#4 Morels Erfindung von Adolfo Bioy Casares

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von Juli­an Werlitz

Gele­gent­lich wird ja nach die­sem einen Buch gefragt, das man auf eine ein­sa­me Insel mit­neh­men wür­de. Die Ant­wor­ten tin­geln meist zwi­schen Klas­si­ker­nen­nun­gen, der Beteue­rung, man lese ja viel zu viel, um sich auf eines beschrän­ken zu kön­nen, und generv­ter Iro­nie (Umber­to Eco: Tele­fon­buch). Unge­fragt, aber ganz ernst­haft, könn­te ich die Sache immer­hin mit einer War­nung ein­gren­zen: Auf gar kei­nen Fall soll­te man Adol­fo Bioy Casa­res‘ „Morels Erfin­dung“ (1940) ein­pa­cken. Denn der Roman erzählt, in Form eines Tage­buchs, von genau die­ser Versuchsanordnung:

Ein Ver­folg­ter flüch­tet sich auf eine abge­schie­de­ne Pazi­fik­in­sel. Wovor er geflüch­tet ist, bleibt kaf­ka­esk unklar. Er deu­tet an, Opfer eines irrepa­ra­blen Jus­tiz­irr­tums zu sein. Über­be­völ­ke­rung, Umwelt­schä­den und eine Welt, die sich mit „Poli­zei­diens­ten, Aus­weis­pa­pie­ren, Funk­tech­nik und Zoll­sys­te­men“ zu einer Höl­le per­fek­tio­niert habe, sind Gegen­stand sei­ner para­no­iden Gedan­ken­schlei­fen. Dabei scheint die klei­ne Insel der idea­le Zufluchts­ort: sie ist schwer zu errei­chen, das Betre­ten wegen einer rät­sel­haf­ten Krank­heit außer­dem ver­bo­ten. Sogar ein irgend­wie unpas­sen­des Ensem­ble von Gebäu­den gibt es: ein Muse­um, ein Schwimm­be­cken und eine Kapel­le. Dort führt er das Leben eines „über­for­der­ten Ein­sied­lers“, kämpft mit der Nah­rungs­be­schaf­fung und sei­nem Selbst­bild. Er hält alles im Tage­buch fest. Auch das ist aber Quä­le­rei, drückt er sich damit doch nur vor der nöti­gen Schreib­ar­beit, einer Schrift – „Ver­tei­di­gung ange­sichts Über­le­ben­der“, die alles erklä­ren, ja sei­ne Exis­tenz über­haupt recht­fer­ti­gen müsste.

Bioy Casa­res‘ Roman erzählt von Ein­sam­keit. Er tut das aber nicht aus einem psy­cho­ana­ly­ti­schen Zau­ber­kas­ten her­aus oder mit­hil­fe aus­ge­lei­er­ter Meta­phern, son­dern unmit­tel­bar. Er lässt uns mit­ver­fol­gen, was hier einer nur an sich selbst gerich­tet schreibt, der jedoch sein „ICH in Klam­mern setzt“. So gelingt ein Ton, der zugleich düs­ter und humor­voll, ent­lar­vend und ver­ständ­nis­voll, ana­ly­tisch und roman­tisch die Abgrün­de der Iso­la­ti­on zeigt. Zur mensch­li­chen Grund­er­fah­rung wird die­se Iso­la­ti­on gera­de im Ver­such, sie zu über­win­den, eine Ver­bin­dung her­zu­stel­len zum Anderen.

Und so beginnt der wah­re Hor­ror erst, als die Insel plötz­lich, wie aus dem Nichts, von einer fröh­li­chen Grup­pe von Freun­den bevöl­kert scheint. Am Ende ist es eine Lie­bes­ge­schich­te unter Social Distancing-Bedin­gun­gen, die hier eine ewig aktu­el­le Fra­ge der Kunst auf­wirft: Ist die­ses Ich denn wirk­li­cher als die Bil­der, die es sich, durch Tech­nik oder Vor­stel­lung, von ande­ren erschafft? (Oder auch: rote oder blaue Pil­le?) „Morels Erfin­dung“ gibt dar­auf die trau­rigs­te, aber auch die schöns­te Ant­wort, die ich kenne.