Belfast

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Der Nordirlandkonflikt in den Augen des neunjährigen Buddy

von Ste­ven Gabber

★★★★★

Es gibt bestimm­te The­men­be­rei­che, die eini­ge Hür­den oder gar Gren­zen mit sich brin­gen, wenn man sie zu einem Kunst­werk ver­ar­bei­ten möch­te. Das ist nicht nur der Fall, wenn solch ein Kunst­werk sozia­le Tab­u­fel­der berührt oder gegen raue Sit­ten einer klein­bür­ger­li­chen Gesell­schaft ver­stößt. Manch­mal reicht es schon, wenn sich Kunst eine hoch­emp­find­li­che geschicht­li­che Epi­so­de zum The­ma macht, und schon tritt man als Künstler*in unge­wollt in pro­ble­ma­ti­sche Fett­näpf­chen. Ador­no schrieb einst, dass es „bar­ba­risch“ wäre, „nach Ausch­witz ein Gedicht zu schrei­ben“ und trat eine gan­ze Wel­le an Stel­lung­nah­men frei, die sich kri­tisch mit den Gren­zen von Kunst auseinandersetzten.

Doch war­um muss man als Künstler*in vor sei­nen Auf­ga­ben resi­gnie­ren? Kann es nicht eben­so eine Her­aus­for­de­rung sein, einem beson­ders sen­si­blen Sujet mit eben­so fein­füh­li­gem künst­le­ri­schen Anspruch zu begeg­nen – sprich geschickt allen Fett­näpf­chen aus­zu­wei­chen? Ein hoch­ak­tu­el­les Bei­spiel aus dem Bereich Film zeigt, dass es auch posi­ti­ve Bei­spie­le gibt, die pro­blem­be­haf­te­ten The­men­fel­dern gerecht wer­den kön­nen. Die Rede ist von Bel­fast. Ein Coming-of-Age-Film, der die unschul­di­ge Fami­li­en­ge­schich­te des neun­jäh­ri­gen Bud­dy (Jude Hill) inmit­ten des eska­lie­ren­den Nord­ir­land­kon­flikts 1969 ver­or­tet. Die ästhe­ti­schen Pro­ble­me sind viel­fäl­tig: Wie setzt man bei­de Sei­ten des Kon­flikts in Sze­ne? Wer bekommt die Sym­pa­thie der Zuschauer*innen? Und wie wird man den Opfern gerecht, die die­sem dunk­len Kapi­tel euro­päi­scher Geschich­te erla­gen? Schließ­lich dau­er­ten die soge­nann­ten „Trou­bles“ meh­re­re Jahr­zehn­te an und ver­ur­sach­ten tau­sen­de Todesfälle.

So banal es klin­gen mag, es kann unter die­sen schwie­ri­gen Umstän­den eine posi­ti­ve Grund­vor­aus­set­zung sein, wenn Künstler*innen, Pri­mär­er­fah­rung mit dem gewähl­ten Sujets haben. Sprich, Kunst­wer­ke, die etwa per­sön­li­che Erfah­run­gen ver­ar­bei­ten, genie­ßen dadurch, dass sie ihre Per­spek­ti­ve begren­zen, gewis­se Frei­hei­ten hin­sicht­lich Fra­gen nach Objek­ti­vi­tät und Authen­ti­zi­tät. Im Fal­le von Bel­fast über­nimmt die­se heik­le Auf­ga­be Ken­neth Bra­nagh (Regie, Dreh­buch, Pro­duk­ti­on) – nord­iri­scher All­roun­der aus der Film- und Thea­ter­bran­che, der in sel­bi­ger Stadt gebo­ren und auf­ge­wach­sen ist. „Sein“ Film steht dabei unter einem ein­deu­tig auto­bio­gra­phi­schen Vor­zei­chen, sodass sich die Hand­lung bei Ort, Zeit und Figu­ren zu gro­ßen Tei­len aus Ken­neth Bra­naghs eige­ner Kind­heit bedient. Eine Ent­schei­dung, die vie­le der Fra­gen im Raum bereits beant­wor­tet: Der Film spielt schon ein­mal in einem pro­tes­tan­ti­schen Vier­tel Bel­fasts im Milieu der Arbei­ter­klas­se. Wie will­kür­lich die­se Zuord­nung ist, eröff­net sich im vor­ur­teils­frei­en Blick des neun­jäh­ri­gen Bud­dy. Sei­ne Lebens­welt besteht prin­zi­pi­ell aus sei­ner Fami­lie, die recht anonym und modell­haft mit „Ma“ (Cat­río­na Bal­fe), „Pa“ (Jamie Dorn­an), „Gran­ny“ (Judi Dench) und „Pop“ (Ciarán Hills) ange­spro­chen wird. Der Hand­lungs­ver­lauf dreht sich dar­um, wie die­se Figu­ren mit den wach­sen­den Gewalt­aus­schrei­tun­gen ihrer Umwelt umgehen.

Doch wer glaubt, dass sich der Film auf die­ser Basis bald in einer schick­sal­haf­ten Schock­äs­the­tik ver­liert, täuscht sich. Bel­fast ist schließ­lich kein Kriegs­dra­ma, auch wenn die Aus­schrei­tun­gen zu Beginn des Films in angst­ein­flö­ßen­den Schwarz­weiß­bil­dern das ver­mu­ten las­sen. Rei­ße­ri­sche Gewalt­sze­nen hal­ten sich glück­li­cher­wei­se stark in Gren­zen. Gewalt, so könn­te man sagen, ist viel­mehr die Spra­che von weni­gen radi­ka­len am Ran­de von Bud­dys Lebens­welt. Dazu zählt etwa der anar­chis­tisch anmu­ten­de Unheil­stif­ter Bil­ly Clan­ton, der als Schutz­geld­ein­trei­ber die wach­sen­de Unru­he für sei­ne Zwe­cke miss­braucht. Oder etwa der hass­pre­di­gen­der Pries­ter, der sich gro­tesk in Sze­ne setzt, wenn er sei­ne Fork-in-the-Road-Rede mit „Now, money!“ been­det, ehe er die Klin­gel­beu­tel aus­teilt. Spä­tes­tens an die­ser Stel­le wird klar, dass die Grund­stim­mung des Films nicht tra­gisch, son­dern humor­voll und hei­ter ist. Egal auf wel­cher „Sei­te“ die Figu­ren oder Zuschauer*innen ste­hen – „There’s no ‚our‘ side and ‚their‘ side in our street“, sagt Pa an einer Stel­le –, Humor ver­bin­det zum gemein­sa­men (Mit-)Lachen. Die Figu­ren, etwa Bud­dys Groß­va­ter Pop, der ger­ne mal einen Witz über sei­ne fünf­zig­jäh­ri­ge Ehe mit Gran­ny reißt, sind sym­pa­thisch und laden dazu ein, sich mit ihnen zu identifizieren.

Dadurch ver­lie­ren Schau­platz und Zeit jedoch nicht ihre Glaub­wür­dig­keit und Wich­tig­keit. An zahl­rei­chen Stel­len bre­chen his­to­ri­sche Ele­men­te in die Lebens­welt der Figu­ren ein und beein­flus­sen ihr Den­ken und Han­deln. Das äußert sich nicht nur in tat­säch­li­chen Bege­ben­hei­ten, wie den anschwel­len­den Unru­hen auf den Stra­ßen des seg­re­gier­ten Bel­fasts, son­dern auch in Medi­en­er­eig­nis­sen, so etwa in ein­mon­tier­ten Repor­ta­gen, die die geschicht­li­che Rele­vanz des Gezeig­ten authen­tisch machen und die Hand­lung glaub­haft verorten.

Sum­ma sum­ma­rum bie­tet Bel­fast zwar kei­ne ein­fa­chen Ant­wor­ten für sein kom­ple­xes Sujet – und das ist eine Beson­der­heit im Coming-of-Age-Gen­re –, doch gewährt er sei­nen Zuschauer*innen einen ver­trau­li­chen Ein­blick in eine nord­iri­sche Fami­li­en­ge­schich­te an. Humor anstatt Tra­gik tut der Sache gut und macht die ver­häng­nis­vol­len Ereig­nis­se und Ent­schei­dun­gen, vor denen die Figu­ren ste­hen, ertrag­bar. Der Aus­blick in die Zukunft ist hoff­nungs­voll, denn der Fokus ruht stets auf der Per­spek­ti­ve der Jüngsten.

Bel­fast wird bis auf wei­te­res in diver­sen Kinos vor­ge­führt. (Kino­start: 24.02.2022)