Das poetozentrische Weltbild

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von Tobi­as Krüger

Der Mond ist jener Him­mels­kör­per, wel­cher sich – gleich­sam als habe er die koper­ni­ka­ni­sche Wen­de ver­schla­fen – als letz­ter treu allein um uns dreht. Chris­ti­an Mor­gen­stern spot­tet dem wis­sen­schaft­li­chen Eifer, die Welt zu begrei­fen, indem er in sei­nem Gedicht Der Mond die Esels­brü­cke vom Ab- und Zuneh­men des Mon­des ernst nimmt. Doch er bringt mit sei­ner poe­to­zen­tri­schen Welt­sicht den Men­schen auch wie­der zurück in die Mit­te des Universums.

Gali­leo Gali­lei hat ein­mal behaup­tet, das Uni­ver­sum wäre ein Buch, geschrie­ben in der Spra­che der Mathe­ma­tik, deren Buch­sta­ben Krei­se, Drei­ecke und ande­re geo­me­tri­sche Figu­ren wären (vgl. Gali­lei 1623: Cap. VI). Das klingt nach der Hybris eines Mathe­ma­ti­kers, der sich anmaßt, für sei­ne Dis­zi­plin onto­lo­gi­sche Bedeu­tung ein­zu­for­dern. Akri­bi­sche Lek­tü­re ent­lockt der Behaup­tung jedoch gro­ße Beschei­den­heit; mög­li­cher­wei­se mehr als beab­sich­tigt. Mathe­ma­tik ist dem­zu­fol­ge kein wir­ken­des Prin­zip, son­dern allen­falls eine Spra­che. Oder noch weni­ger: ein Alpha­bet, also ledig­lich die Aus­wahl jener Sym­bo­le, mit­tels derer eine Spra­che beschrie­ben wird (vgl. Buß­mann 1983: 83). Aber sind Spra­che oder gar Alpha­bet wirk­lich gerin­ger zu schät­zen, als die durch sie beschrie­be­ne Wirklichkeit?

Impli­zit ist in Gali­leis Äuße­rung das Pro­blem ange­spro­chen, wie Signi­fi­kant und Signi­fi­kat zusam­men­ge­hö­ren. Dabei ist es oft­mals ein grö­ße­res Pro­blem, Signi­fi­kant und Signi­fi­kat aus­ein­an­der­zu­hal­ten. Zum Behelf bie­tet sich eine klei­ne Esels­brü­cke: Die ein­an­der ent­spre­chen­den Begrif­fe Bezeich­nen­des und Signi­fi­kant haben ein n mehr als ihr jewei­li­ges Ant­onym. Ist die­se Esel­brü­cke ledig­lich zwi­schen zwei Begriffs­paa­ren auf­ge­spannt, so führt die fol­gen­de von einem Begriffs­paar in die Wirk­lich­keit: Geo­gra­phen, wel­che die Begrif­fe Luv und Lee durch­ein­an­der­brin­gen, sei fol­gen­de Hil­fe an die Hand gege­ben: Das u und das v sind nach oben offen, so dass es hin­ein­reg­nen kann, wohin­ge­gen das e innen tro­cken bleibt. Das Prin­zip des Stei­gungs­re­gens erklärt sich dar­aus gewiss nicht, aber die Begrif­fe las­sen sich rich­tig zuord­nen. Die Esels­brü­cke beschreibt ihren Gebrauch.

Einer struk­tu­rell ähn­li­chen Esels­brü­cke hat Chris­ti­an Mor­gen­stern fol­gen­des Gedicht gewidmet:

Der Mond 1977
(Mor­gen­stern 1977: 48)

Wie funk­tio­niert die­se Esels­brü­cke? Ähn­lich wie bei Luv und Lee unter­stellt man der Gestalt der Zei­chen eine Bezie­hung zum Bezeich­ne­ten. Ein glück­li­cher Zufall gestat­tet dem Hirn ein Bild, in wel­chem Signi­fi­kant und Signi­fi­kat, auf die glei­che Ebe­ne gesetzt, eine Ver­bin­dung ein­ge­hen. In die­sem Fall zeich­net der nach links gekrümm­te Bogen des in deut­scher Kurr­ent­schrift geschrie­be­nen A die Sichel des abneh­men­den Mon­des nach bzw. der sich nach rechts krüm­men­de Bogen des Z jene des zuneh­men­den Mon­des. Die phä­no­ty­pi­sche Ähn­lich­keit erspart dem Gehirn sich zu mer­ken, wel­che Gestalt des Mon­des mit wel­cher sei­ner Pha­sen zu kon­no­tie­ren ist: „daß kei­ner groß zu den­ken hätt.“
Mor­gen­sterns Gedicht geht jedoch weit dar­über hin­aus, eine didak­ti­sche Hand­rei­chung in Ver­se zu fas­sen. Dass die Mög­lich­keit der Esels­brü­cke einer zufäl­li­gen Ähn­lich­keit von Zei­chen und Bezeich­ne­tem ent­springt, igno­riert er und ver­kehrt sie in das gera­de Gegen­teil: aus Zufäl­lig­keit wird Not­wen­dig­keit. Dies­be­züg­lich wählt er aber nicht jene noch eher nach­voll­zieh­ba­re Vari­an­te, dass A und Z nach der Gestalt des ab- und zuneh­men­den Mon­des geformt wären. In die­sem Fall lie­ße sich der jeweils ers­te und letz­te Buch­sta­be des Alpha­bets als Nach­ah­mung der ent­spre­chen­den Form der Mond­pha­se anse­hen und avan­cier­te vom arbi­trä­ren Sym­bol zum Ikon. Denkt man an ande­re abbil­den­de Schrift­ar­ten wie die ägyp­ti­schen Hie­ro­gly­phen oder die Vor­läu­fer chi­ne­si­scher Schrift­zei­chen, so scheint die­ser Vor­gang nicht all­zu unge­wöhn­lich. Mor­gen­stern ver­weist in den Anmer­kun­gen zu die­sem Gal­gen­lied unter sei­nem Pseud­onym Dr. Jere­mi­as Mül­ler sati­risch auf die­sen Sachverhalt:

Man nimmt sogar an, unse­re Vor­fah­ren
hät­ten unser gan­zes Alpha­bet auf die­se
Wei­se erfun­den: indem sie näm­lich den
lee­ren Raum zwi­schen dem ihnen von
Got­tes Hand […] gege­be­nen A und dem
ihnen eben­so gege­be­nen Z ein­fach in
drei­und­zwan­zig Tei­le teil­ten und
sodann jeden der­sel­ben mit einem
andern Buch­sta­ben zwi­schen A und Z
aus­füll­ten.
(Mor­gen­stern 1972: 55)

Mor­gen­stern wählt jedoch bewusst den absur­de­ren, umge­kehr­ten Vor­gang: Nicht die Buch­sta­ben haben sich in ihrer Gestalt an der Wirk­lich­keit ori­en­tiert. Nein, viel­mehr die Wirk­lich­keit habe sich – auf gött­li­ches Geheiß – der Typo­gra­phie ange­passt. Das Alpha­bet erscheint somit als die pri­mor­dia­le Gestalt der Welt. Die Signi­fi­ka­te tre­ten als Nach­ah­mung der Signi­fi­kan­ten auf. Noch vor dem Wort war am Anfang das Alpha­bet!
Aber Mor­gen­stern stellt die Welt­ord­nung noch wei­ter auf den Kopf: Der Mond ist nicht ein­fach bereits vor­han­den und wird nun auf­ge­for­dert, sich bezüg­lich der Gestalt des Ab- und Zuneh­mens am deut­schen Schrift­bild zu ori­en­tie­ren. Viel­mehr scheint nicht nur sei­ne ein­zi­ge Auf­ga­be, son­dern sein ein­zi­ger Daseins­grund dar­in zu bestehen, der sprach­li­chen Gege­ben­heit eine rea­le Ent­spre­chung beizulegen.

Bleibt zu fra­gen: War­um soll­te der Mond ein völ­lig deut­scher Gegen­stand sein? Natür­lich, weil er der deut­schen Spra­che bzw. der spe­zi­fisch deut­schen Typo­gra­phie nach­ei­fert. Aber ist das der gan­ze Grund? Es ist noch eine ande­re Les­art mög­lich, wel­che die Beto­nung auf die Folg­sam­keit legt: Der Mond scheint nicht dazu gezwun­gen, sich den deut­schen Lesern zu beque­men. Erst „befol­gend dies“, näm­lich sei­nen Beruf, wird er „ein völ­lig deut­scher Gegen­stand“. So könn­te es gera­de jene ‚preu­ßi­sche Tugend‘, die Bereit­schaft zum Gehor­sam, sein, die dem Mond sein ‚deut­sches Wesen‘ ver­leiht. Und was ist Gehor­sam ande­res als die Bereit­schaft, sich dem Wort zu fügen, etwas in die Tat umzu­set­zen, den Lau­ten oder Buch­sta­ben zu einer rea­len Ent­spre­chung zu verhelfen?

Fragt man an die­ser Stel­le wei­ter, woher jener Gehor­sam des Mon­des rüh­re, so wird man von Mor­gen­stern ent­täuscht. Sei­tens Gali­lei aber wäre Rat zu erhof­fen: Der Mond ist jener Tra­bant, der auch nach der koper­ni­ka­ni­schen Wen­de als ein­zi­ger wei­ter­hin um die Erde kreist. Weil die Pla­ne­ten­be­we­gung sich so bes­ser beschrei­ben ließ, wur­de die Erde aus dem Zen­trum des Uni­ver­sums gerückt. An ihre Stel­le trat jedoch weni­ger die Son­ne, als viel­mehr die Mathe­ma­tik. Mit einem Mal nahm sie das Zen­trum des Kos­mos ein, denn ihrer Metho­de der Beschrei­bung war die­ses Welt­bild geschul­det. Fort­an dreh­te sich alles um die Mathe­ma­tik. Dabei küm­mer­te es sie kaum, dass sich das geo­zen­tri­sche Welt­bild mit Wor­ten – derer sich auch die Theo­lo­gie bedient – sehr gut beschrei­ben ließ.

Mor­gen­stern bringt mit sei­nen Gal­gen­lie­dern – denen auch Der Mond ange­hört – ein drit­tes Welt­bild ins Spiel, wenn er schreibt:

Die Gal­gen­poe­sie ist ein Stück
Welt­an­schau­ung. Es ist die skru­pel­lo­se
Frei­heit des Aus­ge­schal­te­ten,
Ent­ma­te­ria­li­sier­ten, die sich in ihr
aus­spricht. […] ein Gal­gen­bru­der ist
die benei­dens­wer­te Zwi­schen­stu­fe
zwi­schen Mensch und Uni­ver­sum. Nichts
wei­ter. Man sieht vom Gal­gen­berg die
Welt anders an, und man sieht and­re
Din­ge als And­re.
(Mor­gen­stern 1977: 14 f)

Für einen Gal­gen­bru­der ist eher die Welt für die Wor­te da; nicht umge­kehrt. Mor­gen­stern ent­wi­ckelt ein poe­to­zen­tri­sches Welt­bild. So kauft er sowohl der Mathe­ma­tik als auch der Theo­lo­gie, die ihr Welt­bild immer wie­der an der Wirk­lich­keit mes­sen müs­sen, den Schneid ab. Bei Mor­gen­stern wird die Welt an der Poe­sie gemessen.

Doch eben­so wenig wie bei jedem ande­ren Welt­bild darf man in den Glau­ben ver­fal­len, es gebe einen Zusam­men­hang zwi­schen Bild und Welt: „Wo sol­cher Witz sich erns­ter nimmt als ein Wort­spiel, liegt ihm der meta­phy­si­sche Gedan­ke zugrun­de, daß letzt­lich alles mit allem zusam­men­hängt“ (Gabri­el 1996: 12). Man rufe sich in Erin­ne­rung, dass der Mond eben­so wenig ab- und zunimmt, wie die Son­ne auf- und unter­geht. Die Wor­te beschrei­ben ledig­lich, wie wir sehen. Es sind For­mu­lie­run­gen die aller Mathe­ma­tik zum Trotz auch nach bei­na­he 400 Jah­ren nicht aus der Spra­che zu ver­trei­ben waren. Esels­brü­cken reprä­sen­tie­ren kein Ver­hält­nis von Zei­chen und Wirk­lich­keit, doch sie beschrei­ben die regel­kon­for­me Anwen­dung von Zei­chen auf die Wirk­lich­keit. Und wäh­rend bei der Esel­brü­cke nur weni­ge an eine onto­lo­gi­sche Ver­bin­dung glau­ben, ren­nen doch zahl­lo­se ‚Esel‘ über die Brü­cke des Kausalnexus.

Dich­ter, wel­che nun mei­nen, mit dem poe­to­zen­tri­schen Welt­bild eine grif­fi­ge Voka­bel zur Hand zu haben, mit­tels derer sie den spon­ta­nen Gefühls­aus­druck über den streng geführ­ten Gedan­ken stel­len dür­fen, sei­en vor­sorg­lich abge­watscht: Die Gal­gen­poe­sie for­dert vom Gal­gen­bru­der nicht weni­ger, als sich – wie sei­ner­zeit Gali­lei – gegen das herr­schen­de Welt­bild zu stel­len und sich für die eige­ne Ansicht bis zum Richt­platz – dem Gal­gen­berg – schlep­pen zu las­sen. Der Poet muss sich an sei­ner Poe­sie mes­sen las­sen. Hier haben schon Grö­ßen wie Gali­lei kal­te Füße gekriegt.

Wie aber ist gemäß Mor­gen­sterns poe­to­zen­tri­scher Welt­sicht der fol­gen­de Edi­ti­ons­feh­ler der Gal­gen­lie­der-Aus­ga­be von 1972 zu bewerten?

Der Mond 1972
(Mor­gen­stern 1972: 55)

Der iko­ni­sche Wert der deut­schen Kurr­ent­schrift wur­de nicht erkannt; das A und das Z wur­den in latei­ni­schen Majus­keln abge­druckt. So wie das geo­zen­tri­sche Welt­bild den mathe­ma­ti­schen Ansprü­chen an die Über­sicht­lich­keit einer Beschrei­bung der Pla­ne­ten­bah­nen geop­fert wur­de, wur­de der Sinn des Gedich­tes in die­ser Mor­gen­stern­aus­ga­be der Leser­lich­keit geop­fert. Der pas­sio­nier­te Mor­gen­stern-Leser mag die­se Ände­rung als edi­to­ri­sche Fahr­läs­sig­keit, wenn nicht gar Igno­ranz anse­hen. Mor­gen­stern selbst hät­te dem Her­aus­ge­ber wohl gütig ver­zie­hen und die Unacht­sam­keit als hoch­her­zi­gen Ver­such aus­ge­legt, den Mond in die Pflicht zu neh­men, sich der inzwi­schen gebräuch­li­che­ren latei­ni­schen Typo­gra­phie anzupassen.

Lite­ra­tur­ver­zeich­nis:

Buß­mann, Hadu­mod: Ein­trag „Alpha­bet“. In: dies.: Lexi­kon der Sprach­wis­sen­schaft. Stutt­gart 1983, S. 83.

Gabri­el, Gott­fried: Ästhe­ti­scher ‚Witz‘ und logi­scher ‚Scharf­sinn‘. Zum Ver­hält­nis von wis­sen­schaft­li­cher und ästhe­ti­scher Welt­auf­fas­sung. Erlan­gen, Jena 1996.

Gali­lei, Gali­leo: Il Sag­gia­to­re. Rom 1623.

Mor­gen­stern, Chris­ti­an: Alle Gal­gen­lie­der. Gal­gen­lie­der, Palm­ström, Pal­ma Kun­kel, Ging­ganz. Leip­zig 1977.

Mor­gen­stern, Chris­ti­an: Sämt­li­che Dich­tun­gen. Bd. 6. Hg. v. H. O. Pros­kau­er. Basel 1972.

Das poetozentrische Weltbild

Tobi­as Krü­ger stu­dier­te Ger­ma­nis­tik, Geo­gra­phie, Ethik und Ethik der Text­kul­tu­ren. Seit 2011 ist er Mit­ar­bei­ter am Lehr­stuhl für Neue­re deut­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Augs­burg und arbei­tet an einem Dis­ser­ta­ti­ons­pro­jekt über nar­ra­ti­ve Erkennt­nis­mo­del­le in Seefahrtserzählungen.