„denn Wirklichsein, bedeutet von Geheimnis umgeben zu sein“

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© Ver­lag Matthes & Seitz Berlin

Zu Joshua Groß „Entkommen“

von Leo Blumenschein

Joshua Groß will ent­kom­men, ent­kom­men aus einer „klaustrophobische[n] Gegen­wart“. In meh­re­ren epi­so­den­haf­ten Erzäh­lun­gen, die lose mit­ein­an­der ver­bun­den sind, unter­nimmt Joshua Groß den Ver­such eines Aus­bruchs aus einer prä­sen­ti­schen und unter dem Pri­mat der Logik ste­hen­den Rea­li­tät: Da ist das post­apo­kal­py­ti­sche Land Elek­tro­luchs, in dem sich Men­schen mit Tie­ren gene­tisch (und see­lisch) ver­bin­den, da gibt es eine Schlä­ge­rei an der Sei­te von Toni Pols­ter oder den tele­ki­ne­ti­schen Wrest­ler Alche­mist Teaz. Die Spann­brei­te der Geschich­ten ist fast genau­so groß wie die Anzahl der zitier­ten Namen: Don­na Hara­way, Lil Way­ne, Vero­ni­ca Fer­res, Tho­mas „Thom­my“ Bern­hard oder Lud­wig Witt­gen­stein sind nur eini­ge weni­ge der Figu­ren, die teil­wei­se so nah bei­ein­an­der auf­tau­chen, dass sie im Fall von A$AP Rocky und Michel Fou­cault sogar mit­ein­an­der korrespondieren:

„A$AP Rocky: „Ich war­te doch nur dar­auf, dass sich mir die Bedeu­tun­gen offen­ba­ren, ist das nicht auch romantisch?“

Fou­cault: „Wir müs­sen uns nicht ein­bil­den, dass uns die Welt ein les­ba­res Gesicht zuwen­det, wel­ches wir nur zu ent­zif­fern haben.“

Sel­ten gelingt die Ver­schmel­zung von pop­kul­tu­rel­len und bil­dungs­bür­ger­li­chen Refe­ren­zen so spie­le­risch und natür­lich wie in ‚Ent­kom­men‘. Rea­lis­ti­sches und Sur­rea­lis­ti­sches, Bekann­tes und Unbe­kann­tes, fik­ti­ve Cha­rak­te­re und real exis­tie­ren­de Per­so­nen ver­bin­den sich mit­ein­an­der und son­dern sich wie­der ab.

 

Erst mit etwas Abstand erkennt man, dass all die­se Figu­ren und Moti­ve in einem stän­di­gen Dia­log mit­ein­an­der ste­hen. Das The­ma: Die Wirk­lich­keit der Wirk­lich­keit: Und auch wenn das Grau der Stadt Erlan­gen panisch ver­sucht, eine evi­denz­ba­sier­te Rea­li­tät zu ver­tei­di­gen, trop­fen doch immer mehr traum­ar­ti­ge Gebil­de in jene Rea­li­tät: Aber viel­leicht ist „traum­ar­tig“ der fal­sche Begriff: Groß‘ Sur­rea­lis­mus ist kein fin-de-sie­cle Traum in der Tra­di­ti­on Schnitz­lers, son­dern gleicht eher einem pul­sie­ren­den Wim­mel­bild aus Per­so­nen, Geschich­ten und phi­lo­so­phisch-lite­ra­ri­schen Reminiszenzen.

Um der Fra­ge nach der Wirk­mäch­tig­keit der Wirk­lich­keit nach­zu­ge­hen, ent­wirft Joshua Groß ein Spiel, in dem auch sei­ne eige­ne Per­son zwi­schen ver­schie­de­nen Meta- und Erzähl­ebe­nen hin und her­ge­scho­ben wird: Ein­mal tritt Groß als schüch­ter­ner Stu­dent auf, dann begeg­net er uns als Schrift­stel­ler im Jahr 2032.  Das Fak­ti­sche und das Fik­ti­ve; wie hän­gen sie zusam­men? Muss der Schrift­stel­ler zwi­schen ihnen über­haupt unterscheiden?

 

Irgend­wann scheint die Fra­ge ent­schie­den. Groß lässt stell­ver­tre­tend James Joy­ce eine Ant­wort geben: „Wirk­lich­sein bedeu­tet, von Geheim­nis umge­ben zu sein.“

Auch der Erzäh­ler (oder Groß selbst) kon­sta­tiert: „Die Wirk­lich­keit ist schwach. Ich muss mich ihrer anneh­men.“ Und der Akt der Wirk­lich­keits­trans­for­ma­ti­on ist tat­säch­lich nahe­zu zärt­lich: Wenn auf dem Dach des Him­beer­pa­las­tes her­um­ge­knutscht wird, wäh­rend ein paar Meter wei­ter ein liqui­des Ali­en in einem Fass auf­be­wahrt wird oder ein jun­ges Pär­chen an der Hand eines Mensch-Man­ta­ro­chen- Sym­bio­ten unter­see­isch ihren Ver­fol­gern ent­kommt, schlägt Groß lei­se Töne an. Ganz lang­sam, im Pro­zess des Lesens erfüllt sich A$AP Rockys Wunsch von der Offen­ba­rung der Bedeu­tung auch für die Leser*innen: Lachend und tas­tend erahnt man die Absur­di­tät einer erst auf den zwei­ten Blick geheim­nis­vol­len Gegenwart.

Der nur sel­ten affek­tiert wir­ken­de Ein­satz von Slang­wör­tern ver­hin­dert dabei in den aller­meis­ten Fäl­len erfolg­reich ein Abdrif­ten in den Kitsch.

So oder so: Joshua Groß‘ „Ent­kom­men“ zu lesen, bedeu­tet schmun­zelnd die Rän­der der Rea­li­tät aufzuweichen.