri­en ent­wi­ckel­te er sei­nen Hang zur Dark Fic­tion. Sein male­risch-düs­te­rer Schreib­stil, der in einer Fas­zi­na­ti­on des Tra­gi­schen und Phan­tas­ti­schen wur­zelt, kon­fron­tiert Leser*innen mit unver­mit­tel­ten Wen­dun­gen und tro­cke­nem Humor.
Musi­ka­lisch inter­es­siert ist er an Metal­co­re und Cham­ber Pop und zählt Derek Lan­dy, Wal­ter Moers und Kei­i­chi Sig­sa­wa zu sei­nen größ­ten lite­ra­ri­schen Einflüssen.