Die Dinge

Du betrachtest gerade Die Dinge

© Blau­druck: Fabi­an Schwankhart

von Martha Baer

Als ich in den Tagen danach durch dei­ne Woh­nung ging, war sie nicht leer. Sie war voll von Din­gen, in denen dein Leben hing. Die Jah­re pur­zel­ten aus den Bücher­re­ga­len, aus den Bade­zim­mer­schrän­ken, ström­ten zwi­schen den Sai­ten des geöff­ne­ten Flü­gels her­vor, und auf der Ober­flä­che des Spie­gels im Wohn­zim­mer hat­te sich dein Lächeln fest­ge­setzt. Ers­te zar­te Staub­flu­sen leg­ten sich auf dei­ne Jugend im Klei­der­schrank. In den Fal­ten des Man­tels, den du seit 2006 nie mehr getra­gen hast, roch ich dei­ne Trau­er, und die Taschen­tü­cher, die aus dei­nen Ruck­sä­cken und Beu­teln her­vor­quol­len, tru­gen das Zit­tern dei­ner klei­nen Hän­de. In dem Her­zen des Stoff­ha­sen schlug dei­ne Lie­be. Dei­ne hun­dert Lip­pen­stif­te, über­all in der Woh­nung ver­teilt, zogen dein Lachen nach, das durch die Räu­me schweb­te. Dei­ne Haar­span­gen waren auch im Lie­gen asym­me­trisch ange­ord­net, und Richard Wag­ner lächel­te gequält im Flur.

Dein Sam­mel­su­ri­um von Gegen­stän­den warf Schlag­lich­ter, anstatt eine Geschich­te zu erzäh­len. Vie­le Din­ge oder Bücher hat­test du dop­pelt oder drei­fach, etwas weg­ge­schmis­sen hast du nie. Zwi­schen der Ruder­ma­schi­ne, den Kris­tal­len, den Dalí-Kunst­dru­cken, den Knie­strümp­fen, den Filz­stif­ten und den Kuschel­tie­ren, an denen rote Haa­re hin­gen, warst du der Zusam­men­hang. Die Woh­nung aus­zu­räu­men bedeu­te­te, dein Wesen zu durch­pflü­gen. Dei­ne Ver­haf­tung in den Din­gen war bei­spiel­los. Dein zuneh­men­der Wunsch, dein Leben unmit­tel­bar vor Augen zu haben, ließ dei­ne Bal­lett­schu­he, die nun schon seit Jahr­zehn­ten unbe­wegt an der Tür­klin­ke hin­gen, sprö­de wer­den. Wo die Zeu­gen ris­sig wur­den, blät­ter­te auch dei­ne Erin­ne­rung ab.

Ich mach­te neben dem Bett einen Hau­fen mit den Gegen­stän­den, die du in den letz­ten Wochen immer um dich haben woll­test. Abge­grif­fen von dei­nen stän­dig suchen­den Hän­den lagen dort der Stoff­ha­se, ein schwar­zer Haar­reif aus Plas­tik, drei Packun­gen Taschen­tü­cher, eine Ket­te aus grü­nen Kunst­stei­nen, zwei Aus­mal­bil­der und die herz­för­mi­ge Schach­tel mit dei­nen Rin­gen. Ich setz­te mich zu den Din­gen und atme­te den Film ein, der auf ihnen lag.

 

Zurück an mei­nem Schreib­tisch schlug ich mein Notiz­buch auf. Die Sät­ze, die mir ent­ge­gen­tra­ten, tra­fen mich selt­sam fremd. In ihnen gab es kei­ne Stoff­ha­sen, kei­ne schie­fen Haar­span­gen, kei­ne Trau­er in Man­tel­fal­ten. Ich woll­te immer der Ansicht sein, dass sie auf etwas Grund­le­gen­de­res abziel­ten, aber ich hät­te sie dir, die du doch am Grun­de von allem lagst, die du doch so lagst, wie man tie­fer im Leben nicht lie­gen kann, nie ver­ständ­lich machen kön­nen. Ich hät­te Bei­spie­le gebraucht, und die hät­te es nicht gege­ben, oder ich hät­te ande­re Wor­te gebraucht, und auch die hät­te es nicht gege­ben, und dann hät­te ich gemerkt, dass wir in Bezug auf das Grund­le­gends­te ande­re Spra­chen spre­chen, und hät­te über­se­hen, dass wir den­noch gleich füh­len, dass wir das Glei­che anders aus­drü­cken, im Sein und im Den­ken, dass wir bei­de am Grun­de von irgend­et­was lie­gen, mit offe­nen Augen und offe­nen Armen.

Wäh­rend ich neue Wör­ter lern­te, ist dir die Spra­che aus­ge­gan­gen. Ich schrieb Voka­beln in mei­ne Schul­hef­te, dir ent­glit­ten sie nach und nach. Ich lern­te Latein, Eng­lisch, Spa­nisch, Fran­zö­sisch und Ita­lie­nisch, du ver­lern­test Deutsch. Mit unge­heu­rer Lust stemm­te ich gegen die Gren­zen mei­ner Welt, dei­ne ver­eng­te sich zu immer glei­chen Erzäh­lun­gen, dann Sät­zen, dann Wor­ten. Wie fin­det man sich zurecht in einer Land­schaft, die von Stra­ßen durch­pflügt ist, die stän­dig ihre Rich­tung ändern, ihre Brei­te, ihre Befahr­bar­keit? Auto­bah­nen wer­den zu Tram­pel­pfa­den, die im Erd­bo­den ver­sin­ken. Gan­ze Städ­te ver­schwin­den und mit ihnen das Ende der Stra­ße und mit ihnen die Stra­ße. Wo es kei­ne Stra­ßen mehr gibt, gibt es nie­man­den, der sie befährt. Viel­leicht gibt es die zögern­de Gestalt, die unschlüs­sig in die Ebe­ne blickt, dort­hin, wo die Wege ver­blass­ten, und sich, man­gels ande­rer Alter­na­ti­ven, auf den stau­bi­gen Boden setzt und dort im schlimms­ten Fall ver­zwei­felt, im bes­ten Fall grund­los selig lächelt, oder bei­des zugleich.

Wir haben ver­sucht, Land­kar­ten zu zeich­nen und für dich zu erhal­ten, sodass wir dir bei Bedarf den Weg wei­sen konn­ten. Wir haben Stra­ßen umbe­nannt, das Gefäl­le ange­passt und auf Jah­res­zei­ten ver­zich­tet. Durch stän­di­ge Umbau­maß­nah­men ver­such­ten wir, zumin­dest die Auto­bah­nen in Schuss zu hal­ten. Die Bau­stel­len am Weges­rand ver­wirr­ten dich, auch wenn du ver­such­test, sie mit allem, was du hat­test, zu über­spie­len. Immer mehr Tank­stel­len muss­ten auf­grund von Per­so­nal­man­gel schlie­ßen. Der Ver­such, Fach­kräf­te aus dem Aus­land anzu­heu­ern, ver­sag­te – sie fan­den den Weg nicht, es war nicht ihre Spra­che. Oft wuss­ten wir nicht, wo in der zer­pflüg­ten Land­schaft wir nach dir suchen soll­ten. Irgend­wann gab es nicht mehr vie­le Mög­lich­kei­ten, aber den­noch fan­den wir dich nicht, oder wir fan­den dich zer­streut und an unter­schied­li­chen Stel­len fest­ge­setzt und hat­ten Mühe, dich zu sam­meln. Unse­re Kar­ten ver­sag­ten ange­sichts der erra­ti­schen Neu­aus­rich­tung der Koor­di­na­ten, die für dich selbst am undurch­sich­tigs­ten war. Wir behiel­ten das Gefühl für die ver­blie­be­nen Wege bei, die nur­mehr in einem flui­den Ver­hält­nis der Asso­zia­ti­on sowie des Zufalls zuein­an­der stan­den, wel­ches sich jeg­li­cher Fixie­rung ent­zog. Die der­art los­ge­löst im Raum schwe­ben­den Wege wur­den von dir in guten Momen­ten gepflückt wie Trau­ben, die einem vom Him­mel gereicht wer­den; dann reih­test du zufrie­den die Wor­te anein­an­der, fädel­test sie auf zu jener dir von oben dar­ge­reich­ten Ket­te, und alle waren stolz auf dich. An ande­ren Tagen zogen die Sät­ze unge­nutzt und unbe­merkt an dir vor­bei, und an eini­gen Tagen sahst du sie dahin­zie­hen und woll­test nach ihnen haschen und spür­test die Läh­mung in dei­nen Glie­dern und die Hilf­lo­sig­keit und das Entgleiten. 

 

Am Abso­lu­ten, Kla­ren, Unbe­schreib­ba­ren biegt sich der Spa­ten zurück – aber nicht immer im glei­chen Bogen. (Die­sen Bogen beschreiben.) 

 

Sol­che Sät­ze sind mei­ne Stoff­ha­sen, dach­te ich und schloss mei­nen Fül­ler wie­der. Eigent­lich hat­te ich etwas auf­schrei­ben wol­len, etwas sehr Ein­fa­ches, habe es über das Lesen mei­nes letz­ten Sat­zes dann aller­dings ver­ges­sen. Wir waren gleich in der Welt, aber du warst mehr in den Din­gen, mur­mel­te ich und dreh­te die Fül­ler­kap­pe im Uhr­zei­ger­sinn. Ich erin­ne­re die Art und Wei­se, wie dei­ne Hän­de auf dem Stoff­ha­sen lagen, nicht die Wor­te, die unge­nutzt an dir vor­über­zo­gen Tag für Tag. Ich klapp­te mein Notiz­heft zu und leg­te es wie­der in die Schreibtischschublade.

Mar­tha Baer wur­de 2002 in Mün­chen gebo­ren und stu­dier­te dort Kunst­ge­schich­te (MA) und Phi­lo­so­phie. Sie inter­es­siert sich für Syn­er­gie­ef­fek­te zwi­schen ihrem aktu­el­len Mas­ter­stu­di­um der Theo­re­ti­schen Phi­lo­so­phie an der LMU, ihrem Stu­di­um der Frei­en Kunst (Bild­haue­rei) an der AdBK Mün­chen sowie ihrem seit jeher aus­ge­präg­ten Inter­es­se für Lite­ra­tur und Schrift. Dies­be­züg­li­che Ansät­ze ver­folgt sie ger­ne im Aus­tausch mit ande­ren Schrei­ben­den, etwa 2024 im Rah­men der Baye­ri­schen Aka­de­mie des Schrei­bens oder bei dem 2025 von ihr gelei­te­ten Crea­ti­ve Wri­ting Work­shop „Lite­ra­ri­sche For­men“ auf der Kul­tur­aka­de­mie der Stu­di­en­stif­tung des deut­schen Volkes.