Jo Lendle und der Kosmos

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von Helen Hockauf

 

Jo Lend­le ist Ver­le­ger und Autor. Er kennt den Lite­ra­tur­kos­mos aus vie­len Ecken – und in die­sem ver­or­tet er sei­ne Sub­jek­te. Sei­ne Geschich­ten stel­len jeweils ein Indi­vi­du­um in den Vor­der­grund, sei­ne Erzäh­ler ver­su­chen sich die­sen zu nähern, es bleibt jedoch eine gewis­se Distanz. Die Figur bei Lend­le ist ein eigen­stän­di­ges Indi­vi­du­um, das man eine Zeit lang als Leser beglei­tet. Mit die­sem Bild vom Sub­jekt spielt Lend­le bewusst und zer­stört die ein­zig­ar­ti­ge Indi­vi­dua­li­tät, indem er sei­ner Haupt­fi­gur einen Dop­pel­gän­ger ent­ge­gen­setzt: Lam­bert wird in Was wir Lie­be nen­nen (2013) ‚geteilt‘: Zwei Lam­berts tref­fen nun Ent­schei­dun­gen über sein Leben.

Lend­le hat bis­her vier Roma­ne ver­öf­fent­licht und betreibt auf sei­ner Home­page einen lite­ra­ri­schen Blog. Sein All­tag ist Lite­ra­tur und wenn er es nicht ist, macht er ihn dazu. So gesche­hen beim letz­ten Blog­pro­jekt ‚Kün­di­gung des Tele­fon-/In­ter­net­an­bie­ters‘ mit der „Kun­den­num­mer 104 115 89“. Auf for­mel­le Schrei­ben und Wer­bung reagiert Lend­le lite­ra­risch-humor­voll und zeigt so die poten­ti­el­le Lite­r­a­ri­zi­tät der All­tags­spra­che auf, die sich in for­mel­len Anträ­gen ver­birgt. Damit bricht er die rei­ne Funk­tio­na­li­tät des Geschrie­be­nen auf, das sich immer wei­ter vom Men­schen ent­fernt. Lend­le eröff­net einen neu­en Sprach­kos­mos, indem er die Text­sor­ten überschreitet.

Auf­ge­baut ist das Pro­jekt fol­gen­der­ma­ßen: Lend­le stellt immer nur sei­ne Ant­wort­schrei­ben online. Der Leser erhält dem­nach eine sub­jek­tiv gefärb­te Sicht auf die Gescheh­nis­se. Viel­leicht ist auch alles nur Fik­ti­on? Viel­leicht hat dies daten­schutz­recht­li­che Grün­de. Sie stel­len die ver­fehl­te Kom­mu­ni­ka­ti­on dar. Lend­le, der red­un­dant Kün­di­gun­gen schreibt, um wie­der auf­ge­for­dert zu wer­den, eine Kün­di­gung zu schi­cken und dann wie­der kei­ne Nach­rich­ten erhält, stellt dies durch die ein­sei­ti­ge Lese­wei­se dar und kom­men­tiert dies im Brief vom 30.Mai, 2014: „ – und dann ein­fach: Bäng, Nichts. Stil­le. Reißt ein ganz schö­nes Loch, oder? So jeden­falls geht es mir.“ Amü­sant sind die Brie­fe, sie beinhal­ten alle Gedan­ken und Gefüh­le, die der Leis­tungs­emp­fän­ger Lend­le erfährt. Er ist Teil einer Gemein­schaft, die abhän­gig ist von der Will­kür und den tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten sei­nes Inter­net­an­bie­ters. Aus die­ser Abhän­gig­keit zu gelan­gen – den Pro­vi­der zu wech­seln – stellt sich als lang­wie­ri­ges Unter­fan­gen her­aus. Kaf­ka­esk, wie Lend­le in einem Inter­view betont. In dem vor­hin zitier­ten Brief wirft er dies sei­nen Kun­den­be­ra­tern vor: „Jeder Inter­net­pro­vi­der hat vie­le, vie­le Kun­den. Aber jeder die­ser Kun­den hat nur einen Anbie­ter. Was für ein selt­sa­mes Miss­ver­hält­nis. Es ist, sehen Sie mir den Ver­gleich nach, ein biß­chen wie mit Gott.“ Der Inter­net­pro­vi­der schafft sich sei­nen eige­nen Machtraum im Kos­mos des Inter­nets. Dort aus­zu­stei­gen könn­te auch län­ger dau­ern, als „der Unter­gang unse­res Son­nen­sys­tems“ (Brief vom 13. Juni 2014)

Mit dem Uni­ver­sum hat sich Jo Lend­le bereits in sei­nem ers­ten Roman aus­ein­an­der­ge­setzt. In Die Kos­mo­nau­tin (2008) behan­delt er die Fra­ge nach der Bezie­hung zwi­schen Indi­vi­du­um und Kos­mos. Hel­la, die Haupt­fi­gur, will zum Mond flie­gen. Auf ihrer Rei­se zum Kos­modrom, der Sta­ti­on, die sie in das Welt­all bringt, reflek­tiert sie ihre Ent­schei­dung, ihr Leben hin­ter sich zu las­sen. In Rück­blen­den erzählt sie, wie sie zu die­sem Punkt gekom­men ist. Ihr Sohn ist gestor­ben, nun über­nimmt sie sei­ne Mond­rei­se, um wie­der zu ihm zu gelan­gen. Ihr eige­ner Kos­mos ver­bin­det sich mit dem Uni­ver­sum durch ihre Welt­sicht, die in Par­al­lel­set­zun­gen zum Aus­druck kommt: „Deut­lich stand ihr vor Augen, wie das Leben aus einer nicht enden wol­len­den Fol­ge von Schlei­fen zusam­men­ge­setzt war, die sie Bahn für Bahn wie ein Komet durch­lief, was Sekun­den dau­ern konn­te, wie jetzt, oder Jah­re, wäh­rend derer man glaub­te, sich wei­ter­zu­ent­wi­ckeln […].“ (S. 59) Der eige­ne Kör­per wird als Uni­ver­sum wahr­ge­nom­men; ihre sich fak­tisch voll­zie­hen­de kör­per­li­che Auf­lö­sung im All am Ende des Romans bedeu­tet auch eine kör­per­li­che Zusam­men­füh­rung des Indi­vi­du­ums und des Kos­mos. „Eben war sie noch mit dem Hori­zont ver­bun­den, dann begann ihre Him­mels­fahrt“ (S. 156). Zu die­sem Zeit­punkt gelangt Hel­la an ihr Ziel, zu ihrem toten Sohn. Die Rei­se und der Auf­ent­halt in der Sta­ti­on, die Lie­be, die sie dort erfah­ren konn­te, haben sie aber auch zu einem neu­en Iden­ti­täts­ge­fühl gebracht – sie, die ihre Iden­ti­tät, ihr ‚Ich‘ wie auf einer Flucht zurück­las­sen wollte.

Jo Lend­le wur­de 1968 gebo­ren und stu­dier­te Kul­tur­wis­sen­schaf­ten und Lite­ra­tur in Hil­des­heim, Mon­tré­al und Leip­zig. Was wir Lie­be nen­nen ist sein vier­ter Roman bei DVA; bis­her sind erschie­nen: Die Kos­mo­nau­tin (2008), Mein letz­ter Ver­such, die Welt zu ret­ten (2009) und Alles Land (2011).