2 uhr nachts am laptop sitzend (forever gegenwart forever)

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© Max Zerrahn

essay von thomas köck

GEGENWART, f. prae­sen­tia, ein viel­fach merkwürdiges wort 

Grimm’sches Wörterbuch

jetzt haben wir uns schon wie­der in so einer zeit ver­lau­fen, von der wir doch eigent­lich dach­ten, dass sie hin­ter uns liegt, oder nicht? so eine zeit der kri­sen, der erschöpfung, der ernüchterung, ver­dammt, das war es doch, die­ses him­mel­hoch­jauch­zen­de reich der ewig­keit, ver­dammt, das wir uns aus­ge­dacht hat­ten, ver­dammt, für alle zeit. ein­mal der geschich­te ent­kom­men, ihren zwängen, ihren block­staat­li­chen dis­kus­sio­nen darüber wie man also so ein zusam­men­le­ben gestal­ten könnte, wie also leben, was also tun?

aber nein, wir befin­den uns lei­der immer noch nach der orgie, eini­ge sind schon länger am aufräumen, ande­re wol­len nur weg, eini­ge wis­sen nicht mehr, wohin mit ihnen, ande­re sind ver­schwun­den und irgend­wo dahin­ten wird noch mun­ter debat­tiert. dabei sah es doch eigent­lich mal rich­tig gut aus da drau­ßen, also für ein paar hier, also für die his­to­ri­schen gewin­ner­sub­jek­te, denen am ende der blockstaatenlösung plötzlich neue, fri­sche, am boden lie­gen­de und frei zur verfügung ste­hen­de märkte präsentiert wur­den, die kri­se konn­te ver­tagt wer­den, ver­scho­ben, zehn jah­re später dann kam die ernüchterung aber auch nicht so rich­tig, man woll­te ein­fach wei­ter­ma­chen, das zeug stre­cken, das irgend­wer mit­ge­bracht hat­te, so lan­ge wie möglich stre­cken, damit die­se gegen­wart, damit die­ser rausch ein­fach kein ende fin­det, es geht immer noch was, auch wenn die ers­ten sich übergeben und nach hau­se tor­keln wol­len, die nächsten schon para­no­id in der ecke sit­zen und jede dis­kus­si­on ver­wei­gern, da geht doch immer noch was in die­ser gegen­wart, die wir jetzt seit gerau­mer zeit aus­hal­ten, die­se end­lo­se, erschütternde gegen­wart, von der wir gelernt haben, dass sie als ein­zi­ge daseins­be­rech­ti­gung sich selbst hat, was braucht so eine zeit sonst auch ande­res als sich selbst?

früher da hieß gegen­wart viel­leicht ein­mal moder­nis­mus oder inno­va­ti­on um eine gesell­schaft oder eine kunst­form nach vor­ne zu brin­gen, zumin­dest erzählt man sich das so, um einen neu­en men­schen zu for­men, um das alte zu kri­ti­sie­ren, um zu zei­gen, wie man es überwinden kann und zu wel­chem zweck. heu­te, ein begriff, der sehr schwam­mig ist, zuge­ge­ben, ist die pure inno­va­ti­on um ihrer selbst wil­len schon die inno­va­ti­on, was inter­es­siert uns noch geschich­te, was inter­es­siert uns noch eine ande­re par­ty, ein neu­es sys­tem, wenn wir gelernt haben, ganz gut hier zu leben, wenn der ein­zi­ge his­to­ri­sche hori­zont den wir noch haben, ein end­lo­ses pla­teau der ewi­gen gegen­wart ist, in dem der fort­schritt nicht mehr gesell­schaft­lich statt­fin­det, son­dern indi­vi­du­ell, first come, first ser­ve, wer zutritt zur par­ty hat kann eben mit­fei­ern, wer nicht, hat fore­ver pech forever.

was ist wenn die gegen­wart alles ist was wir heu­te haben und was pas­siert, wenn die­se gegen­wart sich als hölle präsentiert, die wir selbst ohne his­to­ri­schen flucht­punkt geschaf­fen haben? schei­ße, was? wir waren das? was ist, wenn die­se gegen­wart, die­ses ding mit den explo­die­ren­den mie­ten, mit den wie­der­keh­ren­den nazis, mit den staa­ten, die man hat schei­tern las­sen, um die roh­stof­fe zu bekom­men, mit den waldbränden, mit die­ser neu­en gat­tung der billionäre, die gan­ze staa­ten auf­kau­fen könnten oder die welt­wirt­schaft, wenn sie woll­ten in eine tal­fahrt son­der­glei­chen schi­cken könnten — sind wir froh, dass sie aktu­ell nur rake­ten bau­en und noch kei­ne armeen. was ist wenn die­se gegen­wart nur mehr noch wach­sen soll und darf, sonst nichts? kei­ne veränderung, kein riss, kein bruch, kei­ne zäsur, nur wachs­tum, fried­lich in aller ewig­keit, end­lo­ses wachs­tum, wie das doch auch in der natur so ist, wo alles wächst und gedeiht, end­los wächst aber eigent­lich nur der tumor, nur der krebs wächst wie das brut­to­par­ty­pro­dukt expo­nen­ti­ell end­los gren­zen­los in alle gegen­wart bis er die par­ty sprengt.

man darf aber nicht nur schwarz sehen, auch nicht wenns heu­te ziem­lich ver­reg­net ist nach die­ser orgie. man muss sor­tie­ren, erst­mal fra­gen: wer hat die­se orgie überhaupt gefei­ert und wer hat jetzt einen kater? wer ist das sub­jekt der orgie und wer ist das sub­jekt mit kater? wer sagt wir und lamen­tiert vom feh­len einer ande­ren zeit? die insti­tu­tio­nen wur­den gestürmt, die kolo­nia­lis­ten wur­den ver­trie­ben, und die repräsentationen infra­ge gestellt. aber es fühlt sich an, als hätte man genau die par­ty schon mal gefei­ert, viel­leicht kommt das kopf­weh auch davon, dass man irgend­wie das gefühl hat, die par­ties klin­gen doch alle gleich, die pla­ka­te sehen alle gleich aus, die leu­te auf den par­ties auch und wie immer reden alle vom glei­chen hot shit — bevor sie hauptsächlich von sich erzählen, auch eine art hot shit, aller­dings nur auf körpertemperatur und die ist jetzt nicht so wahn­sin­nig hot — zumin­dest wenn man nüchtern ist, egal.

sind es überhaupt die, die gefei­ert haben, die jetzt einen kater haben? man hat ja das gefühl, hier kom­men schon alle mit einem kater an, obwohl die doch viel zu jung waren für die par­ty, und jetzt viel zu spät zur tür rein­kom­men hier und mit­ma­chen wol­len, sure, die stren­gen sich schon sehr an, aber des­to länger die par­ty, des­to größer die anstren­gun­gen natürlich, um das niveau zu hal­ten. kein wun­der, dass schädelweh. da kom­men ein paar neue rein­ge­schneit und wer­den gleich mal zeu­gen von einer prügelei, aber hey, es ist auch schon spät und es war ziem­lich geil hier, vor ein paar jahr­zehn­ten, das hat sich rum­ge­spro­chen, das wird auch wie­der, big fuck­in pro­mi­se, zumin­dest sagen sich das eini­ge hier, die aber nicht mehr so genau wis­sen, woher sie das wis­sen, also jemand hat das gesagt, dass das eine tol­le par­ty gewe­sen sein muss, irgend­wann mal, wem auch immer die woh­nung mitt­ler­wei­le hier gehört, wer auch immer jetzt hier wohnt, wohnt hier eigent­lich noch wer oder sind die alle nur­mehr noch unter­wegs zwi­schen pro­jek­ten, mit denen sie ja vor allem sich selbst vor­an­trei­ben sonst eher nie­man­den, gegen­wart, selt­sa­mer begriff, eigen­ar­ti­ge par­ty, geht da noch was?

irgend­wer hat den gar­ten angezündet oder brennt der schon länger, ein paar ste­hen unten und dis­ku­tie­ren jetzt darüber, ein paar von ihnen lau­ter, eini­ge ande­re überlegen, wie sie den brand ins inte­ri­eur inte­grie­ren und ob das sich nicht irgend­wie ganz schick macht auch, und ein paar ande­re stel­len in fra­ge, ob das überhaupt flam­men sind, also rich­ti­ge flam­men, sol­che wie früher, wer weiß, nach so einer elend­slan­gen par­ty in die­ser end­lo­sen ewig­keit sieht man ja alles mögliche, bren­nen­de dornenbüsche, in flam­men ste­hen­de land­schaf­ten oder überhitzte sozia­le räume und ver­wech­selt das alles schnell mal mit einem grillanzünder und schmeißt noch einen fun­ken rein, während man lässig von der sei­te zwit­schert und sich den nächsten tweet anzündet.

ach die gegen­wart, selt­sa­me par­ty, irgend­wo zwi­schen früher und mor­gen ist da was ver­lo­ren gegan­gen, eine rich­tung viel­leicht, wer weiß, viel­leicht lags an dem selt­sa­men zeug, dass da frühmorgens mal gebracht wur­de, aber viel­leicht gabs das auch ein­fach nie, die­ses mor­gen, viel­leicht kommt das gar nicht mehr, viel­leicht sucht das auch nie­mand mehr, zuge­ge­ben es ist auch schwer, wo fin­det man denn das, so ein mor­gen, wo soll man denn suchen, wo soll denn das ges­tern auch sein, das kann ja überall sein, jeder kann davon spre­chen, von so einem damals oder einem früher oder einem bald oder einem mor­gen dann, und eini­ge ande­re par­ties ges­tern waren dann doch ziem­lich beschis­sen und es gibt genug hier, mit denen wir mor­gen kei­ne fête mehr schmei­ßen wol­len würden.

wahr­schein­lich wird das hier noch eine gan­ze wei­le so wei­ter­ge­hen, was auch sonst. die gegen­wart dau­ert eben länger heu­te, sie weiß was sie will, sich selbst, sonst nichts, die will sich ver­zeh­ren und nicht mehr nach hau­se gehen, von ihrer eige­nen par­ty, und es müssen ein­fach ständig neue dazu kom­men, damit es wei­ter geht hier, end­los, ein paar haben wie­der neue geschich­ten, die haben sie sich aus den alten gebas­telt, die haben sie ges­tern auch schon so ähnlich aber doch ein biß­chen anders erzählt aber ja im prin­zip sinds die glei­chen geschich­ten und einer dreht die musik lau­ter, das geht dann doch, so in der ewig­keit, dass man zumin­dest den lärm so laut auf­dreht, dass man das geschrei nicht mehr hört.

Tho­mas Köck wur­de 1986 in Steyr, Ober­ös­ter­reich gebo­ren. Er ist durch Musik sozia­li­siert und stu­dier­te Phi­lo­so­phie und Lite­ra­tur­theo­rie in Wien und an der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin, sowie Sze­ni­sches Schrei­ben und Film an der Uni­ver­si­tät der Küns­te Ber­lin. Er arbei­te­te beim thea­ter­com­bi­nat wien, war mit einem Doku­men­tar­film­pro­jekt über Bei­rut zur Ber­li­na­le Talents ein­ge­la­den, war Haus­au­tor am Natio­nal­thea­ter Mann­heim, bloggt mit Kolleg*innen auf nazisundgoldmund.net gegen rechts und ent­wi­ckelt mit Andre­as Spechtl unter dem Label ghost­dance kon­zer­tan­te rea­dy­ma­des. Für sei­ne Thea­ter­tex­te wur­de er mehr­fach aus­ge­zeich­net, zuletzt 2018 und 2019 uA mit dem Mül­hei­mer Dra­ma­ti­ker­preis sowie 2021 mit dem Hör­spiel­preis der Kriegsblinden.