Die Gedanken sind frei?

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Respekt vor unserem Nachleben – Respekt vor unserem Nachlass.

von Simon Hintermayr

13 Jah­re alt war Anne Frank, als sie im Sep­tem­ber 1942 inti­me Ein­trä­ge und Wit­ze – für deren Inhalt sie sich spä­ter womög­lich schäm­te – in ihrem klei­nen roten Tage­buch nie­der­schrieb; doch eigent­lich soll­ten wir davon gar nichts wis­sen. Über­klebt mit Pack­pa­pier, von der Autorin selbst unkennt­lich gemacht für die Nach­welt, blie­ben die­se Pas­sa­gen dem mensch­li­chen Andenken jahr­zehn­te­lang ver­bor­gen, bis die Anne-Frank-Stif­tung sie im Jahr 2018 mit­hil­fe moder­ner Foto­tech­nik les­bar mach­te. Ein Glück für uns also, dass tech­ni­sche Fort­schrit­te das ermög­li­chen? Oder ein Unglück für Anne Frank, dass sie die Sei­ten nicht nach­hal­tig vernichtete?

Der Akt des Über­kle­bens ver­hüllt ver­gan­ge­ne Gedan­ken, ver­wehrt der Ver­fas­se­rin selbst – und dabei uns allen – den Wie­der­ein­blick in von Zeit und Absicht Über­hol­tes. Doch wur­de der Schlei­er des Ver­ge­hens und Ver­ges­sens genom­men – wenn auch nicht im Wort­sinn: Die Pas­sa­gen blei­ben ver­deckt, wur­den durch­leuch­tet und durch­schaut. Auch die Pseud­ony­mi­sie­rung der Namen von Bekann­ten und Fami­lie wur­de bereits zur Ver­öf­fent­li­chung im Jahr 1947 nach gän­gi­ger Pra­xis in gro­ßen Tei­len rück­gän­gig gemacht. Ein Schick­sal also, das sie mit unzäh­li­gen Tage­buch-Ver­fas­sern teilt: Der mehr oder weni­ger aus­drück­li­che Wil­le Ver­stor­be­ner wird nicht gewür­digt – ganz im Gegen­teil setzt man alles dar­an, ihre Bemü­hun­gen um einen selbst­re­dak­tio­nel­len, gleich­sam kor­ri­gie­ren­den Ein­griff in den per­sön­li­chen Nach­lass zu unter­lau­fen, rück­gän­gig zu machen. Kann also – darf also –, wer tot ist, nichts mehr wollen?

Schon seit der Anti­ke, ver­mehrt seit der Frü­hen Neu­zeit – mit dem Auf­stieg der und des Ein­zel­nen zum Sub­jekt – schrei­ben Men­schen ihr Den­ken über sich selbst, ihre Mit­men­schen und ihr Umfeld nie­der. In Brie­fen, Noti­zen oder Tage­bü­chern hal­ten sie inti­me Moment­auf­nah­men fest – zumeist also nicht mit der Inten­ti­on einer Ver­öf­fent­li­chung.¹ Als Argu­ment für den gegen­wär­ti­gen Umgang mit die­sen viel­fäl­ti­gen Selbst­zeug­nis­sen, für die sys­te­ma­ti­sche, (all)umfassende Durch­leuch­tung der Schick­sa­le bis ins Per­sön­lichs­te hin­ein, wird oft­mals lücken­lo­se Geschichts­schrei­bung oder ande­res wis­sen­schaft­li­ches Inter­es­se ange­führt. Was lässt sich dage­gen auch ein­wen­den? Sichert doch heu­ti­ge wis­sen­schaft­li­che Sorg­falt den retro­spek­ti­ven Hori­zont zukünf­ti­ger Gene­ra­tio­nen; liegt es doch gar in unser aller Ver­ant­wor­tung, unse­ren Nach­kom­men ein geord­ne­tes Ver­ständ­nis von uns, unse­rer Lebens­welt und unse­rer Geschich­te zu hin­ter­las­sen. Hier scheint es der Wis­sen­schaft somit ange­bracht, das Öff­nen einer neu­en his­to­ri­schen Per­spek­ti­ve über den per­sön­li­chen Wunsch eines 13-jäh­ri­gen Kin­des zu stel­len. Die Sys­te­ma­ti­sie­rung, Aus- und Fest­le­gung, Ein- und Zuord­nung von Per­so­nen, ihrem Schaf­fen und Den­ken in ihrem geschicht­li­chen Umfeld ermög­licht der Mensch­heit dabei ste­tig wach­sen­den Raum zur Refle­xi­on – und das in gren­zen- und gna­den­lo­ser Konsequenz.

Hier wird also ‚wis­sen­schaft­li­ches Inter­es­se vs. Per­sön­lich­keits­recht‘ ver­han­delt. Juris­tisch bedeu­tet der Tod in Deutsch­land grund­sätz­lich das Ver­fal­len sämt­li­cher Daten­schutz- oder Per­sön­lich­keits­rech­te eines Men­schen;² auch hier erschei­nen Ver­stor­be­ne offen­bar nicht als schutz­be­dürf­tig, sind dem Wil­len etwa­iger Nach­kom­men, Ver­wal­tungs- oder For­schungs­in­sti­tu­tio­nen weit­ge­hend hilf­los aus­ge­setzt. (Auch ohne über­bor­den­den Zynis­mus: Die Tat­sa­che, dass ein­zig das Urhe­ber­recht, also die mone­tä­re Wür­di­gung einer Autor­schaft weit über den Tod hin­aus besteht, lässt eine auf­fäl­li­ge Prio­ri­sie­rung erken­nen.) In Wis­sen­schaft wie auch Recht­spre­chung äußert sich aus die­sem Blick­win­kel also gera­de­zu ein Anspruch auf die per­sön­lichs­ten Infor­ma­tio­nen, die zu Leb­zei­ten noch geschützt, im Fall Anne Franks der schrift­li­chen Fixie­rung und so dem Zugriff – oder: dem Andenken – durch die Nach­welt gar voll­stän­dig ent­zo­gen wer­den sollten.

Dem­entspre­chend mag sich auch der radi­kals­te tes­ta­men­ta­ri­sche Wunsch nach dem Able­ben als zweck­los herausstellen:

„Liebs­ter Max, mei­ne letz­te Bit­te: alles was sich in mei­nem Nach­lass (also im Bücher­kas­ten, Wäsche­schrank, Schreib­tisch zuhau­se und im Bureau, oder wohin sonst irgend­et­was ver­tra­gen wor­den sein soll­te und Dir auf­fällt) an Tage­bü­chern, Manu­scrip­ten, Brie­fen, frem­den und eige­nen, Gezeich­ne­tem u.s.w. fin­det rest­los und unge­le­sen zu verbrennen […].“

Die Tat­sa­che, dass die­se Wor­te Franz Kaf­kas uns heu­te nicht nur zugäng­lich sind, son­dern gar die ers­ten waren, die nach sei­nem Tod ver­öf­fent­licht wur­den, eröff­net zwei Blick­win­kel: Zuerst bestä­tigt sich auch hier das bis­her Gesag­te; dass sich näm­lich die Nach­welt über den aus­drück­li­chen Wil­len Ver­stor­be­ner nach Belie­ben hin­weg­setzt.³ Dar­über hin­aus zeigt sich aber, dass ein Nach­lass­ver­wal­ter durch­aus grö­ße­re Treue zum geschrie­be­nen Wort des Autoren als zum Autoren selbst haben kann: Selbst noch die Ver­nich­tungs­auf­for­de­rung Kaf­kas, die Max Brod der ‚Untreue‘ gegen­über sei­nem Freund über­führ­te, war ihm als Text noch so wich­tig, dass er die Pflicht zu ihrer Erhal­tung ver­spür­te. Die­ser Ein­griff betrifft in der Ver­öf­fent­li­chung etwa sei­nes Brief­ver­kehrs nicht nur Kaf­ka selbst, son­dern auch sein pri­va­tes – inti­mes – Umfeld: Der Brief­wech­sel mit Mile­na Jesens­ká, erst­mals her­aus­ge­ge­ben 1952 unter dem Titel Brie­fe an Mile­na, hät­te laut Tes­ta­ment eben­so nicht über­dau­ern dürfen.

Hier mag wohl auch das wis­sen­schaft­li­che Argu­ment der unbe­ding­ten Erhal­tung und Zugäng­lich­ma­chung von Tex­ten an sei­ne Gren­zen sto­ßen. Es stellt sich die Fra­ge, ob nicht Schau­lust – Voy­eu­ris­mus – hier gegen­über wis­sen­schaft­li­cher Gründ­lich­keit als Moti­va­ti­on über­wiegt. Schließ­lich han­delt es sich bei den Brie­fen an Mile­na unter ande­rem um Zeug­nis­se einer Lie­bes­be­zie­hung, deren Ver­öf­fent­li­chung tief in das pri­va­te Leben gleich zwei­er Per­so­nen ein­dringt; wenn auch, oder gera­de weil bei­de zum besag­ten Zeit­punkt nicht mehr am Leben waren. Ob der wis­sen­schaft­li­che Wert die­se Respekt­lo­sig­keit gegen­über der Pri­vat­sphä­re Ver­stor­be­ner recht­fer­tigt, steht zu bezweifeln.

Woher also die­ses ande­re Pflicht­ge­fühl, dem Max Brod so unbe­irrt folg­te? Besit­zen die Wer­ke, die Schrif­ten in ihrem kul­tu­rel­len Wert selbst recht­li­che Ansprü­che unab­hän­gig von ihrem Autor? Ein Recht, zu über­dau­ern? Soll­ten sie also nicht im Gegen­teil gar Schutz vor zer­stö­re­ri­schen Anwand­lun­gen ihres Ver­fas­sers selbst genie­ßen? Tat­säch­li­che Auto­no­mie von ihrem Autor, also die abso­lu­te Frei­heit von jeg­li­cher nach­träg­li­chen Ein­fluss­nah­me, erlan­gen Schrif­ten erst mit dem Tod des Urhe­bers. Was also nicht zurück­ge­nom­men wird, ent­wi­ckelt zwangs­läu­fig ein Eigen­le­ben – näm­lich als Nachlass.

Was bedeu­tet das für uns – für uns etwa als Men­schen, die im Digi­ta­len, in ihrem E‑Mail-Ver­kehr, Chat- oder Brow­ser-Ver­lauf ein Tag für Tag umfas­sen­de­res poten­zi­el­les Bild im mensch­li­chen Andenken hin­ter­las­sen; deren Nach­lass nicht nur Schrif­ten, Brie­fe, Tage­bü­cher umfasst, son­dern ein Abbild der Per­sön­lich­keit in nicht abseh­ba­rer Detail­rei­che? Sozia­le Netz­wer­ke und ande­re zen­tra­le Akteu­re des Inter­nets sam­meln schon lan­ge Mas­sen an Infor­ma­ti­ons­fet­zen, unab­hän­gig von wis­sen­schaft­li­chem oder gemein­nüt­zi­gem Inter­es­se und ohne Rück­sicht auf Pri­vat­sphä­re. Die­se Daten­kra­ken, für die das Able­ben eines Kun­den ohne­hin irrele­vant ist, erschwe­ren zu jedem Zeit­punkt die völ­li­ge Löschung eines Inhalts unge­mein. Müs­sen heu­ti­ge Per­so­nen – und zwar nicht nur öffent­li­chen und wis­sen­schaft­li­chen Inter­es­ses – dar­um fürch­ten, nach ihrem Able­ben also noch inten­si­ver durch­leuch­tet, noch fein­glied­ri­ger seziert zu werden?

Wer tot ist kann nichts mehr wol­len, kann nicht mehr erklä­ren, nicht dis­ku­tie­ren, nicht klar­stel­len, was geschrie­ben ist, sich nicht weh­ren gegen das Kate­go­ri­sie­ren, Sys­te­ma­ti­sie­ren der Nach­welt. Unse­re Gedan­ken sind weder sicher vor gesell­schaft­li­cher Schau­lust, noch vor wis­sen­schaft­li­cher Sorg­falt mit eben die­sem Drang zur Aus- und Fest­le­gung. Schluss­end­lich ist es also die pre­kä­re Lage gedank­li­cher Frei­heit, die in der gezwun­ge­nen Über­ga­be der eige­nen Per­son an das gesell­schaft­li­che wie auch wis­sen­schaft­li­che Andenken der Nach­ge­bo­re­nen mit­schwingt. Frei sind unse­re Gedan­ken nur in Gedan­ken. Im Nie­der­schrei­ben wird das Den­ken bereits von der Vor­stel­lung zur Wirk­lich­keit, als wel­che es ein poten­zi­el­les Fun­da­ment zukünf­ti­ger Gescheh­nis­se bil­det. Erwächst nun dar­aus eine Pflicht, bereits Geschrie­be­nes nicht mehr zurück­zu­neh­men? Oder for­dert die­ser Umstand nicht im Gegen­teil gera­de ein Recht, den Grad und Umfang der Mit­wir­kung an die­sem gedank­li­chen Bestand schon zu Leb­zei­ten final zu bestimmen?

Viel­leicht müss­te – kann – man kei­ne die­ser bei­den Posi­tio­nen in ihrer gan­zen Kon­se­quenz ver­tre­ten. Was die­se Betrach­tun­gen aber auf­zei­gen, ist, dass es einer Kraft bedarf – womög­lich genau­so stark wie die Schöp­fungs­kraft des Schrift­stel­lers selbst –, die sich dem gesell­schaft­li­chen und wis­sen­schaft­li­chen Druck ent­ge­gen­stellt und auf den Wil­len zur Zurück­nah­me pri­va­ter, inti­mer und über­hol­ter – über­kleb­ter – Gedan­ken pocht. Auch zeigt sich: Wir müs­sen uns abfin­den mit einer unkon­trol­lier­ba­ren Zukunft; mit der Zumu­tung für uns alle, unser Den­ken, Schaf­fen und unse­re gan­ze Per­son der Ver­ant­wor­tung der nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen zu über­las­sen. Wel­ches Bild dabei ent­steht, im mensch­li­chen Andenken ver­bleibt und sich über Jahr­zehn­te – Jahr­hun­der­te – Jahr­tau­sen­de wan­delt, haben wir nicht zu bestim­men, son­dern zu Leb­zei­ten anzu­neh­men. So tritt einst ein Jeder mit dem Tod aus dem Prä­sens in die Ver­gan­gen­heit, gewinnt das Attri­but ‚his­to­risch‘ und wird dabei zur Pro­jek­ti­ons­fo­lie spä­te­rer Gedan­ken, Inter­pre­ta­tio­nen und Teil des zukünf­ti­gen Refle­xi­ons­rau­mes. Die­se Tat­sa­che kann man nun anneh­men oder kri­ti­sie­ren, viel­leicht auch in Ein­zel­fäl­len abschwä­chen – doch end­gül­tig ent­kom­men kann man ihr nicht.

Wer sich also den Bli­cken der Zukunft, der Schau­lust der Öffent­lich­keit und dem Inter­es­se der Wis­sen­schaft nicht unver­han­del­bar aus­lie­fern will, muss eine eige­ne Ver­ant­wor­tung über­neh­men: Weder das Über­kle­ben mit Pack­pa­pier, noch das Dele­gie­ren einer Nach­lass­ver­wal­tung sichert Pri­va­tes und Inti­mes vor den Ent­schei­dun­gen der Nach­ge­bo­re­nen. Die­ses per­sön­li­che Andenken nach­hal­tig zu schüt­zen, liegt also im Letz­ten bei uns selbst. Mög­li­cher­wei­se for­dert uns die­ses Erken­nen sogar dazu auf, selbst rest­los zu besei­ti­gen, was in den Augen eben die­ser Zukunft nicht gut auf­ge­ho­ben sein mag.

 

[1] Anne Frank begann in ihrem letz­ten Lebens­jahr, ihre Tage­bü­cher in Tei­len für eine tat­säch­li­che Ver­öf­fent­li­chung umzu­ar­bei­ten. Die spä­ter her­aus­ge­ge­be­nen his­to­risch-kri­ti­schen Aus­ga­ben etwa ent­hal­ten jedoch die Originaltexte.

[2] Zwar besit­zen Per­so­nen öffent­li­chen Inter­es­ses grund­sätz­lich Anspruch auf post­mor­ta­len Per­sön­lich­keits­schutz, die­ser stellt sich in der Pra­xis jedoch als nicht beson­ders weit­rei­chend dar und muss von Ange­hö­ri­gen ein­ge­for­dert wer­den. Maß­nah­men wie Sperr­fris­ten oder Ver­trau­lich­keits­ver­ein­ba­run­gen kön­nen einen Nach­lass, der bereits zu Leb­zei­ten als schüt­zens­wert erach­tet wird, zumin­dest in Tei­len bewahren.

[3] Ein ähn­li­cher Fall der Miss­ach­tung expli­zi­ter tes­ta­men­ta­ri­scher Wün­sche liegt etwa bei Tho­mas Bern­hard vor. Stich­wort hier: Spielverbote.

[4] Kaf­ka selbst soll schon zu Leb­zei­ten etwa gro­ße Tei­le sei­nes Nach­las­ses ver­nich­tet haben.

[5] Um beim Wort­sinn zu blei­ben, den­ke man etwa dar­an, dass die letz­te Mahl­zeit des vor über 5000 Jah­ren ver­stor­be­nen Ötzi – viel­leicht man­gels schrift­lich ein­ge­leg­ten Wider­spruchs – rekon­stru­iert wurde.