Das Sandmädchen

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von Veronika Raila

Vater und Mut­ter, Eigen­tums­woh­nung mit Gar­ten und Pool gekauft, Tages­mut­ter enga­giert, Baby zur Welt gebracht. Bis jetzt läuft alles wie geschmiert.

Baby war aus Sand, gro­ßer grob­kör­ni­ger Sand, konn­te man nicht anfas­sen, weil man Angst hat­te, das Weni­ge, was es zusam­men­hält, brö­selt aus­ein­an­der. Der Sand schrie, es gab nur Trä­nen, die den zer­brö­sel­ten Sand wie­der zusam­men­bu­ken, in der Hit­ze der Nacht.

Ers­tes Gespräch: „Was haben sie da in der Schwan­ger­schaft gemacht?“ Negre­do — schwarz wie die Nacht, tie­fes Fal­len, nie­mals auf­schla­gen, niemals.

Nächs­tes Gespräch: „Sieht nur so aus, als ob Kind aus Sand wäre, ist aber nicht so.“ Licht, hel­les Licht. Steigen.

Gespräch: „Kind wird mei­ner Mei­nung nach nur im Rol­li sit­zen und Augen ver­dre­hen“. Schwarz wie die Nacht, Abbruch.

„Wo ist Licht, wo wenigs­tens Feu­er um sich dar­an zu wär­men, um aufzutauen?“

„Lie­be Mama, siehst du mich denn nicht, siehst du nur den Sand, bit­te gra­be, gra­be, gra­be nach mir, ich habe mich nicht ver­steckt, ich lie­ge unter dem Kies. Suche mich, suche mich.“

Trus­ka­wetz: Far­ben, For­men, Gerü­che ver­men­gen sich zu einer Ein­heit, der Pro­fes­sor ringt mit dem Sand auf mei­ner Ober­flä­che. Das Feu­er tritt aus, er bringt es zum Bren­nen, zuerst lich­ter­loh, dann schwächt sich die Flam­me ab, aber sie brennt auch in mir. Ich kann gefun­den wer­den, der Feu­er­schein erhellt die Nacht.

Lie­ge auf dem Bauch. Spas­tisch beton­te Athe­to­se, Bauch tut weh, aber Licht kommt ins Dun­kel. Licht, auf dass man mich fin­den möge, fin­den kann.

Da wo das Kraut wächst kom­me ich zur Ruhe – Fil­derhaus­kli­nik — nicht ganz so herb, aber Ruhe, die Stür­me um mich her­um legen sich, bege­ben sich zur Ruhe.

Der Kopf wird kla­rer, ich kann durch­at­men, erken­ne mich, zwar dun­kel, aber die Umris­se sind da.

Jemand, eine dicke, dunk­le Ton­ne sag­te: „Brr, igitt! Das Kind ist eine Null­num­mer, ist Sand wird immer Sand blei­ben, nichts zu machen, außer als Sanduhr“.

Lei­tung nach außen fast ver­lo­ren, aber da kommt Mama ins Spiel, eine vor Wut schäu­men­de, eine rie­si­ge Büf­fel­her­de vor sich her­trei­ben­de, herz­rei­ben­de Mama, die sel­ber glüht, pflüg­te sich den Weg zu mir durch. Sie kam an!

Die­ser Moment war der glück­lichs­te in mei­nem Leben. Mama schaff­te es. Durch den Sand durch­zu­kom­men und mir das Schrei­ben bei­zu­brin­gen. Wir kämpf­ten bei­de, jeder auf sei­ne Wei­se. Ich sorg­te dafür, dass sich Wör­ter in Buch­sta­ben ver­wan­del­ten, die dann ein­zeln auf mei­nem Arm hin­un­ter­spa­zie­ren konn­ten, in die Fin­ger flos­sen und auf dem Papier lan­de­ten. Mama sorg­te dafür, mei­nen Impul­sen Raum zu geben. Zeit gab sie mir, mei­nen Tonus, naja bes­ser gesagt, mei­ne Toni in den Griff zu bekom­men. Licht war jetzt da, die Dun­kel­heit wur­de erhellt, ich hat­te zwar noch eine undeut­li­che, aber schon sehr wahr­nehm­ba­re Kon­tur. Jetzt erst bemerk­te ich eine gewis­se Weich­heit im Aus­druck, eine Leich­tig­keit und Eleganz.

In der Schu­le mutier­te die­se Ele­ganz wie­der zu einem Stak­ka­to. „Du neh­men Stift in Hand – du kön­nen das nicht – Kind ist dumm“. Dun­kel­heit um mich rum.

Aber am Abend stieg der sil­ber­ne Mond wie­der zum Him­mels­zelt hin­auf, sanf­te Töne erklan­gen, die Musik kün­de­te von einer Zeit, als noch Rit­ter, Burg­fräu­lein und Alchi­mis­ten die Köp­fe der Schrei­ber inspi­rier­ten, von einer Zeit, die Begrif­fe wie Treue, Ehre und die Lie­be noch hoch hiel­ten. Am Tag war es Dun­kel wie in der Nacht, abends stieg dann die Sichel des blei­chen Mon­des zu mir her­ab und leuch­te­te mein Antlitz.

Ande­ren lach­te ich tags­über ins Gesicht, mit der Über­le­gen­heit des Narrenkappenträgers.

Sind Nar­ren nicht die sehen­de­ren Men­schen? Nar­ren sind Ver­rück­te und Ver­rü­cker in einer Per­son. Nar­ren ist bewusst, dass sie eine ande­re Sicht­wei­se auf Erschei­nun­gen haben, drü­cken sie die­ses aus, ver­rü­cken sie damit auch die Sicht­wei­se der ande­ren. Sie wis­sen, dass sie einen Man­gel haben, durch die­sen Man­gel sind sie prä­de­sti­niert, Din­ge anders zu sehen, einen ande­ren Blick­win­kel ein­zu­neh­men. Ihre Rea­li­tät ist nicht die der so genann­ten „Nor­ma­len“. Sie sehen viel­mehr einen ande­ren Aus­schnitt aus der Wirk­lich­keit, lei­der war mir dies damals noch nicht bewusst. Des­halb lagen pau­sen­los Fra­gen in der Luft – kei­ne Ant­wort bekom­men, weder die Ande­ren, noch ich, da die Zeit immer noch sehr fins­ter war.

Auf Sand kann man gut bar­fuss lau­fen – mit Öl funk­tio­nie­ren nur Maschi­nen gut.

Sze­nen­wech­sel. Neue Schu­le – neu­es Glück.

Die Tage wur­den so hell wie die Nacht. Es war ein wun­der­ba­res Gefühl dazu­zu­ge­hö­ren, bis die schwar­ze Ton­ne wie­der­kam und sprach: „Kind muss kön­nen selbst­stän­dig mit Com­pu­ter schrei­ben, sonst zurück zu alter Schu­le“. Die­ses Schwarz klam­mer­te mich, zog mich hin­ab, auf den Grund eines ver­ges­se­nen Brunnens. 

Aller­dings hat­te nie­mand mit der Kraft mei­nes  Schutz­en­gels gerech­net. Die­ser Gabri­el hat­te ein silb­ri­ges Gewand, ein flam­men­des Schwert und eine Durch­schlags­kraft von vie­len galak­ti­schen Einheiten.

Ich kam auf das Gym­na­si­um. Dort wur­de mei­ne san­di­ge, teil­wei­se schon ver­stei­ner­te Ober­flä­che Stück für Stück, nein bes­ser Körn­chen für Körn­chen abge­rie­ben. Da bin ich zu mir gekom­men, habe selbst gehol­fen, die Haut zu waschen, und an der lau­en Som­mer­luft trock­nen zu lassen.

„Frü­her warst du der Sand im Getrie­be, heu­te bist du der Sand, auf dem ich gut bar­fuss lau­fen kann, es ist, als ob ich nach Chi­na gehe, jetzt aber dafür einen immer­wäh­ren­den Sand­strand habe.“

Eigent­lich spü­re ich hier mei­nen Kör­per zum ers­ten Mal rich­tig gut. Ich konn­te mich in ihm aus­deh­nen. Ich war ange­kom­men in der Mit­te der Klas­se, war kein Außen­sei­ter mehr. Lang­sam kam Eos mit ihren rosi­gen Fin­gern, lock­te mich wei­ter zu gehen, wei­ter, immer wei­ter, bis der Mor­gen anbricht.

Und die Mor­gen­frü­he, das ist mei­ne Zeit,

wenn die Win­de um die Ber­ge singen,

denn die Son­ne macht dann die Täler weit,

und das Leben,

ja das Leben …

Das Leben ist eine wun­der­ba­re Sache, wenn man es leben kann. Und man über­legt, wie man die Mor­gen­rö­te, das Ver­spre­chen des Lebens, fest­hal­ten kann. Ich hal­te die rosi­gen Fin­ger der Eos fest, las­se sie nicht mehr los. Das Leben ist ein Ver­spre­chen, ein Ver­spre­chen zwi­schen dem Schick­sal und der Wirk­lich­keit. Das Schick­sal ver­spricht eine Erlö­sung in der Wirk­lich­keit, wir dür­fen unser Schick­sal aus­trin­ken aus dem Becher der Hoff­nung, für man­che sieht mein Becher deut­lich nach Schier­ling aus, es sieht aber nur even­tu­ell so aus, er ist es nicht.

Aber was wird aus euch? Maschi­nen, nur Maschi­nen benö­ti­gen Öl. Ich muss mei­nen Sand abklop­fen, um in mein Leben zu tre­ten. Was macht ihr mit dem Sand, den ich über­all ver­streue? Fin­det Ihr ihn? Baut ihr ihn ein, oder stört er nur eure Funk­ti­on? Im schlüpf­ri­gen Getrie­be des Mensch­seins mutie­ren vie­le zu Stahl, am bes­ten V2A — Stahl, für das immer wäh­ren­de Räder­werk. Es muss am Lau­fen gehal­ten wer­den, immer lau­fen, für man­chen ist die Rich­tung egal. Klack, klack, ein Zahn fällt auf den ande­ren, ein Zahn treibt den ande­ren vor­an, oder vor sich her. Also kann ein Zahn allei­ne nichts vor­an­trei­ben, nur in der Men­ge kommt die Maschi­ne­rie der moder­nen Gesell­schaft ins Lau­fen, ent­wi­ckelt sich von Men­schen zu einem Kon­glo­me­rat aus Lei­bern, die durch das Vor­an­trei­ben auf­ein­an­der gepresst und gequetscht wer­den, so dass kein Hauch Leben mehr dazwi­schen passt.

Ich wer­de wie­der zu Sand, wenn ich auf dem ver­dreh­ten Tisch lie­ge, und der Toten­grä­ber eine Schau­fel Erde auf mich legt. Auf mei­nem Stein steht dann geschrieben:

„War aus Sand, wur­de wie­der dazu“.

Die­ser Text wur­de für den Baye­ri­schen  Rund­funk anläss­lich des Autoren­wett­be­werbs der Redak­ti­on “on3” 2010 geschrie­ben und erhielt den 1. Preis.

Vero­ni­ka Rai­la, 1992 in Augs­burg gebo­ren muss­te schon immer alles auf­schrei­ben, was sie zu sagen hat­te.  Nach einer ver­kürz­ten Gym­na­si­al­zeit fing sie an der Uni Augs­burg an, Neue­re deut­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaf­ten und katho­li­sche Theo­lo­gie zu stu­die­ren. Bald gab es auch ers­te Ver­öf­fent­li­chun­gen und Prei­se für ihr Schrei­ben (Medi­en­echo & Prei­se). Nach der Bache­lor­ar­beit wid­me­te sie sich voll und ganz ihrem auto­bio­gra­phi­schen Film „Das Sand­mäd­chen“, der Prei­se in der Kurz­ver­si­on und eini­ge in der Lang­ver­si­on (Sand­mäd­chen – Ein Doku­men­tar­film von Mark Michel und Vero­ni­ka Rai­la) erhielt. Danach kehr­te sie an die Uni zurück, um ihre Stu­di­en fort­zu­set­zen. Lite­ra­risch sind ihre Arbei­ten meist im phan­tas­ti­schen Rea­lis­mus anzu­sie­deln. Kaf­ka hat sie immer unglaub­lich inspi­riert, dane­ben Botho Strauß und die Lek­tü­re der mit­tel­al­ter­li­chen Hel­den­ge­schich­ten. Soll­te sie ein­mal nicht schrei­ben oder lesen, frönt sie dem Malen, dem Malen ihrer inne­ren Bilder.