Das Diebesgut der Lika Rose

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von Kris­ti­na Beck

Lika erwacht erneut. Als man ihr die Hand­schel­len abstreif­te, fühl­te sie sich erleich­tert, ande­rer­seits war da plötz­lich auch die Angst. Die Metall­fes­sel hat­te ihr eine gewis­se Sicher­heit ver­lie­hen und obwohl sie nicht wuss­te, wel­chen Ver­ge­hens, wenn es denn über­haupt eines gege­ben hat­te, sie beschul­digt wur­de, hat­te sie sich nicht gegen die Fest­nah­me gewehrt. Das wuss­te sie, weil es kei­ne Abrieb­spu­ren an ihren Hand­ge­len­ken gab. „Du darfst gehen“, mein­te der Poli­zist irgend­ei­nes Dienstgrades.

Sie betrat die Stra­ße, ohne den zukünf­ti­gen Weg zu ken­nen. Sie setz­te lang­sam, aber bestimmt einen Fuß vor den ande­ren. Der zeit­li­che Rah­men der Unter­brin­gung war ihr nicht bekannt, ihre Schät­zung belief sich auf drei bis 23 Stun­den. Par­al­lel blick­te sie auf den Doku­men­ten­sta­pel, den man ihr bei der Ent­las­sung aus­ge­hän­digt hat­te. Wo war sie? Und wo war sie auf­ge­grif­fen wor­den? Hat­te jemand jeman­den bei ihrem Anblick alar­miert? Wie­so die Poli­zei? Hat­te sie viel­leicht doch ein Ver­bre­chen begangen?

Sie setz­te sich auf einen kal­ten Stein. Sie nahm das ers­te Papier zur Hand. Gelb­lich. Sie zöger­te. Aber sie muss­te ver­ste­hen, was pas­siert ist.

Der Häft­ling 38.17.67 hat sich … 

Lika erwacht erneut. Ihre Glie­der füh­len sich sehr steif an, als hät­te sie sie tage­lang nicht gerührt. Sie schafft es den­noch, sich irgend­wie auf­zu­raf­fen. Sie sagt sich los vom kal­ten Stein. Links und rechts ein, zwei Arbeits­pas­san­ten, vor ihr ein Schau­fens­ter: „Sil­ber gegen Zahn.“ Ihr Spie­gel­bild ver­stört sie für einen Moment. Glat­ze. Nir­gends Nar­ben. Ihr ist kotz­übel. Sie hat Hun­ger. Sie bewegt sich zag­haft eckig. Und ihr feh­len Zäh­ne, zumin­dest 29, drei hat sie noch. Sie wird ner­vös. Wer soll­te ihr die Zäh­ne klau­en? Und war­um? Aber sie gewöhnt sich schnell an die­ses Gefühl. Sie muss ein­fach nur zum Zahn­arzt. Und die Glat­ze ist auch ok. In ihren roten Kla­ckerschüh­chen stol­ziert sie die Pflas­ter­stra­ße ent­lang. Kli­cker­dik­lack. Krschhh. Sie stol­pert über irgend­je­man­des Füße, fällt aber nicht hin. Sie denkt nach. Alles so weit pas­sa­bel, doch das Pro­blem mit dem Loch im Bauch hat sie noch nicht gelöst. Sie ent­deckt eine Bäcke­rei, die ihr ver­traut vor­kommt. Sie muss eine Stamm­kun­din sein.

Har­ry kennt Lika von hier und da. Sie darf anschrei­ben, ihre Bre­zel ohne But­ter, nur mit Sesam. Einen Eis­tee gönnt sie sich auch, obwohl es nicht son­der­lich heiß ist. Likas Mimik starr, Har­ry beschämt, ohne rot zu wer­den. Er hat ja einen Ruf, den es zu wah­ren gilt. Und raus da.

Lika wird beim Gedan­ken an den Zahn­arzt deut­lich unwohl. Sie muss die übri­gen Zäh­ne noch irgend­wo put­zen. Oder sie erklärt sich. Viel­leicht weiß der Arzt Bescheid? Ein aus­ge­dörr­ter mit­tel­gro­ßer Mann, mit für einen Zahn­dok­tor unge­wöhn­lich gelb­li­chem Gebiss, einem leicht schie­fen Grin­sen auf­ge­quol­le­ner Nase, huscht auf sei­ner Mis­si­on an Lika vor­bei, nicht ohne sie kurz gestreift zu haben. Sie bit­tet den hage­ren, bär­ti­gen Zahn­arzt­hel­fer um einen kurz­fris­ti­gen Ter­min und um eine Zahn­bürs­te. Er gewährt ihr bei­des. Er öff­net eine Schub­la­de, auf der „Lika, 38.17.67, Dia­gno­se: Sil­ber, Behand­lung: Zahn“ in seri­fen­lo­sen Let­tern geschrie­ben steht. „Lady Rose, bit­te benut­zen Sie die Toi­let­te auf der hin­te­ren Sei­te des lin­ken Ost­flü­gels. Da steht alles bereit.“ Sie wider­setzt sich mit kei­nem Ton der har­schen Emp­feh­lung und wen­det sich nach Osten. „Lie­be, lie­be Lika, war­um hast du dich so gehen las­sen, dich ver­kro­chen, so still und lei­se? Ich ver­zei­he dir, dei­nen Sprung, dei­ne Absicht, dei­ne Mas­ke. Was ich dir nicht ver­ge­ben kann, ist die Weg­nah­me des einen Schlüs­sels, des ein­zi­gen Grals, des ein­zig­ar­ti­gen Fens­ters. Ich wer­de dich ver­ges­sen, aber das ver­ges­se ich nie.“ Die­ser Gedan­ke klingt wie ein kako­fo­ner Gei­gen­spiel­beg­in­ner, aber es ist Musik in ihren Ohren, stör­risch, aber not­wen­dig. Sie muss, muss ihre Zäh­ne end­lich put­zen. Den Gedan­ken aber nicht wei­chen las­sen. Sie kramt in ihrer Hosen­ta­sche, sie fin­det einen Zettel:

„Als Lösung mach­te es sich zum Affen,

als Garant für treue Begleit­schaft war es schon genau­ge­nom­men verwahrlost.

Ver­grämt und ver­ra­ten glas­klar in der Sinnkrise.

Ein stol­zer Trop­fen einst,

bei­na­he zusam­men mit dem Fel­sen, der die Lie­ben­den beherbergt.

Ver­las­sen und ver­trie­ben in die unwe­gi­gen Abgründe.

Aber wenn du es doch bes­ser weißt, dann mache es nicht so schlecht,

schlimm genug die Ver­leug­nung, die Ver­elen­dung des Gemeinten,

fase­rig die Erin­ne­rung an die beschwo­re­ne Erquickung.

Los­lö­sung abgetaucht.

Und jetzt der Untergrund.“

In Berüh­rung, Juris P.

Wer zum Teu­fel ist die­se Per­son? Viel­leicht der Arzt? Und wenn nicht: Viel­leicht weiß er was. Sie geht wei­ter Rich­tung Osten, Rich­tung Tür. Sie wird schnel­ler, has­ti­ger, atem­lo­ser – und stol­pert erneut. Sie merkt, wie sie jemand an den Haa­ren zie­hen will, aber da gibt es nichts zu zie­hen. Sie bricht in wir­res Geläch­ter aus, was für eine däm­li­che Hand­lung! Sieht man denn nicht, dass ich kahl bin?, denkt sie. Ihr rech­tes Auge ist mitt­ler­wei­le rot vom stän­di­gen Krat­zen. Lika macht trotz­dem wei­ter, sie kratzt lei­den­schaft­lich, schnell, lang­sam, fas­ter, stop. And go! Go! Go! Go! Gooooooooooooood! Ein klei­ner sil­ber­ner Trop­fen kul­lert aus dem Auge. Er ist kalt und hat kei­nen beson­de­ren Geschmack. Die Wun­de ist zu. Sie dreht sich auf den Rücken, kon­trol­liert, ob ihre Zäh­ne da sind. Nein, noch immer nicht. Dar­auf ist Ver­lass. Sie springt auf, schaut in den Spie­gel über dem Wasch­be­cken. Ihr strahlt ein 80er-Jah­re-Model ent­ge­gen, ver­wirrt ist sie nicht. Sie über­prüft die Zahn­la­ge noch ein­mal. Wie gehabt. Sie muss schrub­ben, rei­ben, krei­sen, lei­den. Die drei Backen­zäh­ne sind jetzt rein. Nun ab zum Arzt. Viel­leicht weiß er ja was.

- Lady Rose, wie immer?
- Ich schät­ze. War­ten Sie. Nein, wie immer.
- Sascha, wie immer, bit­te.
- Luka, wie immer, bit­te.
- Lory, wie immer, bit­te.
- Jes­se, wie immer bit­te.
- Schon fer­tig?
- Auf Wiedersehen.

Sie kon­trol­liert.

✓ (Check!)

Den roten Fuß vor den ande­ren. Gemäch­lich. Juuuuris!!! Sie dreht sich um. Wer hat geru­fen? Wo ist die Quel­le, wo ist die Mün­dung? Ihre Schrit­te wer­den schnel­ler, ihr Atem noch mehr, sie läuft, sie rennt, sie hetzt. Sie hält. An der The­ke des Gold­händ­lers wird sie auf­ge­grif­fen. Ihr Auge pocht.

- Wie vie­le möch­ten Sie dafür?
- Wofür?
- Für das Sil­ber?
- Nein. Für Ihre Trä­nen.
- Ich bin nicht trau­rig.
- Das weiß ich nicht.
- Ich bie­te: 29 Zäh­ne.
- ✓ (Check!)

Lika erwacht erneut. Vor ihr glit­zert und fun­kelt es. Ihre Fin­ger­nä­gel sind gepflegt, obwohl ihre Hän­de ihr an die­sem Tage sehr grob­schläch­tig und zugleich fili­gran erschei­nen. Sie nimmt wie selbst­ver­ständ­lich eine Packung Sili­kon, den Pro­p­an­bren­ner und die Küvet­te, um nicht zu ver­ges­sen ein apar­tes Stück­chen Kera­mik aus dem Regal. Sie stellt es der rich­ti­gen Rei­hen­fol­ge auf die The­ke und beginnt mit der Arbeit. Bei Anblick ihres Anblicks in die­sem Spie­gel­saal ertönt aus dem Nichts ein „Juuuuris!!!“ aus dem Hin­ter­zim­mer. Sie erhascht einen kur­zen Wider­hall aus dem Gegen­spie­gel: Ein gro­ßer, schlan­ker, kah­ler jun­ger Mann ver­höhnt sie mit sei­nem sau­be­ren Lächeln. Kling, kling. Eine kah­le Dame betritt das Geschäft …

Kris­ti­na Beck besitzt eine gro­ße Lei­den­schaft für Ver­rät­se­lun­gen. Ihre Geschich­ten funk­tio­nie­ren immer auf zwei Ebe­nen: einer offen­sicht­li­chen und einer abgrün­di­gen. Sie zie­hen uns hin­ein in eine Welt, die zunächst fremd erscheint und am Ende – im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes – unheim­lich ver­traut. Wie ein Traum, viel­leicht ein Alb­traum, der lan­ge nach­hängt, weil sein Per­so­nal, sei­ne Sym­bo­le, sei­ne Atmo­sphä­ren sich fest­set­zen. Was Becks Erzäh­lun­gen neben dem Inhalt­li­chen zu einem beson­de­ren Erleb­nis machen, ist ihr fei­nes Gespür für das Klang­li­che. Spra­che wird hier ernst genom­men, Wör­ter und Wen­dun­gen wer­den in ihrer Mehr­deu­tig­keit aus­ge­lo­tet. Beck ver­mag es, den Leser stol­pern zu las­sen, tau­meln und immer wie­der ein neu­es Gleich­ge­wicht zu suchen. Man muss wach­sam sein bei die­sen Tex­ten, auf der Hut –  dar­in liegt ihr erzäh­le­ri­sches Geschick und der gro­ße Lesereiz.

 

Geschrie­ben von Jan Valk.