Von Büchern und Blockbustern: Wolfgang M. Schmitt im Interview

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© Robert Sakowski

von Roman Matzke

„Das habe ich sel­ten, dass ich da noch so jeman­den vor mir habe,“ freut sich Wolf­gang M. Schmitt, als wir fest­stel­len, dass bei­de unse­rer Zoom-Kacheln von Büchern domi­niert sind. Augen scan­nen rasch die Wand des ande­ren und schon ist das Eis gebro­chen. Im Lau­fe des Inter­views sto­ßen wir immer wie­der auf die­se gemein­sa­me Lei­den­schaft, die heut­zu­ta­ge kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit mehr ist; eine im Jour­na­lis­mus täti­ge Freun­din von Herrn Schmitt sei so bei­spiels­wei­se in ihrer Redak­ti­on als „die, die noch liest“ bekannt.

Wer regel­mä­ßig bei der Filmana­ly­se vor­bei­schaut, weiß, dass Herr Schmitt mit Büchern nicht erst seit ges­tern han­tiert. Immer wie­der wer­den auf ein Neu­es über­ra­schen­de Wer­ke inte­griert, die auf den ers­ten Blick nicht viel mit dem bespro­che­nen Film zu tun zu haben scheinen. 

Das fol­gen­de Inter­view ver­sucht, dem Ursprung die­ses brei­ten Nach­schla­ge­wer­kes nach­zu­ge­hen und beleuch­tet so gleich­zei­tig die damit ein­her­ge­hen­de Stu­di­en­zeit Wolf­gang M. Schmitts. War­um ent­schied sich der Film­kri­ti­ker gegen ein Film­stu­di­um? Wel­che Bücher beein­fluss­ten ihn am meis­ten? Ging er regel­mä­ßig ins Uni­ki­no? Und konn­te man den Herrn im Anzug auch mal auf einer Stu­den­ten­par­ty erspähen?

Ant­wor­ten dar­auf – und noch viel, viel mehr – gibt es hier im XXL-For­mat. Auf einen stei­fen Fra­gen­ka­ta­log wur­de, so weit mög­lich, ver­zich­tet. Ein Rück­blick auf den gelun­ge­nen Kul­tur­abend vom 26. Okto­ber bringt den Dia­log ins Rol­len. Viel Vergnügen!

RM: Für vie­le Besu­cher Ihres Kul­tur­abends an der Uni Augs­burg war Sher­lock Jr. der ers­te Schwarz-Weiß Film. Auch in Düs­sel­dorf dien­te der Film bereits dazu, um Ihr gera­de ver­öf­fent­lich­tes Buch, Die Film­ana­ly­se: Kino anders gedacht, vor­zu­stel­len. Wie­so fiel die Ent­schei­dung gera­de auf die­sen Bus­ter Kea­ton Klassiker? 

WMS: Ich bin, wie jeder Cine­ast, auch ein Bus­ter Kea­ton Fan. Dass ich die­sen Film aus­ge­wählt habe, lag dar­an, dass ich über­leg­te: ‚wel­cher Film lie­fert Unter­hal­tung — lie­fert das, was man von Hol­ly­wood gewohnt ist — und prä­sen­tiert zugleich eine Film­phi­lo­so­phie, an die ich dann mit mei­nen Wor­ten anknüp­fen kann?‘ Wenn man die­se Bedin­gun­gen haben möch­te, dann fal­len einem doch nicht all­zu vie­le Wer­ke ein, die dem gerecht werden.

Zudem geht es mir schon dar­um, ein­mal zu zei­gen, was es bedeu­tet, sich mit der Film­ge­schich­te zu kon­fron­tie­ren. Näm­lich haben wir zwar eine Zeit, die von Retro­ma­nie geprägt ist, in dem Sin­ne, dass die 80er Jah­re in der Pop­kul­tur per­ma­nent repro­du­ziert und recyl­ced wer­den, zugleich aber erle­ben wir eine extre­me Geschichts­lo­sig­keit. Die gro­ßen Wer­ke der Film­ge­schich­te sind nicht bekannt. Das heißt, der heu­ti­ge Kino­gän­ger erlebt bei jedem Film­erleb­nis immer Tag 1, weil er das Ges­tern und Vor­ges­tern nicht kennt, und kann des­halb auch das Aktu­el­le nicht in die Film­ge­schich­te ein­ord­nen, bezie­hungs­wei­se lässt sich von Pro­duk­ten affi­zie­ren, die von min­de­rer Qua­li­tät sind.

Die­se min­de­re Qua­li­tät wird einem aber erst ersicht­lich, wenn man die gro­ßen Wer­ke der Ver­gan­gen­heit kennt. Und des­we­gen ist es mir hin und wie­der auch ein Anlie­gen, zu zei­gen, wie reich­hal­tig die Film­ge­schich­te ist und dass älte­re Fil­me wegen ihres Alters nicht auto­ma­tisch weni­ger fort­schritt­lich sind als aktu­el­le. Denn wir haben durch den sehr tech­ni­zis­ti­schen Blick auf Film — mit den Spe­cial Effects, 3D Tech­nik und CGI — eine Ten­denz, dass wir das, was ein biss­chen älter ist, abwer­ten, weil es noch nicht die tech­ni­sche Qua­li­tät von heu­te hat.

Das stimmt auch, wenn man sich CGI Pro­duk­tio­nen von vor zehn oder zwan­zig Jah­ren ansieht — den­ken wir auch an die­se neue­re Star Wars Tri­lo­gie von Geor­ge Lucas: Das ist ja nicht aus­zu­hal­ten, sich das anzu­se­hen; es war damals schon schlimm, aber heu­te völ­lig uner­träg­lich -, aber den­noch gibt es in der Kunst kei­ne Fort­schrit­te, in dem Sin­ne, dass man sagen kann, ‚Schil­ler ist fort­schritt­li­cher als Corn­eil­le‘. Genau so ist auch Chris­to­pher Nolan nicht fort­schritt­li­cher als Bus­ter Kea­ton. Son­dern die Kunst drückt sich nur immer wie­der auf neue Wei­se aus; und um das Neue aber zu erken­nen, muss man um das Alte wissen.

 

RM: Der Irr­glau­be, nur das Neu­es­tes sei sehens­wert, ver­sperrt in der Tat zahl­rei­che Türen zu qua­li­ta­tiv hoch­wer­tigs­tem Kino. Wenn wir gera­de beim gol­de­nen Zeit­al­ter der Stumm­film Komö­die sind, muss man sagen, dass Namen wie Harold Lloyd heut­zu­ta­ge außer­halb des Cine­as­ten-Krei­ses kei­ner mehr kennt. Sehen Sie in Ihrem Kanal eine Chan­ce, dem Publi­kum die­se Sei­te des Kinos schmack­haft zu machen?

 

WMS: An einem Abend wie in Augs­burg fun­gie­re ich gewis­ser­ma­ßen als entré­bil­let zur Film­ge­schich­te. Dadurch, dass ich dort bin, sind dann Leu­te auch bereit, sich einem Stumm­film aus­zu­set­zen. Das wür­den sie viel­leicht ohne die­se Rah­mung, dass ich dort einen Vor­trag hal­te, nicht machen. Die­se Funk­ti­on erfül­le ich ger­ne auch hin und wie­der auf mei­nem Kanal, jedoch ist bei der Film­ana­ly­se schon das Anlie­gen in ers­ter Linie, aktu­el­le Fil­me — und damit auch aktu­el­le gesell­schaft­li­che Dis­kur­se — ideo­lo­gie­kri­tisch zu analysieren.

Es ist kein Kanal, der pri­mär dar­auf aus ist, die Cine­phi­lie zu för­dern. Wenn das zugleich auch statt­fin­det, umso bes­ser. Aber ich ver­su­che hier nicht, Film­ge­schich­te vor­zu­schrei­ben oder Film­ge­schich­te wach zu hal­ten. Hin und wie­der muss das aber sein; und dann ist mir das ein Anliegen.

Ich kann auch sagen, es hat sei­ne Gren­zen mit der Wir­kung mei­ner Per­son. Ich weiß schon, dass wenn ich älte­re Fil­me auf mei­nem Kanal vor­stel­le, die jetzt nicht zu den Kult­fil­men zäh­len, son­dern film­ge­schicht­lich rele­vant sind, dass die­se Ana­ly­sen deut­lich weni­ger Klicks haben als aktu­el­le Vide­os zu Mar­vel und DC-Fil­men. Nun bin ich nicht klick­ge­trie­ben, da das für mich nicht das pri­mä­re Ein­kom­men ist, aber ich muss schon auch sehen, dass ich nicht irgend­wann einen Kanal gänz­lich mit dem Rücken zum Publi­kum mache, oder nur für weni­ge Film­lieb­ha­ber. Ich glau­be, es ist so eine Mischung, die man anbie­ten kann.

Für mich ist es vor allem in der Live-Situa­ti­on gut, über alte Fil­me zu spre­chen, wenn sie dann auch gezeigt wer­den. Denn das Pro­blem ist auch, wenn ich dann bei­spiels­wei­se eine Film­ana­ly­se zu Berg­mans Wil­de Erd­bee­ren ver­öf­fent­li­che, dass ein Publi­kum da ist, das – weil Film­ge­schich­te so wenig prä­sent ist — den Film zum größ­ten Teil noch nie gese­hen hat, also erst ein­mal zum Film gehen muss und dann zurück zu mei­ner Film­ana­ly­se. Das ist mit­un­ter viel ver­langt. Auch gera­de in sehr schnell­le­bi­gen Zei­ten, in denen man rasch wei­ter­wischt. Von daher ist das bei sol­chen Live-Ver­an­stal­tun­gen, von denen ich auch Lust habe, mehr zu machen, wesent­lich ein­fa­cher, weil wir uns dort gemein­schaft­lich einen Film anse­hen – etwas, das lei­der so sel­ten erlebt wird.

Man hat ja in Deutsch­land kaum Kine­ma­the­ken. Das heißt, die Film­ge­schich­te ist, bis auf weni­ge Orte, wie Muse­en, nicht gemein­schaft­lich erfahr­bar. Strea­ming oder DVDs sind sehr ein­sa­me Beschäf­ti­gun­gen. Dass das so wenig insti­tu­tio­na­li­siert ist, sorgt auch dafür, dass die Film­ge­schich­te so wenig prä­sent ist in den Köp­fen. Mein Wunsch wäre ja, dass man eine Art Stadt­thea­ter-Struk­tur hat, wo der Kanon auf­ge­führt wird — von Opern, Bal­let­ten und Schau­spiel; dass man eine ähn­li­che Struk­tur auch hat mit Kine­ma­the­ken, wo jede Woche täg­lich Film­klas­si­ker oder aktu­el­le, rele­van­te künst­lich anspruchs­vol­le Fil­me zu sehen sind. Das könn­te man zu einem gerin­gen Preis anbie­ten, wür­de damit den pri­va­ten Kinos nichts weg­neh­men, son­dern wür­de eigent­lich sagen, ‚hier gibt’s die Filmgeschichte/Filmkunst und in den ande­ren Kinos gibt es das Aktu­el­le und Popu­lä­re‘ und hät­te damit eine ganz ande­re Aus­gangs­la­ge. Denn wenn Men­schen sehen, wie reich­hal­tig die Film­ge­schich­te ist und man nicht im Doom­scrol­ling ver­sa­cken muss und sich auch nicht die nächs­te gene­ri­sche Net­flix-Serie rein­zie­hen muss, dann bekommt man einen ande­ren Blick auf die Din­ge. Das wäre ein gro­ßes Anlie­gen von mir, aber allei­ne wer­de ich das Ruder nicht rum­rei­ßen können.

 

RM: Auch wenn so ein Vor­ha­ben zunächst schwie­rig erschei­nen mag, hal­ten Sie eine Umset­zung für mög­lich? Wo befin­den sich die größ­ten Hürden?

 

WMS: Es ist rela­tiv leicht zu rea­li­sie­ren. Wir haben gera­de in den grö­ße­ren Städ­ten mit über 100.000 Ein­woh­nern den Fall, dass zwi­schen 20–30% Gewer­be­flä­che leer ste­hen. Und das wird sich auch auf­grund einer neu­en Home­of­fice-Struk­tur nicht maß­geb­lich ändern. Orte sind also zu fin­den, in denen man sehr ein­fach eine Bestuh­lung instal­lie­ren könn­te und eine ent­spre­chen­de Tech­nik — eine Black­box könn­te man her­stel­len, in der bei­spiels­wei­se 150 Men­schen Platz fin­den. Man müss­te dann jeman­den haben, der es lei­tet und müss­te nur dies finan­zie­ren, wäh­rend man bei Stadt­thea­tern gan­ze Ensem­bles (sehr auf­wän­di­ge Struk­tu­ren) finan­zie­ren muss.

Was ich sehr gut fän­de wäre also, staat­li­che Kinos und Kine­ma­the­ken zu betrei­ben. Finan­zi­ell wäre das gar kein Pro­blem. Wir haben ja — vie­le haben es viel­leicht ver­ges­sen — eine Kul­tur­mi­nis­te­rin. Clau­dia Roth heißt sie. Das wäre ja ein Anlie­gen, aber es scheint, dass deren Anlie­gen es ist, merk­wür­di­ge Roben auf dem roten Tep­pich in Ber­lin bei der Ber­li­na­le zu prä­sen­tie­ren. Aber von Film, Film­ge­schich­te und Ästhe­tik ist die­se Per­son ja nicht gera­de durch­drun­gen — um es höf­lich auszudrücken.

Inso­fern wäre es eher eine Sache der ein­zel­nen Städ­te. Auf den Bund zu hof­fen, ist völ­lig unsin­nig. Die Ampel­re­gie­rung ist so kunst­fern, dass man es kaum in Wor­te fas­sen kann. Aber mög­li­cher­wei­se gibt es doch in ein­zel­nen Städ­ten klu­ge Bür­ger­meis­ter und Stadt­rä­te, die erken­nen, was man eigent­lich mit wenig Geld schaf­fen könnte.

Da könn­te man dann ja auch über Ver­net­zun­gen nach­den­ken, dass dort auch Regis­seu­re Fil­me prä­sen­tie­ren. Ich wür­de es den­noch nicht als Event auf­zie­hen, son­dern wie ein klas­si­sches Schwimm­bad, das nur zum Schwim­men da ist — dass man sagt, hier gibt es zwei Mal am Tag rele­van­te Fil­me für wenig Geld. Dort wür­de sich dann schon auch ein Publi­kum bil­den, vor allem, wenn man bei­spiels­wei­se eine Bar hät­te, ein Glas trin­ken und ins Gespräch kom­men könn­te. Com­mu­ni­ties könn­ten sich so bilden.

Das alles hal­te ich für abso­lut mög­lich und es wür­de sehr wenig Geld kos­ten. Orte wären da und es wäre kei­ne Kon­kur­renz für exis­tie­ren­de Kinos, da man ja ein völ­lig ande­res Pro­gramm zei­gen wür­de. Man wür­de ein Publi­kum her­an­zie­hen, das auch zu viel mehr Expe­ri­men­ten bereit ist und — und das ist gera­de wich­tig — den Kino­gang ritua­li­siert. Wie also Men­schen drei Mal die Woche ins Fit­ness­cen­ter gehen, so muss auch wie­der ritua­li­siert wer­den, dass man ein­mal die Woche ins Kino geht. Mal wird man ins moder­ne Kino, mal in die Kine­ma­thek gehen. Wenn man sich ansieht, wie sel­ten die Deut­schen im Durch­schnitt ins Kino gehen — das ist ja etwa 1,5‑mal pro Jahr. Das ist dann Bar­bie und dann noch der hal­be Oppen­hei­mer Film.

 

RM: Der Erfolg die­ser bei­den Fil­me war wirk­lich gigan­tisch. Nur konn­te aus die­sem Ein-Mal-Event lei­der kei­ne Rou­ti­ne ent­ste­hen. Ob das in Zukunft wohl mit neu­en Block­bus­tern funk­tio­nie­ren könnte?

 

WMS: Ich hat­te so gehofft, dass dar­aus wie­der eine neue Lust am Kino ent­steht, aber wie das oft bei sol­chen Hypes ist: man kon­zen­triert sich nur auf das eine und schaut nicht nach links oder rechts.

Viel­leicht kann man das ver­glei­chen mit dem, was wir in der klas­si­schen Musik immer wie­der fest­ge­stellt haben. Dort gibt es alle paar Jah­re irgend­wel­che Stars, die plötz­lich über das nor­ma­le Klas­sik-Publi­kum hin­aus Popu­la­ri­tät erlan­gen und dann gro­ße Are­nen fül­len — den­ken wir bei­spiels­wei­se auch an die drei Tenö­re José Car­re­ras, Plá­ci­do Dom­in­go und Lucia­no Pava­rot­ti. Die machen dann bun­te Klas­sik­aben­de mit der Argu­men­ta­ti­on ‚gut, ist doch schön, dann kom­men sehr vie­le Leu­te zum ers­ten Mal in Berüh­rung mit klas­si­scher Musik, die sonst nicht in die Oper gehen wür­den; dar­aus wird dann fol­gen, dass sie sich auch mal in ihrem Stadt­thea­ter die nächs­te Opern­pro­duk­ti­on anse­hen‘. Genau das pas­siert jedoch nicht. Sie neh­men die­ses ein­ma­li­ge Event als ein­ma­li­ges Event wahr. Ich glau­be im Übri­gen auch, dass ähn­li­ches bei den Muse­ums­näch­ten pas­siert. Ich bin nicht gegen sol­che Events, ich glau­be nur nicht an die Wirksamkeit.

Ähn­lich wer­den wir beim Kino sehen, wenn wie­der so ein gro­ßer Hype pro­du­ziert wird. Den hal­te ich durch­aus für mög­lich, und es ist zu hof­fen, dass so etwas wie­der pas­sie­ren wird. Aber es bleibt bei die­ser Ein­ma­lig­keit. Das ist für die Kinos auch extrem wich­tig, da die­se sich so über das Jahr ret­ten kön­nen, aber was eigent­lich sinn­vol­ler wäre, wäre, dass man mehr Men­schen her­aus­bil­det, die alle zwei Wochen irgend­ei­nen Film im Kino anse­hen. Das wür­de nicht nur die Kinos ret­ten, son­dern auch die Film­kul­tur in Deutsch­land radi­kal verändern.

© Robert Sakowski
© Robert Sakowski

RM: Selbst bemüh­ten Film­fans macht es Deutsch­land schwer, jede Woche einen Film im Kino zu sehen. Man den­ke da nur an die zahl­rei­chen länd­li­chen Kinos, in denen das Pro­gramm voll und ganz auf Kin­der aus­ge­legt ist.

 

WMS: Nun gibt’s ja ande­re Mög­lich­kei­ten, Fil­me zu sehen. Ich wür­de sagen, für Leu­te, die sich für die Film­ge­schich­te inter­es­sie­ren, war es noch nie so leicht, die­se zu rezi­pie­ren. Frü­her muss­te man ja schau­en, ob ein Film viel­leicht mal im Fern­se­hen kommt, den man dann auf­neh­men könn­te. Heu­te ist fast alles zugäng­lich, aber es wird trotz­dem nicht gesehen.

Strea­ming­diens­te wie Net­flix sind nicht an der Film­ge­schich­te inter­es­siert und haben die­se auch kaum im Port­fo­lio. Man kann die Fil­me zwar über ande­re Anbie­ter sehen, aber das wird nicht gemacht. Das lässt uns viel­leicht auch die­se Legen­de vom Long Tail Busi­ness in Fra­ge stel­len — ein Buch, das vor eini­gen Jah­ren von Chris Ander­son geschrie­ben wur­de. In die­sem sagt er, dass im Zeit­al­ter der Null-Grenz­kos­ten, wo also die Dis­tri­bu­ti­on von Musik, Fil­men, etc., ganz ein­fach und bil­lig ist, ein sehr lan­ger Schwanz ent­ste­hen wird; das heißt, dort wer­den die Pro­duk­te, die frü­her in einem Gate­kee­per-Sys­tem, was sehr viel stär­ker auf Kon­sens aus­ge­legt sein muss­te, kei­ne Chan­ce hat­ten, jetzt ihre jewei­li­gen Abneh­mer fin­den. Nischen wer­den so extrem flo­rie­ren. Was wir aber erle­ben ist, dass es zwar kul­tu­rell die­se Aus­dif­fe­ren­zie­rung mit wahn­sin­nig tol­len Nischen­fil­men gibt, aber denen geht es öko­no­misch nicht gut. Bei der Musik kann man das sehr gut sehen: da gilt das Mat­thä­us-Prin­zip: Wer hat, dem wird gege­ben. Dort kon­zen­triert sich die Auf­merk­sam­keit auf weni­ge Stars, ganz oben dann Tay­lor Swift. Ähn­li­ches kön­nen wir beim Film beob­ach­ten. Es wird viel Inter­es­san­tes pro­du­ziert, aber es gibt kaum ein Publi­kum dafür.

 

RM: Das stimmt. All die­se wun­der­ba­ren Fil­me war­ten dar­auf, Auf­merk­sam­keit zu bekom­men – das heißt, rich­tig ‚gele­sen‘ zu wer­den. Die Uni­ver­si­tät ist eigent­lich der Ort, um das zu ler­nen. Es ist erstaun­lich, wie häu­fig Chan­tal Acker­manns Jean­ne Diel­man, 23 quai du Com­mer­ce, 1080 Bru­xel­les seit dem Auf­stieg zu Platz 1 der Sight & Sound Lis­te als Lehr­ma­te­ri­al ver­wen­det wird. Da kommt mir die Sor­ge, dass Stu­den­ten danach mit ‚Art­house‘ Kino nichts mehr zu tun haben möchten. 

 

WMS: Ich bin gar nicht gegen das Popu­lä­re, das auch sei­nen Platz im Semi­nar haben soll­te; ich bin auch dage­gen, dass man das soge­nann­te Art­house Kino grund­sätz­lich als groß­ar­tig emp­fin­det und je lang­sa­mer der Film erzählt ist, des­to bes­ser soll er sein. Ichver­ach­te die­se Art der Filmrezeption.

Gera­de habe ich wie­der eine leid­vol­le Erfah­rung gemacht und sehn­te mich eigent­lich danach, jetzt einen Mar­vel Film zu sehen, weil es da wenigs­tens ein wenig fri­scher zugeht. Ich habe mir Ana­to­mie eines Falls  — der Film, der in Can­nes gewon­nen hat — ange­se­hen, mit San­dra Hül­ler, die wie immer groß­ar­tig war. Es ist ein unsag­bar zähes Stück Kino. Mal wie­der ist nicht klar, war­um Can­nes solch einen Film bepreist. Ich habe ent­setz­lich gelitten.

Das ist glau­be ich schon so, dass man see­lisch und phy­sisch viel stär­ker lei­det, wenn die­se künst­lich anspruchs­voll sein wol­len­den Fil­me nicht gut sind, als in einem nicht gelun­ge­nen Unter­hal­tungs­film. Und die­ser Schmerz, der einem da ange­tan wird, der hält einen mit­un­ter dann auch ab, den nächs­ten Film zu sehen, der aber mög­li­cher­wei­se gut sein könnte.

 

RM: Haben Sie Jean­ne Diel­man denn in vol­ler Län­ge (3h 22min) gesehen?

 

WMS: Nein. Nicht alles, was unkon­ven­tio­nell ist, ist gleich­zei­tig auch gut. Im Gegen­teil, ich wür­de sagen, das Unkon­ven­tio­nel­le muss sich hier ganz beson­ders unter Beweis stel­len. War­um ver­lässt man die Kon­ven­ti­on? Nur dann, wenn man glaubt, mit ande­ren Mit­teln etwas Rele­van­tes erzäh­len zu kön­nen. Aber nur eine Kon­fu­si­on beim Betrach­ter zu hin­ter­las­sen oder ihn aus der Kom­fort­zo­ne gelockt zu haben, das reicht nicht aus. Das ist so ein Schlag­wort: ‚wir müs­sen die Leu­te aus der Kom­fort­zo­ne holen‘. Ich bin sehr dafür; aber dann muss man außer­halb die­ser Kom­fort­zo­ne auch irgend­et­was Inter­es­san­tes und Rele­van­tes anbie­ten. Nur Peit­schen­schlä­ge abzu­be­kom­men, genügt mir nicht. So maso­chis­tisch bin ich nicht veranlagt.

 

RM: Neben die­sen ‚Peit­schen­schlä­gen-Fil­men‘ sehe ich unter dem soge­nann­ten ‚anspruchs­vol­len‘ Kino eine zwei­te Kate­go­rie, die dem Publi­kum den Weg zu einem brei­ten Film­ge­schmack erschwert: der Film mit der ‚wich­ti­gen‘, aber offen­sicht­li­chen Leh­re. 12 Years a Slave bei­spiels­wei­se, der immer und immer wie­der in Schu­len gezeigt wird. Ich mei­ne, Sie tei­len mei­ne nega­ti­ve Wer­tung die­ses Films?

 

WMS: Der Schul­un­ter­richt kennt vor­wie­gend das Zei­ge­fin­ger­ki­no; und 12 Years a Slave ist solch eines. Die Bot­schaft des Films ist kei­ne, die als Pro­zess ent­steht, son­dern die Bot­schaft ist von vor­ne­her­ein klar und schon ohne Anse­hen des Films abso­lut akzep­tiert bei denen, die den Film gleich sehen wer­den. Damit hat man sich ein­mal im Kreis gedreht, aber sich gro­ßem Leid ausgesetzt.

Ich glau­be, die­ser Film hat eine dop­pel­te Funk­ti­on. Ein­mal bestä­tigt er, was man ohne­hin schon weiß oder begrif­fen haben soll­te: Ras­sis­mus und Skla­ve­rei sind schlecht. Das ermög­licht einem, jeg­li­ches Den­ken zu unter­las­sen, weil man da ja nicht dia­lek­tisch ran­ge­hen kann — das ist so unhin­ter­frag­bar und glas­klar, dass man nur nickend dies rezi­pie­ren kann.

Aber dadurch, dass es so anstren­gend ist, sich die­se im Film dar­ge­stell­te ras­sis­ti­sche Gewalt anzu­se­hen, hat man selbst als Zuschau­er ein biss­chen nach­ge­spürt, wie es ist, wenn man ras­sis­tisch benach­tei­ligt und miss­han­delt wird. So hat man sei­ne Abrei­bung bekom­men und geht dann (schein­bar) geläu­tert aus dem Saal her­aus. In Wahr­heit aber hat man sich die gan­ze Zeit etwas vorgemacht.

Des­we­gen sind sol­che Fil­me in beson­de­rer Wei­se zu ver­ach­ten. Wenn ein Film einen nicht mehr zum Den­ken bringt, son­dern nur das bestä­tigt, was ohne­hin schon da ist und dann noch die Erleich­te­rung erschafft, dass man auf der guten Sei­te steht, dann läuft da sehr viel schief.

RM: Nach all die­sen Schul­fil­men emp­fand ich die Lite­ra­tur als eine wah­re Erlö­sung, denn hier ist eine ganz ande­re, weni­ger gelenk­te Form des Den­kens viel leich­ter zu erreichen.

 

WMS: Die Lite­ra­tur hat gene­rell etwas abs­trak­te­res. Das ist jetzt eine Bana­li­tät, aber: durch die Buch­sta­ben. Das heißt, wir müs­sen die Bil­der erst ent­ste­hen las­sen. Es ist viel unmit­tel­ba­rer, Film zu sehen. Des­we­gen muss man eigent­lich Fil­me sehen ler­nen — man muss begrei­fen, wie Bil­der auf­ge­baut sind, wel­che Wir­kung sie haben, wel­che Mani­pu­la­ti­ons­kraft -, aber de fac­to kön­nen wir Bil­der sofort rezipieren.

Neil Post­man hat völ­lig recht, wenn er mit dem Fern­se­hen das Ver­schwin­den der Kind­heit asso­zi­iert, weil er sagt, einen por­no­gra­fi­schen (oder gewalt­tä­ti­gen) Roman wird man erst ab einem gewis­sen Alter auch als sol­chen rezi­pie­ren kön­nen. Bei Bil­dern ist das völ­lig anders — die wir­ken sofort.

Das ist ein Grund, war­um es die­sen Unter­schied gibt; und zugleich ist 12 Years a Slave und die­se Art von Film­pro­duk­ti­on typisch für die Ideo­lo­gie unse­rer Zeit, wo wir unglaub­lich dar­in baden, das Leid zu zei­gen und nicht in einen Refle­xi­ons- oder Ana­ly­se­mo­dus über­ge­hen. Die gan­ze Zeit wird nur gesagt, wie schlimm die­se Bil­der sind, wie scho­ckie­rend. Wir sind inzwi­schen so weit, dass in Nach­rich­ten­sen­dun­gen Repor­ter aus Kri­sen­ge­bie­ten zunächst nach ihren Gefüh­len gefragt wer­den. Sie sol­len arti­ku­lie­ren, was ihre per­sön­li­chen Gefüh­le sind, um nicht ins Den­ken zu gelan­gen. Für mich ist 12 Years a Slave der Film zu den popu­lä­ren Nachrichtenformaten.

 
© Johannes Frericks,
© Johan­nes Fre­ricks, Film 3

RM: Mit Neil Post­man sind wir nun zum zwei­ten Mal bei der Fest­stel­lung, dass man dem heu­ti­gen Film­kon­su­men­ten kein Vor­wis­sen abver­langt: Nach­rich­ten sol­len ohne jeg­li­ches Vor­wis­sen ver­stan­den und Kino­fil­me ohne Film­ge­schichts­kennt­nis und Fach­kom­pe­tenz kon­su­miert wer­den. Hat sich Ihr Gemüt eigent­lich schon in jun­gen Jah­ren gegen die­se Rezep­ti­on gewehrt? Woll­ten Sie schon mit zwölf bei Hitch­cock mehr sehen, oder kam das erst im Studienalter? 

 

WMS: Es war von Anfang an da, dass ich fas­zi­niert war und mir die­se Fil­me wie­der und wie­der ange­se­hen habe. Und das nicht aus einem rei­nen Unter­hal­tungs­wert her­aus, son­dern ich woll­te ver­ste­hen, was mich dort eigent­lich fas­zi­niert. Zugleich habe ich mich dann inten­siv mit Lite­ra­tur beschäf­tigt, vor allem mit deutsch­spra­chi­ger Lite­ra­tur. Es lief aber noch sehr stark getrennt von­ein­an­der — also die Beschäf­ti­gung mit Film und die Beschäf­ti­gung mit Literatur.

Nach dem Abitur hat­te ich ein hal­bes Jahr Zeit, bis mein Stu­di­um begon­nen hat, und im Gegen­satz zu den meis­ten mei­ner Mit­schü­ler bin ich nicht ver­reist, son­dern ging ins Thea­ter und ins Kino. Und zwar täg­lich! Dadurch ist schon viel mehr im Kopf zusam­men­ge­wach­sen, was die­se Küns­te betrifft. Im Stu­di­um habe ich mich dann für ein Stu­di­um der Ger­ma­nis­tik, Phi­lo­so­phie und der Kunst­ge­schich­te ent­schie­den — bewusst nicht Film -, weil ich mir sag­te, wenn ich doch nur gründ­lich Ger­ma­nis­tik und Kunst­ge­schich­te stu­die­re, wer­den mir alle Instru­men­te mit­ge­ge­ben, um auch beweg­te Bil­der, in denen Spra­che vor­kommt, zu analysieren.

Dann war der Film wäh­rend des Stu­di­ums wei­ter­hin prä­sent, aber vor allem war er auch eine Sache, die ich nicht machen muss­te für mein Stu­di­um. Man macht ja immer die Din­ge am aller­liebs­ten, die man nicht machen muss, und so war dann mei­ne Obses­si­on ins Kino zu gehen beson­ders groß. Das heißt, ich ging bestimmt drei oder vier Mal die Woche in Trier ins Kino und habe mir alles ange­se­hen, was mir nur eini­ger­ma­ßen als guck­bar erschien.

Da habe ich mir aber auch gleich immer gesagt, dass ich das nicht über­füh­ren muss ins wis­sen­schaft­li­che Schrei­ben. Das heißt, ich habe nicht dar­an gedacht, mei­ne Abschluss­ar­beit über Film zu schrei­ben. Man muss sich das auch so vor­stel­len, dass ich zwar in einer WG gelebt habe und auch gut sozia­li­siert (also nicht völ­lig allei­ne) war, dass ich aber doch in der Regel die Aben­de allein ver­bracht habe, indem ich ent­we­der gele­sen habe oder ins Kino gegan­gen bin. Das war schon sehr soli­tär. Ich glau­be die Stu­den­ten­par­tys, die ich besucht habe, wäh­rend mei­nes doch recht lan­gen Stu­di­ums, kann ich an einer Hand abzählen. 

 

RM: Hat man eine Stu­den­ten­par­ty gese­hen, kennt man sie im Prin­zip alle.

 

WMS: Mir scheint das so. Ich weiß auch nicht, was ich auf sol­chen Par­tys machen soll. Ich kann mich gut mit Men­schen unter­hal­ten, aber wenn es dort laut ist, dann ist das für mich nicht mög­lich. Mir ist das Par­ty­le­ben an sich ein gro­ßes Rät­sel. Ich habe — und das ist jetzt sehr böse — den Ein­druck, dass alle Men­schen dort unglück­lich sind, aber in einem stil­len Abkom­men mit­ein­an­der beschlos­sen haben, sich ein­zu­re­den, dass sie glück­lich sind. Ich bin aber vor­her nicht infor­miert wor­den, über die­se Ver­ab­re­dung, wes­we­gen ich unglück­lich dabeistehe.

 

RM: Sich zwi­schen einem gut geschrie­be­nen Buch und Small­talk mit ange­trun­ke­nen Kom­mi­li­to­nen zu ent­schei­den, ist nach ein wenig Par­ty-Erfah­rung ein Leichtes.

 

WMS: Das ist ja auch das gro­ße Leid, das die Kunst bei einem pro­du­ziert. Man kommt irgend­wann an den Punkt, an dem man immer vor der Wahl steht, ob man sich einer Kon­ver­sa­ti­on geschrie­ben von Flau­bert (bzw. Ing­mar Berg­man) oder dem Geplän­kel einer Par­ty aus­setzt. Und dann gewinnt meis­tens Flaubert.

 

RM: Mal abge­se­hen von sol­chen ober­fläch­li­chen Grup­pen­ver­an­stal­tun­gen ist das Stu­di­um doch ein pri­ma Zeit­raum, um bedeut­sa­me Gesprä­che mit Gleich­ge­sinn­ten zu führen.

 

WMS: Das ist gera­de das Tol­le an der Uni, dass man dort immer auf Men­schen trifft — und man braucht ja auch nicht fünf­zig, son­dern viel­leicht zwei, drei, oder vier -, mit denen man sich über die Din­ge, die einen inter­es­sie­ren, unter­hal­ten kann. Freund­schaf­ten sind ja gera­de dann beson­ders schön und lang­le­big, wenn sie auf etwas Drit­tes aus­ge­rich­tet sind. Und das kann nie­mals nur der eine ver­rück­te, besof­fe­ne Abend sein, son­dern das muss die Beschäf­ti­gung mit etwas Drit­tem sein, wie die Lite­ra­tur oder der Film. Denn so bleibt man immer in einem Gespräch, kann auch immer von sich selbst, von den eige­nen Befind­lich­kei­ten, weg­ge­hen, rich­tet sei­nen Blick auf etwas Drit­tes und regt sich dann wie­der an, um das Gespräch fortzusetzen.

Des­we­gen ist die Uni­ver­si­tät immer noch ein extrem wich­ti­ger Ort, weil dort so vie­le Ver­ein­zel­te hin­kom­men — mit ihren spe­zi­el­len Inter­es­sen -, die sich vor­her viel­leicht auch sehr allein gefühlt haben, die dann aber an der Uni­ver­si­tät Gleich­ge­sinn­te fin­den. Des­we­gen war das auch so eine Kata­stro­phe, dass die Unis wäh­rend der Pan­de­mie so lan­ge geschlos­sen waren, weil sich genau die­se Freund­schaf­ten über Zoom-Calls im gro­ßen Semi­nar nicht her­stel­len las­sen. Wo das aber noch pas­siert, und das ist das Wun­der­ba­re an unse­rer ver­netz­ten Zeit, das ist in den sozia­len Medi­en, dass man dar­über Leu­te ken­nen­lernt. Fast alle Men­schen, die heu­te für mich rele­vant sind, habe ich über das Inter­net ken­nen­ge­lernt. Und ich mei­ne nicht Dating-Apps.

 

RM: Die digi­ta­le Ver­net­zung bie­tet hier in der Tat gro­ße Vor­tei­le. Blei­ben wir aber noch einen Moment beim Stu­di­um. Was sind, neben die­ser sozia­len Kom­po­nen­te, Fak­to­ren, wes­we­gen Sie jun­gen Leu­ten das Stu­die­ren emp­feh­len würden?

 

WMS: Idea­ler­wei­se müss­ten alle, die stu­die­ren wol­len, auch nur stu­die­ren kön­nen und müss­ten nicht auch noch neben­her arbei­ten müs­sen, um sich das Stu­di­um zu finan­zie­ren. Das ist ein gro­ßes Pro­blem, denn alle Zeit, die man für einen Neben­job ver­wen­det, die fehlt, um sich bei­spiels­wei­se mit Lite­ra­tur tie­fer auseinanderzusetzen.

Gehen wir jetzt aber mal von dem Ide­al­bild aus, man hat also die Zeit, sich ganz auf das Stu­di­um zu kon­zen­trie­ren, dann bedeu­tet das für mich nicht, dass man nur pflicht­schul­dig alle Semi­na­re belegt, die man machen muss, und dar­über hin­aus aber rela­tiv wenig; son­dern für mich war es so, dass ich das Stu­di­um genutzt habe, um mich mit Din­gen, die mich inter­es­sie­ren, zu beschäf­ti­gen. Manch­mal ging das über­ein mit den Semi­na­ren, die ange­bo­ten wur­den, aber vor allem war Stu­di­um für mich auch Selbst­stu­di­um. Das heißt, in der Vor­le­sung bekom­me ich eine Inspi­ra­ti­on für etwas, das mich inter­es­sie­ren könn­te und dann beginnt erst mei­ne eigent­li­che Aus­ein­an­der­set­zung. Da ist der Dozent schon längst nicht mehr gefragt; da stellt sich auch nicht die Fra­ge, ‚ist das rele­vant für die nächs­te Haus­ar­beit?‘ Da stellt sich nur die Fra­ge, ‚ist das rele­vant für mein intel­lek­tu­el­les Fortkommen?‘

Und das wür­de ich jedem emp­feh­len, soweit die Zeit dies ermög­licht. Für mich war völ­lig klar, als ich die Schu­le ver­ließ und nicht mehr so viel ver­pflich­tend machen muss­te, was mich gar nicht inter­es­sier­te (bei­spiels­wei­se der Bio­lo­gie­leis­tungs­kurs), dass ich gene­rell die Zeit jetzt nut­ze, um mög­lichst viel zu lesen, zu stu­die­ren, um ein Fun­da­ment zu haben, das einem nicht nur beruf­lich hilf­reich sein kann, son­dern wirk­lich im Sin­ne einer gesam­ten Bil­dung der Per­sön­lich­keit wich­tig ist.

Das bedeu­tet auch, dass man eine gewis­se Dis­zi­plin an den Tag legt. Ich hat­te nicht jeden Abend Lust, ins Kino zu gehen. Aber ich hat­te immer Lust, mich wei­ter­zu­bil­den. Des­we­gen habe ich dann Dis­zi­plin an den Tag gelegt und bin ins Kino. Genau­so hat man nicht immer Lust zu lesen, aber man muss sich dazu über­re­den. Das braucht man schon, um das Stu­di­um wirk­lich zu nut­zen — immer mit dem Wis­sen auch, mög­li­cher­wei­se nie mehr so viel Zeit zu haben, um sich mit den geis­ti­gen, wich­ti­gen Inhal­ten auseinanderzusetzen.

 

RM: Man ist es sich fast schon schuldig.

 

WMS: Ja. Also man kann nicht sagen, ‚das lese ich mal, wenn ich in Ren­te bin‘. Wir wis­sen gar nicht mehr, wann wir irgend­wann in Ren­te geschickt wer­den. Wir sind dann eh schon im grei­sen Alter und man wird sich nicht plötz­lich nach vier­zig Jah­ren Beruf — das macht ja was mit einem – der Phi­lo­so­phie öff­nen. Das mag sein, dass es das in Ein­zel­fäl­len gibt, aber ich wür­de sagen, gera­de in jun­gen Jah­ren ist man enorm aufnahmebereit.

 

RM: Gesell­schaft und Uni reagie­ren schnell besorgt, wenn das geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Stu­di­um nicht in Regel­stu­di­en­zeit been­det wird. Als Wis­sens­hung­ri­ger hat man in höhe­ren Semes­tern so schnell einen schlech­ten Beigeschmack. 

 

WMS: Ich habe vier­zehn Semes­ter stu­diert und das hat mir nicht gescha­det. Aber man muss die Zeit nut­zen. Es gibt auch Leu­te, die stu­die­ren zwan­zig Semes­ter und haben aber auch in zehn Semes­tern kein Buch ange­rührt. Das muss man der Ehr­lich­keit hal­ber auch sagen. Aber grund­sätz­lich ist die­se star­ke Ver­schu­lung und die­ser Glau­be, dass man ganz schnell fer­tig sein muss, ja nicht an ein Bil­dungs­ide­al ange­lehnt, son­dern nur an kapi­ta­lis­ti­sche Verwertbarkeit.

 

RM: Ich habe es schon öfters gehört, dass ein Ger­ma­nis­tik­stu­di­um pro­blem­los abge­schlos­sen wur­de, ohne auch nur ein ein­zi­ges Buch voll­stän­dig gele­sen zu haben. Wie schät­zen Sie die hohen Immakt­ri­ku­la­ti­ons­zah­len ein? Stu­die­ren aktu­ell vie­le, die eigent­lich bes­ser wo anders auf­ge­ho­ben wären?

 

WMS: Das ist ein ganz gro­ßes Pro­blem in den Geis­tes­wis­sen­schaf­ten, vor allem in der Ger­ma­nis­tik. Jeder, der nicht so genau weiß, was er machen will, denkt sich ‚Deutsch kann ich spre­chen, also kann ich auch Ger­ma­nis­tik stu­die­ren‘. Die­se Pro­ble­me haben sie in der Mathe­ma­tik nicht. Dort wer­den nur die Leu­te stu­die­ren, die auch ein mathe­ma­ti­sches Ver­ständ­nis haben. Die­sen Leu­ten kann ich ganz klar abra­ten, die Geis­tes­wis­sen­schaf­ten nur aus Ver­le­gen­heit zu stu­die­ren, denn es ist auch öko­no­misch idio­tisch, da soll­te man lie­ber etwas stu­die­ren, mit dem man auch garan­tiert gutes Geld machen kann.

Ein­fach nur aus Ver­le­gen­heit zu stu­die­ren, hal­te ich für falsch. Ich bin auch gar nicht dafür, dass grund­sätz­lich mög­lichst vie­le Leu­te stu­die­ren sol­len. Es ist gut, dass wir solch eine Expan­si­on haben und vie­le Leu­te die Mög­lich­keit bekom­men, ein Stu­di­um zu absol­vie­ren, aber wir haben auch eine Kul­tur geschaf­fen, wo der uni­ver­si­tä­re Abschluss als das Non­plus­ul­tra gilt und das ist völ­li­ger Unsinn. Man kann sehr inter­es­san­te Aus­bil­dun­gen machen, kann dort in einer ande­ren Wei­se hoch qua­li­fi­ziert sein und ver­schließt sich auch damit nicht zugleich der phi­lo­so­phi­schen und künst­le­ri­schen Welt. Ich mer­ke das immer wie­der, wenn ich Vor­trä­ge hal­te: Vie­le Leu­te in mei­nem Publi­kum machen hand­werk­li­che Tätig­kei­ten oder arbei­ten in der Pfle­ge. Trotz­dem kön­nen die sich natür­lich im sel­ben Maße für Film und Lite­ra­tur begeis­tern. Das heißt, nur weil man sehr ger­ne liest, muss man nicht unbe­dingt Ger­ma­nis­tik stu­die­ren. Wir soll­ten von einer Hier­ar­chie abse­hen, in der grund­sätz­lich die uni­ver­si­tä­re Lauf­bahn die bes­te aller Wel­ten bedeutet.

 
 

RM: Abschlie­ßend möch­te ich noch geschwind das Uni­ki­no anspre­chen. Hat die Ver­mitt­lung von Nischen­fil­men damals in Trier gut geklappt? 

 

WMS: Ja, das hat in Trier sehr gut funk­tio­niert und ich ver­dan­ke dem Uni­ki­no die Begeg­nung mit Sla­voj Žižek, den ich vor­her nicht kann­te. Ich sah dort sei­nen ers­ten Film, den er gemein­sam mit Sophie Fien­nes gemacht hat — zu Hol­ly­wood und Ideo­lo­gie­kri­tik. Ich weiß noch, ich war allei­ne an die­sem Abend dort, mei­ne WG-Mit­be­woh­ne­rin­nen woll­ten nicht mit­kom­men, und als ich dann heim­kam, bedeck­te ich sie mit einem Rede­schwall, wie groß­ar­tig und augen­öff­nend die­ser Film gewe­sen ist. Das habe ich dem Uni­ki­no zu verdanken.

 

RM: Toll, dass Sie so zu Žižek gefun­den haben – das wuss­te ich gar nicht. Bei Büchern gab es doch sicher auch sol­che augen­öff­nen­den Begeg­nun­gen. Kön­nen Sie spon­tan drei sol­cher Wer­ke nennen?

 

WMS: Mali­na von Inge­borg Bach­mann, Holz­fäl­len von Tho­mas Bern­hard und In Stahl­ge­wit­tern von Ernst Jünger.

 

RM: Wel­che drei Bücher, die zunächst nicht direkt etwas mit Fil­men zu tun haben, waren ent­schei­dend für Ihr Filmverständnis?

 

WMS: Gen­der Trou­ble von Judith But­ler, Die Dia­lek­tik der Auf­klä­rung von Hork­hei­mer und Ador­no und Madame Bova­ry von Flau­bert.

 

RM: Wie sieht es bei Büchern aus, die pri­mär vom Film sprechen?

 

WMS: Also sicher­lich von Tar­kow­ski Die ver­sie­gel­te Zeit, von Ing­mar Berg­man Later­na Magi­ca und wenn es um Theo­rie geht, dann: Ich höre dich mit mei­nen Augen von Sla­voj Žižek. Die Film­gen­re- und Film­stil-Rei­he vom Reclam-Ver­lag fin­de ich auch sehr gut, die ist sehr hilf­reich. Robert Bres­sons Buch Notes on the Cine­ma­to­grapher ist für mich sehr wich­tig gewe­sen. Ich bin aber kein Film­wis­sen­schaft­ler, das heißt, die Film­theo­rie rezi­pie­re ich zwar auch, aber die ist nicht so prä­gend für mich. Ich habe die Fas­zi­na­ti­on für Deleu­ze sei­tens der Film­wis­sen­schaft­ler bei­spiels­wei­se nie nach­voll­zie­hen können.

 

RM: Da Sie in der Ver­gan­gen­heit bereits Lehr­erfah­run­gen in der NDL machen konn­ten, wür­de mich zu guter Letzt noch inter­es­sie­ren: Könn­ten Sie sich vor­stel­len, jemals an einer Uni Film­kur­se zu geben?

 

WMS: Ich könn­te mir nicht vor­stel­len, dau­er­haft zur Uni­ver­si­tät zurück­zu­keh­ren, aber für ein­zel­ne Gast­spie­le defi­ni­tiv. Denn was mich an der Uni abge­schreckt hat, war das Admi­nis­tra­ti­ve, das auf einen dann zurollt — die gan­zen büro­kra­ti­schen Hür­den. Was ich immer lieb­te, war die Leh­re — die Aus­ein­an­der­set­zung mit den Stu­den­ten und die Dis­kus­sio­nen. Das war eigent­lich das, was mich auch selbst inhalt­lich wei­ter­ge­bracht hat.

 

RM: Ich drü­cke Ihnen fest die Dau­men, dass sich dafür Wege fin­den las­sen. Und wer weiß, viel­leicht ver­schlägt es Sie in die­sem Zusam­men­hang ja noch­mal in naher Zukunft nach Augsburg.

Wolf­gang M. Schmitt ist Web­vi­deo­pro­du­zent, Autor und Pod­cast-Mode­ra­tor. Zu sei­nen erfolg­reichs­ten Pro­jek­ten zählt der You­tube-Kanal Die Film­ana­ly­se, auf dem Kino ideo­lo­gie­kri­tisch betrach­tet wird. Gemein­sam mit Ole Nymoen mode­riert er den Pod­cast Wohl­stand für Alle; Die Neu­en Zwan­zi­ger ent­ste­hen in Zusam­men­ar­beit mit Ste­fan Schulz.

2021 ver­öf­fent­li­chen Wolf­gang M. Schmitt und Ole Nymoen das Buch Influen­cer: Die Ideo­lo­gie der Wer­be­kör­per. Eine Samm­lung tran­skri­bier­ter Film­ana­ly­se-Tex­te (Die Film­ana­ly­se: Kino anders gedacht) erschien 2023.

Roman Matz­ke stu­diert Kom­pa­ra­tis­tik an der Uni­ver­si­tät Augsburg.