Die Trauer der Teeschalen

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“Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.“1

Goe­thes Bemer­kung besitzt in unse­rem Fall dop­pel­te Gül­tig­keit. Zum einen soll es hier kon­kret um die — so zumin­dest das Pos­tu­lat — orga­ni­sche Qua­li­tät gehen, die anor­ga­ni­sche Din­ge im japa­ni­schen Den­ken und damit in der japa­ni­schen Lite­ra­tur besit­zen. Zum ande­ren hat die­ser Gegen­stand der Gegen­stän­de tat­säch­lich einen neu­en Sinn für die­se Eigen­heit in der japa­ni­schen Erzähl­wei­se in uns geweckt.

Wir — eine deut­sche und eine japa­ni­sche Frank­fur­te­rin — hat­ten bereits gemein­sam an der nach obi­gem Dich­ter benann­ten Uni­ver­si­tät stu­diert, als wir im Jahr 1994 plötz­lich vor der uns damals recht aben­teu­er­lich erschei­nen­den Her­aus­for­de­rung stan­den, inner­halb kür­zes­ter Zeit die Hälf­te des Romans Stil­le Tage von Kenzabur? ?e zu über­set­zen. Die­se auf­re­gen­de Auf­ga­be ver­dank­ten wir zwei Ereig­nis­sen. Einem glück­li­chen — ?e hat­te gera­de den Nobel­preis für Lite­ra­tur erhal­ten — und einem unglück­li­chen: Sein Über­set­zer Wolf­gang Schlecht war mit­ten in der Arbeit erkrankt. Kurz gesagt, mit Stil­le Tage waren sel­bi­ge für uns vor­über, und vier Wochen unent­weg­ter, inten­sivs­ter Über­set­zungs­ar­beit lagen vor uns. Auf die­se Feu­er­tau­fe folg­ten vie­le gemein­sa­me Pro­jek­te, und damit sind wir auch schon bei unse­rem Thema.

Als deutsch-japa­ni­sches Team dis­ku­tier­ten (und dis­ku­tie­ren) wir häu­fig — und mit Begeis­te­rung — die Unter­schie­de zwi­schen unse­ren bei­den doch recht weit aus­ein­an­der lie­gen­den Kul­tur­krei­sen. Kul­tur­ver­gleich macht Spaß, auch wenn oder gera­de weil man dabei ab und zu in Nie­de­run­gen wie die unter­schied­li­chen Prak­ti­ken beim Wäsche­auf­hän­gen und Reis- oder Kar­tof­fel­ko­chen hin­ab­steigt. Eine unse­rer belang­rei­che­ren Ent­de­ckun­gen, oder bes­ser gesagt, Hypo­the­sen ist jedoch etwas, das wir als die „atmo­sphä­risch ande­re” Dar­stel­lung von Mate­rie bezeich­nen, ein Phä­no­men, das bei der Über­tra­gung ins Deut­sche mit­un­ter gewis­se Schwie­rig­kei­ten auf­wirft. (Wie for­mu­liert man bei­spiels­wei­se die Emp­fin­dung einer Roman­fi­gur, dass ihre Ste­reo­an­la­ge schüch­tern in der Ecke kau­ert, ohne den Leser zu nicht inten­dier­tem Lachen zu rei­zen). In die­sem Zusam­men­hang erör­ter­ten wir immer wie­der die Pro­ble­ma­tik einer kul­tur­spe­zi­fi­schen Bezie­hung zur Mate­rie und den all­ge­mein gern beschwo­re­nen Gegen­satz von west­li­chem Mate­ria­lis­mus und öst­li­cher Spi­ri­tua­li­tät, wo die Mate­rie in der Regel als hypo­the­tisch oder illu­sio­när gilt oder „wo sogar unbe­seel­te Objek­te mit leben­di­ger, hei­len­der, magi­scher Kraft aus­ge­stat­tet wer­den”.2 Aller­dings ließ sich die­ses Modell nie so recht auf unse­ren spe­zi­el­len Fall anwen­den, da die japa­ni­sche Bezie­hung zum Mate­ri­el­len sich in vie­ler Hin­sicht die­ser Ein­ord­nung zu wider­set­zen schien.

Mono — Dinge oder Wesen?

Unse­re Über­le­gun­gen stüt­zen sich nicht allein auf die Beob­ach­tung, dass All­tags­ge­gen­stän­de in der japa­ni­schen Lite­ra­tur über ein stär­ke­res Eigen­le­ben oder viel­leicht sogar mehr Indi­vi­dua­li­tät ver­fü­gen, als sie lite­ra­ri­schen Requi­si­ten, Moti­ven, Sym­bo­len oder Meta­phern in der „west­li­chen” Erzähl­li­te­ra­tur zu eigen sind. Am deut­lichs­ten wird der Unter­schied wahr­schein­lich an der Bezie­hung der Cha­rak­te­re zu den Gegen­stän­den, die zwar stets funk­tio­nal und sel­ten oder nie ideell ist, aber den­noch per­sön­li­cher, gleich­be­rech­tig­ter, ja, man möch­te sagen, inti­mer erscheint. Sie ist von einer beson­de­ren Wert­schät­zung geprägt, in der sich jedoch weni­ger eine spi­ri­tu­el­le als viel­mehr eine emo­tio­na­le Qua­li­tät offenbart.

Auch sprach­lich scheint die Tren­nung zwi­schen Mensch und Ding nicht so ein­deu­tig fest­ge­legt, wie es viel­leicht in ande­ren Spra­chen der Fall ist. So wird die gän­gi­ge japa­ni­sche Voka­bel für Din­ge und Per­so­nen gleich aus­ge­spro­chen. Bei­des heißt mono. Mono, die „Per­son”, und mono, das „Ding” unter­schei­den sich nur durch ihre Schreib­wei­se.3 Über­dies wer­den bei­de vor allem in Hira­ga­na — einer pho­ne­ti­schen Sil­ben­schrift — (mono) geschrie­ben, so dass der Unter­schied noch mehr ver­schwimmt, wäh­rend das deut­sche Wort Gegenstand wie das latei­ni­sche objec­tum (PPP von obji­ce­re „Ent­ge­gen­wer­fen”) bereits ein „Gegen­über­ste­hen” und damit eine gewis­se Wider­stän­dig­keit beinhaltet.

So berei­tet die seman­tisch unein­deu­ti­ge Qua­li­tät der Voka­bel mono nicht sel­ten auch Schwie­rig­kei­ten beim Über­set­zen. Ein Bei­spiel: Im Roman Mana­zu­ru der Autorin Hiro­mi Kawa­ka­mi4 durch­streift die Ich­er­zäh­le­rin auf der Suche nach ihrem ver­schwun­de­nen Mann immer wie­der den Küs­ten­ort Mana­zu­ru und sei­ne Umge­bung. In die­ser Zeit hat sie häu­fig die (hal­lu­zi­na­to­ri­sche?) Emp­fin­dung, ver­folgt zu wer­den — und zwar von mono. Wur­de sie nun von „jeman­dem”, einem „Etwas” oder von „Wesen” ver­folgt? Waren es einer, eins oder über­haupt mehrere?

Die fol­gen­den vier Zita­te zei­gen, wie wir die stets gleich lau­ten­de japa­ni­sche For­mu­lie­rung mit mono je nach Kon­text oder dem Gefühl der Mut­ter­sprach­le­rin in unse­rem Tan­dem auf ver­schie­de­ne Wei­se über­setzt haben:

  1. Jemand folg­te mir. Ob es ein Mann oder eine Frau war, ließ sich nicht aus­ma­chen. Noch zu weit weg. Und wenn schon. Ich ging wei­ter.” (S. 3)
  2. “Mei­ne Ver­fol­ger hat­ten kei­ne aus­ge­präg­te Prä­senz. Sie waren blass, bald kamen sie näher, bald fie­len sie zurück.” (S. 31)
  3. “Plötz­lich erschien das Etwas, das mir folg­te. Sei­ne Prä­senz war stark. Es war kein Mensch, son­dern eher so etwas wie ein Tier mit Fell. Es hat­te Ähn­lich­keit mit mir, damals in der Schwan­ger­schaft, als die Übel­keit nach­ließ und die sta­bi­le Pha­se begann.” (S. 82)
  4. “Ohne die Geräu­sche kam ich mir vor wie in einem Vaku­um, in dem meh­re­re unsicht­ba­re Wesen mich umga­ben. Sie fühl­ten sich dich­ter an als die schwa­chen Prä­sen­zen, die mir im Kauf­haus gefolgt waren.” (S. 152)

Vom Pathos der Dinge

Nach die­sem Bei­spiel aus der Über­set­zungs­pra­xis wol­len wir uns eini­gen geis­tes­ge­schicht­li­chen Betrach­tun­gen wid­men. Im 18. Jahr­hun­dert setz­te sich der Gelehr­te Moto­o­ri Nori­na­ga (1770–1801) für eine Wie­der­be­le­bung natio­na­ler japa­ni­scher Wer­te (im Gegen­satz zu indi­schen und chi­ne­si­schen Ein­flüs­sen) ein. Er präg­te den Begriff des mono no awa­re, der meist dem eng­li­schen Begriff fol­gend als „Pathos der Din­ge” über­setzt wird. Er bezeich­net ein bereits in der Hei­an-Zeit (794‑1185) bestehen­des ästhe­ti­sches Kon­zept, dem­zu­fol­ge die anrüh­ren­de, schlich­te, ja beschä­dig­te Schön­heit einer Sache gera­de durch ihre Unvoll­kom­men­heit star­ke Empa­thie bei ihrem Betrach­ter her­vor­ruft. Durch sie emp­fin­de er die Ver­gäng­lich­keit allen Seins umso stär­ker. Die­se beson­de­re Gefühls­la­ge scheint in enger Bezie­hung zum bud­dhis­ti­schen Tra­di­ti­ons­hin­ter­grund zu ste­hen, der nach Nori­na­ga eigent­lich wie­der hin­ter dem ein­hei­mi­schen Shin­to­is­mus zurück­tre­ten soll­te, jedoch bereits untrenn­bar mit dem japa­ni­schen Geis­tes­le­ben ver­schmol­zen war. Jeden­falls wird, ver­ein­facht gespro­chen, in der Vor­stel­lung des Bud­dhis­mus die Welt als Kon­ti­nu­um wahr­ge­nom­men, in dem sich alles in gegen­sei­ti­ger Abhän­gig­keit bewegt. Die Objek­te dar­in sind ledig­lich ver­schie­de­ne Ver­dich­tun­gen die­ses einen Rau­mes. So exis­tiert in die­sem Uni­ver­sum weder ein gött­li­cher Wil­le, der dem Men­schen Ver­fü­gungs­ge­walt über die Mate­rie erteilt, noch eine schar­fe Tren­nung zwi­schen Sub­jekt und Objekt, da alle Erschei­nun­gen ja nur ver­schie­de­ne Zustän­de eines Sel­ben sind. Das euro­päi­sche Den­ken dage­gen basiert in gro­ßen Tei­len auf einer sol­chen Tren­nung. Nicht nur ist der Mensch bestrebt, die Mate­rie zu beherr­schen, auch die Gegenstän­de zwin­gen den Men­schen, sie als „objek­ti­ve” Rea­li­tät anzu­er­ken­nen. Der fran­zö­si­sche Phi­lo­soph Mer­leau-Pon­ty beschreibt die­se Vor­stel­lung von der phä­no­me­no­lo­gi­schen Bezie­hung zwi­schen Mensch und Ding wie folgt:

„Und doch prä­sen­tiert sich das Ding
auch dem noch, der es wahr­nimmt, als
Ding an sich […]. Für gewöhn­lich
wer­den wir dar­auf nicht auf­merk­sam,
[…]. Doch das Ding igno­riert uns und
ruht in sich. Wir sehen es, sobald wir
unse­re Beschäf­ti­gun­gen unter­bre­chen
und dem Ding eine meta­phy­si­sche und
unin­ter­es­sier­te Auf­merk­sam­keit
zuwen­den. Als­bald zeigt es sich
feind­lich und fremd, ist nicht mehr
unser Gesprächs­part­ner, son­dern ein
ent­schlos­sen schwei­gen­des Ande­res, ein
Selbst, das sich uns ent­zieht, so wie
die Inti­mi­tät eines frem­den
Bewusst­seins. […] Das Ding ist für
uns viel mehr ein Absto­ßungs- als ein
Anzie­hungs­pol. In ihm erken­nen wir
nicht uns selbst, und eben dies macht
das Ding zum Ding.”5

Ganz anders stellt sich die Sicht auf die Din­ge in der japa­ni­schen Lite­ra­tur dar, wo sie — unse­rer Beob­ach­tung nach — im All­ge­mei­nen einen voll­kom­men ver­schie­de­nen Auf­tritt haben. So gut wie nie, wenn über­haupt je, wer­den sie als ein „ent­schlos­sen schwei­gen­des Ande­res” oder gar als „Absto­ßungs­pol” geschil­dert. Aber wie genau kommt die­se japa­ni­sche Ver­bun­den­heit mit der mate­ri­el­len Welt lite­ra­risch zum Aus­druck? Wird sie auch inhalt­lich the­ma­ti­siert? Wie lässt sich unse­re The­se am kon­kre­ten Bei­spiel untermauern?

Der Tod des Teemeisters

Zur Ver­an­schau­li­chung bie­tet sich der Roman Der Tod des Tee­meis­ters von Yasu­shi Inoue6 an, da in ihm die Vor­stel­lung vom Pathos der Din­ge (mono no awa­re) und ihrer damit in engem Zusam­men­hang ste­hen­den Eigen­schaft als leben­di­ge Wesen auch inhalt­lich ver­ar­bei­tet ist. Yasu­shi Inoue (1907–1991) gehört zu den im Aus­land meist­ge­le­se­nen japa­ni­schen Autoren der älte­ren Gene­ra­ti­on. Schon 1958 gab der Suhr­kamp Ver­lag sei­ne Novel­le Das Jagd­ge­wehr7 her­aus. Vie­le von Inoues Büchern sind his­to­ri­sche Roma­ne, in denen ein rand­stän­di­ger Chro­nist die Ereig­nis­se schil­dert. Häu­fig geht es dar­in um ein bis zur Selbst­auf­ga­be ver­folg­tes Lebenswerk.

So auch in Der Tod des Tee­meis­ters, einem Roman, in dem Inoue sich spe­ku­la­tiv mit einem his­to­ri­schen Selbst­mord aus­ein­an­der­setzt: Der berühm­te Tee­meis­ter Sen no Riky? (1522–1591) hat­te über län­ge­re Zeit in der Gunst des Reichs­ei­ni­gers Toyo­to­mi Hidey­o­shi (1538–1598) gestan­den, als die­ser ihm uner­war­tet den als ehren­voll erach­te­ten Frei­tod befahl. Die Grün­de dafür sind bis heu­te unge­klärt. Im Roman berich­tet Meis­ter Riky?s Die­ner und Schü­ler Hon­ka­ku — in Tage­buch­form — von sei­ner Suche nach den Grün­den für Toyo­to­mis töd­li­chen Befehl. Auf­ge­zeich­net hat er Gesprä­che mit sei­nem Meis­ter, Begeg­nun­gen mit his­to­ri­schen Per­sön­lich­kei­ten aus der Welt der Tee­ze­re­mo­nie sowie sei­ne Träu­me und Gedanken.

In der fol­gen­den Sze­ne ist der Ich­er­zäh­ler Hon­ka­ku damit beschäf­tigt, eine Abhand­lung zu kopie­ren, die unter ande­rem berühm­te und erle­se­ne Gerät­schaf­ten für die Tee­ze­re­mo­nie auf­lis­tet. Hier kommt die Vor­stel­lung von einer Schick­sals­ge­mein­schaft zwi­schen Men­schen und Din­gen, die nach unse­rer The­se das japa­ni­sche Den­ken prägt, auf beson­ders ein­dring­li­che Wei­se zum Ausdruck.

„Am Abend setz­te ich mich wie­der an
den Schreib­tisch, auf dem S?jis
Schrift lag, rieb Tusche und ergriff
den Pin­sel. […] Zuerst kom­men die
Namen von Tsu­bo, den Töp­fen, in denen
Tee­blät­ter auf­be­wahrt wer­den:
Mikat­suki, Mat­su­shi­ma [… es fol­gen
zwan­zig Eigen­na­men]. Jeder ein­zel­ne
von ihnen hat eine Geschich­te, die mit
sei­nem Namen und sei­ner Her­kunft
ver­bun­den ist. [… es folgt die
„Vita” eines Top­fes namens Hash­i­da­te].
All die­se berühm­ten Töp­fe haben eben­so
wie wir Men­schen ein per­sön­li­ches
Schick­sal. Eini­ge wech­sel­ten den
Besit­zer, ande­re blie­ben in einer
Hand. Manch einer ist ver­schwun­den,
teil­te das Los sei­nes Besit­zers und
starb. […] Natür­lich sind sol­che
Schick­sa­le nicht auf Töp­fe beschränkt.
Auf Juk?s Lis­te ste­hen auch zahl­rei­che
Tee­scha­len, ange­fan­gen mit Mat­su­mo­to
und Insetsu, von denen eine nach der
Nie­der­la­ge ihres Besit­zers Miyo­shi
Jik­kyu eben­falls bei einem Brand
zer­stört wur­de. […] Beim Abschrei­ben
berühr­te es mich sehr stark, wie sehr
Men­schen und Kunst­wer­ke in schwe­ren
Zei­ten lei­den.” (S. 49–52)

Die Din­ge haben eben­so wie Men­schen eine eige­ne Geschich­te, lei­den wie sie und — wich­ti­ger noch für unser Argu­ment — ster­ben auch wie sie, denn was ster­ben kann, war natur­ge­mäß zuvor am Leben.

An ande­rer Stel­le spricht Hon­ka­ku über einen Tee­spa­tel aus Bam­bus, der dem — eben­falls his­to­ri­schen — Tee­meis­ter Ori­be gehört hat­te und sich nun im Besitz sei­nes Freun­des Ura­ku befindet:

„Ich betrach­te­te den schma­len
Bam­bus­löf­fel, der eine ganz beson­de­re
Aus­strah­lung besaß. Sie über­traf die
von Meis­ter Riky?s Tee­spa­tel. Ob der
Besit­zer des Löf­fels einen eben­so
star­ken Cha­rak­ter beses­sen hat­te?
[…] „Ich lie­be die­se Stü­cke, denn
sie sind kei­nen Ver­än­de­run­gen
unter­wor­fen”, füg­te er [Herr Ura­ku]
hin­zu. „Ein Mann des Tees hat
natur­ge­mäß ein Herz, und man kann sich
nicht auf ihn ver­las­sen. Da sind
Gegen­stän­de bes­ser, da man stets
dar­auf ver­trau­en kann, daß sie sich
treu blei­ben.” […] „Die Gegen­stän­de
hän­gen von den Men­schen ab, die sie
besit­zen, nicht wahr? […] Vie­le
Gerät­schaf­ten wei­nen, weil ihr
Besit­zer ein unge­ho­bel­ter Klotz ist.
Man kann ihr Kla­gen hören. Lau­ter als
das Zir­pen der Gril­len, und trau­ri­ger.
Ich höre sie rufen: Hol mich her­aus,
hol mich her­aus. Neu­er­dings höre ich
Herrn Ori­bes Gerät­schaf­ten kla­gen:
Ret­te uns, fle­hen sie mich an. Doch
wie soll das gehen? Ich weiß nicht
ein­mal, was aus ihnen gewor­den ist.””
(S. 112)

Auch hier wird die beson­de­re Wech­sel­be­zie­hung zwi­schen dem Men­schen und ihm nahe­ste­hen­den Din­gen the­ma­ti­siert. Natür­lich lie­ße sich anfüh­ren, dass es sich bei der Tee­ze­re­mo­nie um eine Art zen-bud­dhis­ti­schen Son­der­fall han­delt, bei dem eine Ganz­heits­er­fah­rung bzw. Auf­he­bung der Dua­li­tät zwi­schen dem Aus­üben­den und sei­ner Umwelt bewusst ange­strebt wird. Die­ser Aspekt der Ent­gren­zung spielt für unse­re Dis­kus­si­on ins­ge­samt kei­ne uner­heb­li­che Rol­le, den­noch kommt bei die­ser sehr leben­di­gen Schil­de­rung der ver­zwei­fel­ten Tee­ge­rät­schaf­ten noch etwas Ande­res, Greif­ba­re­res zum Tra­gen, näm­lich die bereits erwähn­te emo­tio­na­le Bin­dung des Men­schen an Din­ge des täg­li­chen Gebrauchs. Für Ura­ku sind sie eigen­stän­di­ge und doch in ihren Gefüh­len vom Men­schen abhän­gi­ge Wesen, deren äußer­li­che Unver­än­der­lich­keit sie nicht etwa als tote Mate­rie aus­weist, son­dern ihren star­ken Cha­rak­ter bezeugt.

Doch die Tee­kunst ist nicht der ein­zi­ge Bereich, in dem Gegen­stän­de als ‚Lebens­ge­fähr­ten’ ihrer Besit­zer und Benut­zer auf­tre­ten. Die­se Bezie­hung kam — wie gesagt — in allen von uns über­setz­ten Wer­ken mehr oder weni­ger zum Tragen.

Das Museum der Stille

Unser nächs­tes Bei­spiel, der Roman Das Muse­um der Stil­le[8] der Autorin Y?ko Oga­wa (geb. 1962), han­delt sogar haupt­säch­lich von die­ser Bin­dung. Er erzählt — auf immer­hin fast 350 Sei­ten — von einer uralten Frau, die ein gan­zes Muse­um mit den All­tags­ge­gen­stän­den Ver­stor­be­ner aus­stat­tet, Din­gen, mit denen sie in beson­de­rer Wei­se ver­bun­den gewe­sen waren: ein Dia­phrag­ma, eine Hun­de­mu­mie, eine Spin­del, Gold­zäh­ne, Hand­schu­he, Pin­sel, Schnee­be­sen, Gips, eine Wie­ge, ein Skal­pell für die Ver­klei­ne­rung von Ohren, ein Glas­au­ge etc.. „Ich habe mir vor­ge­nom­men”, so erklärt sie dem Muse­ums­exper­ten, den sie als Hilfs­kraft ein­ge­stellt hat, „mir jedes Mal, wenn im Dorf jemand stirbt, einen per­sön­li­chen Gegen­stand von dem Ver­stor­be­nen anzu­eig­nen.” (S. 47) Aber was bedeu­tet die­se außer­ge­wöhn­li­che Samm­lung von Erin­ne­rungs­stü­cken? Wer­den die Objek­te als Sym­bo­le für die Eigen­schaf­ten ihrer Ver­stor­be­nen aus­ge­wählt und sind damit eine Art Totem oder Fetisch? Was sind die beson­de­ren Aus­wahl­kri­te­ri­en der alten Frau? Nie bemerkt jemand das Ver­schwin­den eines Din­ges, „weil unse­re Wahl so exakt ist und wir genau den Kern der Sache tref­fen” (S. 155). Die Leu­te glau­ben, „der Tote habe es mit­ge­nom­men” (S. 156). Besit­zer und Gegen­stand sind untrenn­bar mit­ein­an­der ver­bun­den, was jedoch nicht besagt, dass die Din­ge kein star­kes Eigen­le­ben hät­ten. Als der jun­ge Muse­ums­exper­te das Maga­zin abschrei­tet, in dem die bis­her gesam­mel­ten Objek­te lagern, fällt ihm etwas Son­der­ba­res auf:

„Der Raum war recht groß, aber
ziem­lich chao­tisch und schmut­zig.
Über­all stan­den Rega­le, Tische und
Kom­mo­den her­um, auf denen sich die
ver­schie­dens­ten Gegen­stän­de im Zustand
voll­stän­di­gen Durch­ein­an­ders
sta­pel­ten. Aber es war nicht die
Unord­nung im Raum, die mich
irri­tier­te, son­dern irgend­et­was
ande­res. Es dau­er­te eine Wei­le, bis
ich begriff, wor­an es lag. Viel­leicht
um sei­ne Eigen­stän­dig­keit zu
behaup­ten, schien jedes ein­zel­ne
Objekt eine uner­träg­li­che Dis­har­mo­nie
zu erzeu­gen, wo doch nor­ma­ler­wei­se die
Din­ge in jedem noch so
ver­nach­läs­sig­ten Maga­zin zumin­dest das
Wesen gemein­sam haben, Teil des­sel­ben
Muse­ums zu sein. Hier dage­gen gab es
nicht die gerings­te Ver­bin­dung
zwi­schen den Stü­cken, kei­ner­lei
Ein­tracht. Es herrsch­te nicht ein­mal
der Ein­druck, dass sie ihre
gegen­sei­ti­ge Anwe­sen­heit über­haupt
wahr­nah­men.” (S. 45 f.)

Auch hier offen­bart sich die spe­zi­fi­sche Wahr­neh­mungs- und Gestal­tungs­tra­di­ti­on, die unse­res Erach­tens die gesam­te japa­ni­sche Lite­ra­tur durch­zieht. Die gela­ger­ten Objek­te sind kei­nes­falls tote Mate­rie, son­dern leben­di­ge Wesen, die die Stim­mung im Raum spür­bar zu beein­flus­sen ver­mö­gen. Die­ser Ein­druck ist kei­ne Fol­ge der beson­de­ren, etwas unheim­li­chen Umstän­de im Muse­um der Stil­le. Die Ansicht des Prot­ago­nis­ten, dass Aus­stel­lungs­stü­cke mit einem indi­vi­du­el­len Gedächt­nis aus­ge­stat­te­te Ein­zel­we­sen sind, die genau wie er ihre Arbeit ver­rich­ten, schließt auch die Gegen­stän­de in den kon­ven­tio­nel­len Muse­en ein, in denen er bis­her gear­bei­tet hat­te. In einem spä­te­ren Kapi­tel schil­dert er sei­ne Gewohn­heit, nach Fei­er­abend noch durch die Aus­stel­lungs­räu­me zu schlen­dern, um sich „für eini­ge kur­ze Augen­bli­cke der Illu­si­on hin­zu­ge­ben, eine Minia­tur­aus­ga­be der Welt” vor sich zu haben (S. 169). Dabei macht er eine Beobachtung:

„Nach geta­ner Arbeit haben die
Expo­na­te ein ande­res Erschei­nungs­bild
als tags­über. Sie ruhen ihre von den
Bli­cken der Besu­cher erschöpf­ten
Kör­per aus und geben sich bis zum
nächs­ten Mor­gen der Erin­ne­rung an die
ver­gan­ge­nen Zei­ten hin, in denen sie
wirk­lich gelebt haben. Dabei scheint
ihre kon­tem­pla­ti­ve Aura sich noch zu
ver­dich­ten.” (S. 169)

In bei­den Zita­ten zeigt sich der Erzäh­ler als emp­fäng­lich für die ihm ganz natür­li­che leben­di­ge Gegen­wart der ihm anver­trau­ten Din­ge. Kei­ne der bei­den Sze­nen erweckt einen sur­rea­len, fan­tas­ti­schen oder par­odis­ti­schen Ein­druck. Im Gegen­satz dazu wird die Per­so­ni­fi­ka­ti­on von Gegen­stän­den in der west­li­chen Erzähl­li­te­ra­tur in aller Regel als Stil­mit­tel ver­wen­det, um einen der genann­ten Effek­te zu erzie­len. Ein beson­ders anschau­li­ches und geglück­tes Bei­spiel hier­für ist der „Geschenk­tisch” in Sieg­fried Lenz’ Roman Deutsch­stun­de, eine Sze­ne, in der eine Grup­pe von „beleb­ten” Gegen­stän­den beschrie­ben wird:

„Das Bild stand auf der Rück­sei­te des
Tisches gegen die Wand gelehnt, neben
ihm hat­ten die Fla­schen Pos­ten
bezo­gen, vor ihm krümm­ten sich
dienst­bar die Socken, der Kaf­fee­wär­mer
plus­ter­te sich auf, der Obst­ku­chen
warb um Ver­trau­en, und der Schal
schlän­gel­te sich um die Talg­lich­ter,
als woll­te er sie sanft ersti­cken:
alle Geschen­ke waren auf sich bedacht,
doch sie konn­ten nicht ver­hin­dern, daß
das Bild sie in ihrer schlich­ten
Dienst­bar­keit her­ab­setz­te.”8

Die Situa­ti­on hat eine gewis­se Ähn­lich­keit mit der­je­ni­gen im Maga­zin oder im Muse­um. Die Din­ge lie­gen eng bei­ein­an­der, und jedes ist „auf sich bedacht”. Den­noch ist unver­kenn­bar, dass Per­spek­ti­ve und Aspekt anders sind. Der ver­zwei­fel­te Trotz der nach dem Tod ihrer Besit­zer „zwi­schen­ge­la­ger­ten” Gegen­stän­de und die erschöpf­te Melan­cho­lie der Muse­ums­expo­na­te in Oga­was Roman sind kei­ne sprach­li­chen Gestal­tungs­phä­no­me­ne. Im Gegen­satz zur sti­lis­tisch raf­fi­nier­ten und amü­san­ten Stel­le bei Sieg­fried Lenz wird im Muse­um der Stil­le das tat­säch­li­che Befin­den der Din­ge charakterisiert.

Batterien im Mondschein

Zu guter Letzt wol­len wir noch eine etwas humor­vol­le­re Schil­de­rung der von ihrer Arbeit erschöpf­ten Mate­rie prä­sen­tie­ren. Auch die bereits erwähn­te Autorin Hiro­mi Kawa­ka­mi (geb. 1958) beschwört in ihrem Roman Der Him­mel ist blau, die Erde ist weiß9 die japa­ni­sche Ach­tung vor dem Eigen­le­ben der Gegen­stän­de. Im Kapi­tel „Bat­te­rien im Mond­schein” besucht die Hel­din Tsu­ki­ko, die sich mit bei­na­he vier­zig Jah­ren in ihren drei­ßig Jah­re älte­ren ehe­ma­li­gen Japa­nisch­leh­rer ver­liebt hat, die­sen alten Herrn, ihren Sen­s­ei, zum ers­ten Mal in sei­nem Haus. Und er zeigt ihr — statt einer Brief­mar­ken­samm­lung — eine ganz ande­re Sammlung:

„Ich kann eben nichts weg­wer­fen” [,
sag­te er]. Wie­der ging er ins
Neben­zim­mer. Dies­mal kehr­te er mit
meh­re­ren klei­nen Plas­tik­tü­ten zurück.
Er kno­te­te eine davon auf, und eine
Men­ge mit schwar­zem Filz­stift
beschrif­te­ter Bat­te­rien kam zum
Vor­schein: „Rasie­rer”, „Wand­uhr”,
„Radio”, „Taschen­lam­pe”. Er griff eine
A2-Bat­te­rie her­aus. […] „Die­se
gehör­te zu mei­nem ers­ten
Kas­set­ten­re­kor­der.” […] Schließ­lich
kön­ne man Bat­te­rien, die einem so brav
gedient hät­ten, nicht ein­fach
weg­wer­fen. Das wäre herz­los. Es sei
nicht anstän­dig, sie, die bis dahin
Licht und Töne erzeugt hät­ten, in den
Müll zu schmei­ßen, nur weil sie leer
sei­en. „Sind Sie nicht auch die­ser
Mei­nung, Tsu­ki­ko?” Der Sen­s­ei sah mir
ins Gesicht. Eigent­lich hat­te ich dazu
kei­ne Mei­nung, rang mir aber zum
fünf­zehn­ten oder sech­zehn­ten Mal an
die­sem Abend ein Ja ab. Ich strich
über eine der vie­len unter­schied­li­chen
Bat­te­rien. Sie war ros­tig und fühl­te
sich feucht an. An der Sei­te stand
„Casio­rech­ner”. […] Spä­ter am Abend
kramt der alte Leh­rer einen
Bat­te­rie­prü­fer her­vor. Nun über­prüf­te
er jede ein­zel­ne sei­ner zahl­lo­sen
Bat­te­rien. Bei den meis­ten rühr­te sich
die Nadel nicht, wenn der die Klem­me
ansetz­te. Sooft die Nadel
aus­nahms­wei­se doch ein­mal zuck­te,
stieß er ein lei­ses „Ah” her­vor. „Es
ist noch Leben drin”, sag­te ich dann,
und er nick­te kurz. […] Eine Wei­le
betrach­te­ten wir schwei­gend den Mond.”
(S. 11 ff.)

Der humo­ris­ti­sche Ton, den Kawa­ka­mi in die­ser Sze­ne anschlägt, täuscht nicht dar­über hin­weg, dass der Respekt, den der alte Leh­rer den Din­gen ent­ge­gen­bringt, die viel jün­ge­re Frau trotz ihrer äußer­li­chen Genervt­heit berührt. Die Autorin lässt in die­sem Anfangs­ka­pi­tel, in dem der alte tra­di­tio­nell den­ken­de Mann und die jun­ge Frau, die ein moder­nes Sin­gle-Leben führt, ein­an­der näher kom­men, bewusst Bil­der des Tra­di­tio­nel­len und Moder­nen (Mond und Bat­te­rien) auf­ein­an­der­tref­fen. Die Gewohn­heit des Leh­rers, unbrauch­bar gewor­de­ne Din­ge wie dienst­ba­re Gefähr­ten zu behan­deln und ihnen über ihre Funk­ti­ons­fä­hig­keit hin­aus einen Platz in sei­nem Haus ein­zu­räu­men, ver­sinn­bild­licht hier offen­bar einen Gemüts­zu­stand, der der jün­ge­ren Tsu­ki­ko nicht sofort ein­sich­tig ist.

Schluss

Bis­her stützt sich unse­re The­se von den leben­di­gen Din­gen in der japa­ni­schen Wahr­neh­mungs- und Gestal­tungs­tra­di­ti­on nahe­zu aus­schließ­lich auf von uns selbst über­setz­te Pro­sa­tex­te. Wir hof­fen, dass wir im Zuge unse­rer Arbeit noch Gele­gen­heit haben wer­den, ande­re Gen­res, Epo­chen und viel­leicht sogar lin­gu­is­ti­sche Beson­der­hei­ten in der Tie­fen­struk­tur des Japa­ni­schen in unse­re Ver­mu­tun­gen einzubeziehen.

Für die Pra­xis haben wir uns vor­ge­nom­men, von nun an immer genau über die Ver­wen­dung des deut­schen Wor­tes „Gegenstand” nach­zu­den­ken.

Anmerkungen


  1. J. W. Goe­the: Bedeu­ten­de För­der­nis durch ein ein­zi­ges geist­rei­ches Wort, in: Theo­re­ti­sche Schrif­ten, S. 386. Erst­druck; in: Zur Mor­pho­lo­gie, 2. Bd. 1. Teil, Stutt­gart 1823. 
  2. C. G. Jung: Zur Psy­cho­lo­gie west­li­cher und öst­li­cher Reli­gi­on, in: Gesam­mel­te Wer­ke, Bd. 11, Solo­thurn und Düs­sel­dorf 1995, S. 478. 
  3. Das Japa­ni­sche ver­fügt weder über einen bestimm­ten noch einen unbe­stimm­ten Arti­kel. Zudem kann mono (Aus­spra­che etwa wie mon­no) sowohl Sin­gu­lar als auch Plu­ral sein. 
  4. Hiro­mi Kawa­ka­mi: Mana­zu­ru, ersch. Mün­chen 2011. Die Über­set­zung wur­de von der gemein­nüt­zi­gen Orga­ni­sa­ti­on J‑Lit Cen­ter im Rah­men des Japa­ne­se Lite­ra­tu­re Publi­shing Pro­ject (JLPP) geför­dert. Alle hier zitier­ten japa­ni­schen Wer­ke sind unse­re Über­set­zun­gen. 
  5. Mau­rice Mer­leau-Pon­ty: Phä­no­me­no­lo­gie der Wahr­neh­mung, Ber­lin 1966, § 38, S. 372–375. 
  6. Yasu­shi Inoue: Der Tod des Tee­meis­ters, Frank­furt am Main 2007. Der japa­ni­sche Titel lau­tet „Nach­ge­las­se­ne Schrif­ten des Mönchs Hon­ka­ku”. 
  7. Anläss­lich Inoues 100. Geburts­tag im Jah­re 2007 neu auf­ge­legt. 
  8. Sieg­fried Lenz: Deutsch­stun­de, Frank­furt am Main 1970, S. 60. 
  9. Hiro­mi Kawa­ka­mi: Der Him­mel ist blau, die Erde ist weiß, Mün­chen 2008, S. 11.