Marc Deckert: Die Kometenjäger

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von Chris­ti­an Weiblen und Nico­le Seibert

„Was soll er mit einer Per­spek­ti­ve? Er hat ein Tele­skop“, ver­tei­digt Phil­ipp Tom. Es ist der Beginn einer inten­si­ven Freund­schaft, die die bei­den auf eine unge­wöhn­li­che Rei­se quer durch die USA führt. Die Kome­ten­jä­ger (2012) – eine Geschich­te über Ster­ne, den Welt­raum, Träu­me, Freund­schaft und nicht zuletzt über die Fra­ge nach dem Zusam­men­hang zwi­schen Indi­vi­du­um und Kosmos.

In dem 2012 im btb-Ver­lag erschie­nen Erst­lings­werk von Marc Deckert eint der Autor sei­ne jour­na­lis­ti­sche Neu­gier zum The­ma Astro­no­mie mit dem Drang, sei­ne Infor­ma­tio­nen in einer Geschich­te zu erzäh­len – so ver­bin­det sich Fakt und Fik­ti­on. Hin­ter dem wis­sen­schaft­lich anmu­ten­den Titel ver­birgt sich ein Road-Movie im Buch­for­mat, das die Fra­ge auf­wirft, ob es heu­te noch loh­nens­wert ist, sich den Ster­nen aus­zu­set­zen. Ist durch den tie­fen Blick in das Uni­ver­sum Erfül­lung zu erlan­gen oder ist die­se Sehn­sucht nicht eher als Flucht­be­we­gung zu verstehen?

Der 28-jäh­ri­ge Ich-Erzäh­ler, Phil­ipp Stein­le, erfolg­lo­ser Illus­tra­tor aus Lands­berg am Lech, bekommt den Auf­trag, ein Kin­der­buch über Astro­no­mie zu bebil­dern. Weil Phil­ipp nichts von Him­mels­kon­stel­la­tio­nen ver­steht, beschließt er, eine Stern­war­te zu besu­chen. Dort begeg­net er dem 23-jäh­ri­gen Tom, der von den Ster­nen fas­zi­niert ist – und gerät prompt in des­sen Umlauf­bahn. Tom ist lei­den­schaft­li­cher „Beob­ach­ter“. Im Gegen­satz zu Astro­no­men, die ihre Zeit mit Maschi­nen und der Aus­wer­tung von Daten ver­brin­gen, schaut sich Tom die Ster­ne lie­ber sel­ber an; bevor­zugt im Obser­va­to­ri­um, das er von sei­nem Groß­va­ter geerbt hat. Tom freut sich über das Inter­es­se Phil­ipps und führt ihn in die „Kunst des Sehens“ ein. Meist schau­en die bei­den durch das alte „Clark“, ein Tele­skop, mit dem schon der Groß­va­ter Kome­ten entdeckte.

„Jedes Mal, wenn du hin­durch­siehst, ist da etwas Neues.“

Doch was, wenn Tom nicht mehr hin­durch­se­hen kann, weil der erkrank­te Vater den Erlös aus dem Ver­kauf die­ses wert­vol­len Tele­skops drin­gend benö­tigt? Dann möch­te Tom zumin­dest wis­sen, was mit sei­nem Clark pas­siert. Da Tom von einem poten­ti­el­len Käu­fer in den USA weiß, ent­schließt er sich, die­sen zu besu­chen und dort eben­falls sei­ne bereits in Euro­pa begon­ne­ne Suche nach dem dun­kels­ten Him­mel fort­zu­set­zen. Phil­ipp, der weder in sei­ner Tätig­keit als Illus­tra­tor noch in sei­ner Bezie­hung zufrie­den ist, ent­schließt sich dazu, ihn zu beglei­ten. Schließ­lich hat Tom „mich aus­ge­wählt und ich ihn, weil wir uns so ähn­lich waren, weil wir bei­de jeman­den such­ten, der die Träu­me des ande­ren bestehen ließ, ohne sie in Fra­ge zu stel­len,“ so Philipp.

Mit einer detail­rei­chen Spra­che, die neben weit schwei­fen­den Land­schafts­be­schrei­bun­gen eben­falls Kennt­nis­se der Astro­no­mie ver­mit­telt, lässt uns der Autor in die Welt der bei­den Prot­ago­nis­ten ein­tau­chen. Ihr Weg führt sie zunächst nach Los Ange­les. Dort tref­fen sie einen Tele­skop-Zwi­schen­händ­ler, einen berühm­ten Tele­s­kop­bau­er sowie skur­ri­le Hob­by-Astro­no­men, die den Stadt­leu­ten den ver­lo­re­nen Ster­nen­him­mel wie­der­brin­gen wol­len. Die inten­si­ve Suche Toms nach dem Käu­fer wirkt ins­be­son­de­re für Phil­ipp wie eine Flucht aus sei­ner der­zeit ernüch­tern­den All­täg­lich­keit und zieht die bei­den immer tie­fer in einen Sog aus Suchen, Ver­zweif­lung und Finden.

„Wir fuh­ren zu viel Auto, und wir schau­ten auf Wel­ten, die wir selbst nie betre­ten würden.“

In den Wei­ten Ari­zo­nas tref­fen sie auf wei­te­re Licht­ge­stal­ten der Astro­no­mie, bege­ben sich in gefähr­li­che Situa­tio­nen und begeg­nen schließ­lich dem poten­zi­el­len Käu­fer des Tele­skops. Doch ist Tom wirk­lich bereit, sich von sei­nem gelieb­ten Clark zu tren­nen, da ihm so schein­bar die Chan­ce genom­men wird, selbst einen Kome­ten zu ent­de­cken? Fällt Tom dies nicht noch schwe­rer, wenn man sei­ne Suche nach einem neu­en Kome­ten meta­pho­risch als Suche des eige­nen Lebens­sinns versteht?

Tom ist radi­kal. Tom ist beses­sen. Das Ver­ständ­nis Phil­ipps für Toms Kom­pro­miss­lo­sig­keit, die die bei­den in eini­gen Situa­tio­nen bereits in Gefahr brach­te, stößt an sei­ne Gren­zen. Er sehnt sich nach „Nach­rich­ten vom Pla­ne­ten Erde, dem ich so lan­ge den Rücken gekehrt hat­te.“ Allein zieht er wei­ter und trifft zufäl­lig auf den ehe­ma­li­gen Kome­ten­jä­ger Living­ston, der gewis­se Par­al­le­li­tä­ten zu Tom auf­weist. Heu­te ver­einsamt, beglei­te­te ihn die Ster­nen­su­che lan­ge Zeit sei­nes Lebens – eine von Deckert beab­sich­tig­te Prä­fi­gu­ra­ti­on? Der Leser stellt sich unwei­ger­lich die Fra­ge, ob Tom wohl genau so enden wird.

Anders als erwar­tet, liegt der Fokus des Buches nicht pri­mär in astro­no­mi­schen Sphä­ren, son­dern auf der irdi­schen Fra­ge: Wie soll ich leben? Deckert zeich­net sei­ne Figu­ren mit Humor und Empa­thie, die es dem Leser erleich­tern, in die jewei­li­ge Bild­welt ein­zu­tau­chen. Es ent­ste­hen tief­sin­ni­ge und leben­di­ge Cha­rak­te­re, die ihren Platz zwi­schen gesell­schaft­lich ver­or­te­tem Leben und ihren eige­nen Träu­me­rei­en suchen. Genau die­se Suche trägt zu einer inne­ren Ent­wick­lung der bei­den Prot­ago­nis­ten, Phil­ipp und Tom, bei. Strahlt Tom bereits zu Beginn eine Tie­fe aus, die sich nur erah­nen lässt, ist es ins­be­son­de­re der anfangs eher unschein­bar wir­ken­de Phil­ipp, der uns alle über­rascht: Gegen Ende des Romans ergreift erst­mals er die Initia­ti­ve und sorgt dafür, dass sich die Bah­nen von Tom und Living­ston kreu­zen – am dun­kels­ten Ort, den Tom je gese­hen hat…

‘Die Kome­ten­jä­ger’ – eine Geschich­te, die berührt, wenn­gleich sie an eini­gen Stel­len der Gren­ze zum Kli­schee nahe­kommt, sie jedoch nicht über­schrei­tet. Mit einer oft poe­ti­schen Spra­che scheint der Autor sei­ne Neu­gier mit­hil­fe sei­ner Prot­ago­nis­ten zu stil­len. Dabei ist ein hoch­ak­tu­el­ler Roman ent­stan­den, der die Stel­lung des Indi­vi­du­ums im Kos­mos aus­lo­tet – der Him­mel als inte­gra­ler Bestand­teil der mensch­li­chen Lebenswelt.

„Der Jäger näher­te sich dem Him­mel wie ein Bedürf­ti­ger. Er sehn­te sich nach einem Blick auf die ande­re Sei­te, nach einer Erfah­rung, die ihn ver­voll­stän­dig­te. Und wie in jede reli­giö­se Ver­rich­tung war auch in die­se eine tie­fe Sehn­sucht ein­ge­schrie­ben, eine Sehn­sucht, die sich nicht abstel­len ließ.“

Den­noch birgt der Blick hin­aus in die Wei­ten des Uni­ver­sums auch Gefah­ren: Wer sich den Ster­nen zu sehr aus­setzt, kann schnell die Boden­haf­tung ver­lie­ren. Das sind die zwei Pole, zwi­schen denen sich die Prot­ago­nis­ten – und letzt­lich auch wir als mensch­li­che Wesen – bewegen.

Marc Deckert: Die Kome­ten­jä­ger
btb-Ver­lag 2012
416 Sei­ten