Diskursrituale – Überlegungen zu Manifestation, Bedeutung und Wandel

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von Johan­nes Queck 

Der Begriff des Ritu­als hat einen rück­stän­di­gen Bei­geschmack. Gemein­hin wer­den damit heu­te eher eth­no­lo­gi­sche Stu­di­en zu tra­di­tio­na­len Gesell­schaf­ten in Ver­bin­dung gebracht als das Leben des moder­nen Men­schen, in dem das Ritu­al allen­falls im reli­giö­sen Leben oder im Kon­text von Hoch­zei­ten und Beer­di­gun­gen sei­nen Platz hat. Wei­tet man sei­nen Blick jedoch unter Fokus­sie­rung auf die zen­tra­len Eigen­schaf­ten von Ritua­len als grup­pen­spe­zi­fi­sche, stark for­ma­li­sier­te Hand­lun­gen, die über einen unmit­tel­ba­ren Zweck hin­aus­wei­sen, eröff­nen sich auch für die Refle­xi­on über die moder­ne Gesell­schaft etli­che Ansatz­punk­te und Ver­ständ­nis­hil­fen. In die­sem Essay soll die von Michel Fou­cault gepräg­te Anwen­dung des Ritu­al­be­griffs auf die Dis­kurs­theo­rie im Mit­tel­punkt ste­hen. Fou­cault ver­wen­de­te Ritu­al als Bezeich­nung für ver­schie­de­ne Regu­lie­rungs­me­cha­nis­men, die zur Ord­nung des Dis­kur­ses bei­tra­gen und vor allem auf eine Ver­knap­pung der spre­chen­den Sub­jek­te abzie­len. Es geht also im Kern um die Beob­ach­tung, dass in Dis­kur­sen streng gere­gelt ist, wer als akti­ver Teil­neh­mer vor­ge­se­hen ist und wer nicht. Es bedarf dazu eines fes­ten Reper­toires an Qua­li­fi­ka­tio­nen, Ver­hal­tens­wei­sen und Zei­chen, die einen Dis­kurs über die dadurch sicht­bar wer­den­de Rol­len­ver­tei­lung struk­tu­rie­ren (vgl. Fou­cault: 27f.). Die­se Reper­toires müs­sen natür­lich wesens­mä­ßig sta­bil sein, um ihre Funk­ti­on zu erfül­len. Gleich­wohl müs­sen sie auch immer wie­der vor dem Hin­ter­grund gesell­schaft­li­chen Wan­dels geprüft und ange­passt wer­den, was zu einer ste­ti­gen Dyna­mik führt.

Die­se Ver­knüp­fung von Ritu­al­be­griff und Dis­kurs­theo­rie soll im Fol­gen­den auf den Kon­text von Lite­ra­tur und Enga­ge­ment ange­wandt wer­den. Kon­kret soll es um die Fra­ge gehen, wie das Ritu­al im Fou­cault­schen Sin­ne für Autor:innen im lite­ra­ri­schen und im poli­ti­schen Dis­kurs inner­halb west­li­cher Gesell­schaf­ten zum Tra­gen kommt und wie es sich ver­än­dert. Der lite­ra­ri­sche Dis­kurs meint hier­bei die­je­ni­gen dis­kur­si­ven Prak­ti­ken, die sich um den Kern des lite­ra­ri­schen Wer­kes kris­tal­li­sie­ren, wohin­ge­gen im Zen­trum des poli­ti­schen Dis­kur­ses das gesell­schaft­li­che Zusam­men­le­ben steht. Es geht hier­bei jeweils nicht um Fach­dis­kur­se, son­dern um Inter­dis­kur­se im Sin­ne Jür­gen Links, die ver­schie­de­ne Spe­zi­al­dis­kur­se inte­grie­ren und somit für eine brei­te Öffent­lich­keit anschluss­fä­hig wer­den (vgl. Link: 122f.).

 

Autor:innen im literarischen Diskurs

Was also sind die Bestand­tei­le des Ritu­als, das die Rol­le von Autor:innen im lite­ra­ri­schen Dis­kurs aus­zeich­net? Gleich­sam als Befä­hi­gungs­nach­weis fun­giert die ers­te Ver­öf­fent­li­chung, die das Indi­vi­du­um als Akteur eta­bliert. Hier muss jedoch direkt ein­ge­schränkt wer­den: nicht jede Form der Ver­öf­fent­li­chung eines Werks macht eine:n Autor:in zu einer Stim­me im lite­ra­ri­schen Dis­kurs. In die­sem Zusam­men­hang spielt die Ver­mitt­lungs­in­stanz der Ver­la­ge eine zen­tra­le Rol­le. Die­se kon­sti­tu­ie­ren die viel­leicht wich­tigs­te Kom­po­nen­te der Dis­kurs­ver­knap­pung, wie es in der Fou­cault­schen Ter­mi­no­lo­gie heißt: die Zahl der Indi­vi­du­en, die zur Teil­nah­me am Dis­kurs berech­tigt sind, wird durch die­se Hür­de bereits stark ein­ge­schränkt. Schließ­lich kann auch nicht jeder Ver­lag eine pri­vi­le­gier­te Stel­lung im Dis­kurs garan­tie­ren. Nur weni­ge renom­mier­te Ver­la­ge kön­nen die­se Sprung­brett­funk­ti­on qua ihres Anse­hens und ihrer tra­di­tio­nel­len Bedeu­tung erfül­len, wobei spe­zi­ell die Bedeu­tung der Tra­di­ti­on schon eine wich­ti­ge Ver­bin­dung zur Ritu­al­theo­rie offen­legt. Im Umfeld einer Buch­ver­öf­fent­li­chung fin­den sich zudem Hand­lun­gen, die den Bezug zu Ritua­len im enge­ren Sin­ne noch deut­li­cher zei­gen. Lesun­gen zum Bei­spiel kön­nen als per­for­ma­ti­ve Aus­for­mu­lie­rung der Stel­lung von Autor:innen im lite­ra­ri­schen Dis­kurs inter­pre­tiert wer­den; die Zuhörer:innen neh­men wil­lent­lich die pas­si­ve Rol­le des Rezi­pi­en­ten ein und ver­si­chern Autor:in und Öffent­lich­keit damit der Rele­vanz des vor­tra­gen­den Indi­vi­du­ums. Die Bedeu­tung der Ver­an­stal­tung lei­tet sich maß­geb­lich von ihrer in der Tra­di­ti­on ver­an­ker­ten For­ma­li­sie­rung ab, das For­mat ist schließ­lich bekannt und akzep­tiert; das Publi­kum kon­sti­tu­iert sich als Gemein­schaft in der Funk­ti­on des Rezi­pi­en­ten; und die Lesung dient nicht in ers­ter Linie dem Zweck, dass die Zuhörer:innen den Inhalt des Wer­kes ken­nen­ler­nen, son­dern ver­weist dar­über hin­aus auf die Eta­blie­rung bzw. Fes­ti­gung der Autor:innenrolle im Dis­kurs. In etwas gerin­ge­rer Deut­lich­keit lässt sich die­ser Ritual­cha­rak­ter auch für Inter­views oder Dis­kus­sio­nen über lite­ra­ri­sche Gegen­stän­de fest­stel­len. Wenn es sich hier­bei nicht um öffent­li­che Ver­an­stal­tun­gen vor Publi­kum, son­dern um medi­al über­tra­ge­ne Ereig­nis­se han­delt, ist den Zuschau­en­den bzw. Zuhö­ren­den die Auf­merk­sam­keit einer vir­tu­el­len Gemein­schaft bewusst, die die pri­vi­le­gier­te Stel­lung des:der Autor:in inner­halb des Dis­kur­ses deut­lich macht. Und bei öffent­li­chen Ver­an­stal­tun­gen, die zusätz­lich medi­al über­tra­gen wer­den, stellt die Insze­nie­rung des Publi­kums­in­ter­es­ses einen zen­tra­len Aspekt der ritu­el­len Über­zeu­gungs­kraft dar. Eine ent­schei­den­de Bedeu­tung haben für die­se per­for­ma­ti­ven Aspek­te der akti­ven Dis­kurs­teil­nah­me vor einer sicht­bar prä­sen­ten Öffent­lich­keit natür­lich kana­li­sie­ren­de und kon­zen­trie­ren­de Anläs­se wie bei­spiels­wei­se Buch­mes­sen oder Lite­ra­tur­fes­ti­vals. Ihr Feh­len wäh­rend der Coro­na­pan­de­mie bedeu­tet eine erheb­li­che Stö­rung der Ord­nung die­ses Dis­kur­ses, die spe­zi­ell die Eta­blie­rung neu­er Akteu­re erschwert. Kon­kret ist die weit­hin emp­fun­de­ne Pro­ble­ma­tik des Umstan­des, dass „Kul­tur nicht statt­fin­den kann“, eben unter ande­rem dar­auf zurück­zu­füh­ren, dass Künst­ler nicht im direk­ten Publi­kums­kon­takt als Künst­ler insze­niert wer­den kön­nen, was ihre Beein­flus­sung des Dis­kur­ses ent­schei­dend hemmt.

Über das lite­ra­ri­sche Werk kann ein:e Autor:in natür­lich auf den poli­ti­schen Dis­kurs ein­wir­ken. Will sie:er die­sen Ein­fluss jedoch selbst aus­üben, ohne auf ande­re Akteu­re ange­wie­sen zu sein, muss er unter dem Vor­zei­chen des ent­spre­chen­den Ritu­als selbst an die­sem Dis­kurs teilnehmen.

Autor:innen im politischen Diskurs

Stär­ker noch als im lite­ra­ri­schen Dis­kurs exis­tiert inner­halb des poli­ti­schen Dis­kur­ses eine aus­ge­präg­te Sym­bol­spra­che, die sich in einem Span­nungs­feld von aktua­li­sie­ren­der Dyna­mik und sta­bi­li­sie­ren­der Sta­tik bewegt. Es gibt unmiss­ver­ständ­li­che, von einer lan­gen Tra­di­ti­on gestütz­te Zei­chen, die die Befä­hi­gung eines Indi­vi­du­ums zu einer akti­ven Rol­le im poli­ti­schen Dis­kurs in Rich­tung der Gesell­schaft signa­li­sie­ren. Zuvor­derst ist hier ein durch eine Wahl legi­ti­mier­tes poli­ti­sches Man­dat zu nen­nen, das ja gleich­sam auch den Auf­trag zur Mit­ge­stal­tung der Poli­tik und damit auch des poli­ti­schen Dis­kur­ses beinhal­tet. Tho­mas Mey­er, der die Wirk­macht und Bedeu­tung von Ritua­len in der Sphä­re des Poli­ti­schen, beson­ders im Hin­blick auf moder­ne Demo­kra­tien beschrie­ben hat, bezeich­net Par­la­ments­wah­len als das „zen­tra­le Ritu­al der Demo­kra­tie“ (Mey­er: 209). Dem­entspre­chend groß ist die damit ver­bun­de­ne Legi­ti­ma­ti­on. Die­ses Man­dat bringt außer­dem ver­schie­de­ne Mög­lich­kei­ten sei­ner per­for­ma­ti­ven Aus­ge­stal­tung mit sich. Je enga­gier­ter die­se Mög­lich­kei­ten genutzt wer­den, umso mehr wird der jewei­li­ge Akteur auch als ent­schei­den­de Stim­me inner­halb des Dis­kur­ses wahr­ge­nom­men. Dazu gehö­ren Reden im Par­la­ment, die ihre ritu­el­le Kraft in Bezug auf die Gesamt­ge­sell­schaft frei­lich erst durch die Über­tra­gung und Rah­mung durch die Mas­sen­me­di­en, zum Bei­spiel im Kon­text von Nach­rich­ten­sen­dun­gen, ent­fal­ten. Dazu gehö­ren auch die schon erwähn­ten Auf­trit­te in Talk­shows, in denen Poli­ti­ker als kom­pe­ten­te Ver­tre­ter eines bestimm­ten Dis­kur­ses bezie­hungs­wei­se eines bestimm­ten Inhalts eines Dis­kur­ses insze­niert wer­den. Man darf natür­lich auch die per­sön­li­che Begeg­nung von Poli­ti­kern mit Bür­gern, die die poli­ti­sche Sphä­re auf per­so­na­ler Ebe­ne anschluss­fä­hig macht, in die­sem Zusam­men­hang nicht ver­ges­sen. Die­se nivel­liert die Unter­schie­de zwi­schen den akti­ven und den pas­si­ven Akteu­ren des Dis­kur­ses nicht etwa, son­dern legi­ti­miert sie durch eine sub­jek­tiv erfahr­ba­re Ver­bin­dung zwi­schen den beiden.

Zu Beginn habe ich aber betont, dass der poli­ti­sche Dis­kurs, zumin­dest im Rah­men die­ses Essays, kei­nes­wegs mit dem Dis­kurs in der Poli­tik bzw. dem Dis­kurs von Poli­ti­kern gleich­zu­set­zen ist. Es ist auch bereits ange­klun­gen, dass die Akteu­re der hier inter­es­sie­ren­den Grup­pe der Autor:innen auch ohne ein poli­ti­sches Man­dat Zugang zu den Schalt­stel­len des Dis­kur­ses erhal­ten kön­nen: zum Bei­spiel über das Feld genu­in poli­ti­scher Publi­zis­tik oder aber mit­hil­fe jener per­for­ma­ti­ven Prak­ti­ken, die das Vor­recht der gewähl­ten Volks­ver­tre­ter dar­stel­len, aber in mehr oder min­der sel­te­nen Aus­nah­men auch für ande­re Per­so­nen offen­ste­hen (z.B. Reden im Par­la­ment oder auf Par­tei­ta­gen, Teil­nah­me an poli­ti­schen Talk­shows). Wirk­sam sind die­se vor allem dann, wenn sie sich mit ande­ren Zei­chen per­sön­li­cher poli­ti­scher Kom­pe­tenz ver­knüp­fen las­sen, zum Bei­spiel mit der Mit­glied­schaft in einer Par­tei oder der Ver­öf­fent­li­chung genu­in poli­ti­scher Tex­te. Je nach Bedarf kann von Kri­ti­kern dann natür­lich der Makel des nicht voll­stän­dig voll­zo­ge­nen Zugangs­ri­tu­als, also des feh­len­den Man­dats durch Wah­len, auf­ge­ru­fen wer­den. Ent­schei­dend ist aber, dass Autor:innen den poli­ti­schen Dis­kurs auf die­se Art und Wei­se nicht nur indi­rekt mit­ge­stal­ten kön­nen, son­dern durch die Über­nah­me einer vor­de­fi­nier­ten Rol­le in dem­sel­ben als spre­chen­de Sub­jek­te inner­halb des Dis­kur­ses aner­kannt wer­den und ihn somit selbst maß­geb­lich mit­prä­gen können. 

Die skiz­zier­ten Dis­kurs­ri­tua­le sind, wie bereits erwähnt, sta­bi­le Gebil­de. Sie sind aber nicht starr, son­dern von ste­ti­gem Wan­del geprägt. Die­se Ritu­al­dy­na­mik steht in enger Wech­sel­wir­kung mit der gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lung, was im Fol­gen­den anhand von zwei grund­le­gen­den Ten­den­zen in den west­li­chen Gesell­schaf­ten der Gegen­wart kon­kre­ti­siert wer­den soll: Kul­tu­rel­le Diver­si­fi­zie­rung und Digitalisierung.

Ritualdynamik

Die fort­schrei­ten­de kul­tu­rel­le Diver­si­fi­zie­rung in west­li­chen Gesell­schaf­ten sucht ihren Aus­druck in einer Infra­ge­stel­lung eta­blier­ter Ord­nungs­grund­sät­ze. Pri­vi­le­gie­ren­de Sym­bo­le im Kon­text von gesamt­ge­sell­schaft­lich rele­van­ten Dis­kur­sen, wie Weiß­sein, Männ­lich­keit und ein Name, der nicht auf eine Migra­ti­ons­ge­schich­te hin­deu­tet, sol­len nicht län­ger als sol­che fun­gie­ren. Dies führt zur Gegen­wehr von­sei­ten eini­ger Akteu­re, die in die­se Ord­nung ein­ge­bet­tet sind und von ihr pro­fi­tie­ren. Die­se Kon­flik­te gehen mit noch tief­grei­fen­de­ren Aus­hand­lungs­pro­zes­sen des Ritu­als ein­her, zum Bei­spiel im Hin­blick auf die ver­wend­ba­re Spra­che als akzep­tier­tes Zei­chen­sys­tem. Eta­blier­te sprach­li­che Mus­ter und Sym­bo­le wer­den infra­ge gestellt, wenn sie auf Akteu­re mit grund­le­gend ande­ren Erfah­rungs­ho­ri­zon­ten tref­fen, die den Anspruch haben, die dis­kur­si­ven Ord­nun­gen in ihrer Gesell­schaft mit­zu­be­stim­men. Plötz­lich wer­den näm­lich belei­di­gen­de und dis­kri­mi­nie­ren­de Impli­ka­tio­nen und Expli­ka­tio­nen sicht­bar, die vor­her auf­grund man­geln­den Wider­spruchs im Ver­bor­ge­nen oder zumin­dest unhin­ter­fragt blie­ben, wor­auf­hin die For­de­rung nach einer Ände­rung bzw. Abschaf­fung die­ser Prak­ti­ken gestellt wird. Eine Ände­rung des Ritu­als bedeu­tet jedoch eine Ände­rung der Dis­kurs­ord­nung und die­se gefähr­det wie bereits ange­spro­chen in vie­len Fäl­len die Pri­vi­le­gie­rung der bis­he­ri­gen Akteu­re und bedeu­tet damit eine grund­le­gen­de Ver­schie­bung von Macht­ver­hält­nis­sen in Bezug auf die Deu­tung von Wirk­lich­keit. So wun­dert die häu­fi­ge und hef­ti­ge Dif­fa­mie­rung von in die Ord­nung des Dis­kur­ses ein­grei­fen­den Maß­nah­men nicht – man den­ke nur an die Bemü­hun­gen zur geschlech­ter­sen­si­blen Sprachverwendung.

An die­sem Bei­spiel lässt sich auch der Unter­schied zwi­schen der indi­rek­ten Beein­flus­sung des poli­ti­schen Dis­kur­ses (und damit der gesell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit) über die Teil­nah­me am lite­ra­ri­schen Dis­kurs auf der einen Sei­te und der direk­ten Par­ti­zi­pa­ti­on am poli­ti­schen Dis­kurs durch die Über­nah­me einer ritu­al­ge­stütz­ten Rol­le in dem­sel­ben noch­mals illus­trie­ren. Schließ­lich wirkt schon allein die Ver­öf­fent­li­chung eines lite­ra­ri­schen Wer­kes im Zusam­men­spiel mit dem für den lite­ra­ri­schen Dis­kurs typi­schen Ritu­al auf eine Ände­rung der ritu­al­ty­pi­schen Sym­bo­lik hin, wenn die betref­fen­de Per­son bei­spiels­wei­se eine schwar­ze Frau mit Migra­ti­ons­ge­schich­te ist. In die­sem Sinn ist die Publi­ka­ti­on allei­ne schon ein poli­tisch enga­gier­ter Akt, weil sie über die Beein­flus­sung eines gesamt­ge­sell­schaft­lich rele­van­ten Inter­dis­kur­ses auch die gesell­schaft­li­che Rea­li­tät beein­flus­sen kann. Eine Dis­kus­si­on über die gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se und die Not­wen­dig­keit ihrer Ände­rung kann die­se Per­son jedoch erst mit­be­stim­men, wenn sie öffent­lich sicht­bar die Büh­ne des poli­ti­schen Dis­kur­ses betritt, zum Bei­spiel über die Dar­le­gung ihrer Argu­men­te in einer Talk­show als Teil der öffent­li­chen poli­ti­schen Debatte.

Eine wei­te­re grund­le­gen­de Ent­wick­lung, die zu einer ver­stärk­ten Infra­ge­stel­lung der herr­schen­den Dis­kurs­ri­tua­le in den bei­den hier im Zen­trum ste­hen­den Dis­kur­sen führt, voll­zieht sich nun­mehr seit gerau­mer Zeit in Bezug auf die media­len Aus­drucks­for­men gesell­schaft­li­cher Kommunikation.

Vor dem epo­cha­len Ein­schnitt, den Digi­ta­li­sie­rung und Inter­net bedeu­te­ten, waren die Dis­tri­bu­ti­ons­me­cha­nis­men von Dis­kurs­bei­trä­gen der­art restrik­tiv, dass eine star­ke Selek­ti­on erfolg­te, bevor Äuße­run­gen den Dis­kurs über­haupt erreich­ten. Nun sehen sich die alten Kon­troll­in­stan­zen (Ver­la­ge, Zei­tun­gen, Fern­seh- und Radio­sen­der, …) aber seit eini­gen Jah­ren mit einer Situa­ti­on kon­fron­tiert, in der sie kein zwin­gen­der Bestand­teil der Dis­kurs­ver­mitt­lung mehr sind. Tex­te und Mei­nungs­äu­ße­run­gen kön­nen in Eigen­re­gie ver­öf­fent­licht wer­den, über eine Web­site, einen Blog und vor allem über Social Media. In vie­ler­lei Hin­sicht befin­den wir uns in einer Über­gangs­zeit. Ver­bind­li­che Ritua­le, die den Dis­kurs in die­sen neu­en Medi­en kon­trol­lie­ren, bil­den sich zwar lang­sam her­aus, zum Bei­spiel im Fall von You­Tube-Vide­os: die Klick­zahl wird zum sym­bo­li­schen Kapi­tal, die Ein­blen­dung von Quel­len­be­le­gen steht für Serio­si­tät, Kanä­le wer­den zu Netz­wer­ken und Mar­ken, die die Dis­kurs­ord­nung prä­gen. Die­se Ritua­le kön­nen gesamt­ge­sell­schaft­lich aber noch nicht das Maß an Auto­ri­tät bean­spru­chen, das die in der ana­lo­gen Medi­en­land­schaft aus­ge­bil­de­ten Ritua­le aus­zeich­net. Im Hin­blick auf Jugend­li­che und jun­ge Erwach­se­ne mag dies zwar anders aus­se­hen, aber die­sen fehlt als gesell­schaft­li­che Grup­pe wie­der­um die Deu­tungs­macht, die eine sub­stan­ti­el­le Neu­ord­nung des Dis­kur­ses vor­aus­setzt. Der Umstand, dass die­sel­ben Men­schen in zwan­zig Jah­ren die gesell­schaft­li­chen Ent­schei­dungs­po­si­tio­nen beset­zen wer­den und ihr Leit­me­di­um dann mit hoher Wahr­schein­lich­keit sehr wohl einen ent­schei­den­den Platz in der Dis­kurs­ord­nung ein­neh­men wird, ver­deut­licht, dass die Dyna­mik die­ser Ord­nun­gen auch in hohem Maße eine Gene­ra­tio­nen­fra­ge ist. Indi­ka­to­ren für eine Neu­jus­tie­rung der poli­ti­schen Dis­kurs­ord­nung über Misch­for­men sind bereits unver­kenn­bar vor­han­den, und zwar in Form ent­spre­chen­der Hand­lun­gen eta­blier­ter Akteu­re, wie zum Bei­spiel der Grün­dung des Online-Con­tent-Netz­wer­kes funk durch ARD und ZDF im Jahr 2016 oder der Ein­bin­dung von Social Media in Talk­shows über die Dis­kus­si­on von Nut­zer­kom­men­ta­ren. Für Autor:innen bedeu­tet dies: heut­zu­ta­ge gibt es zwar viel­fäl­ti­ge­re Zugangs­mög­lich­kei­ten zum lite­ra­ri­schen und poli­ti­schen Dis­kurs, die Eta­blie­rung als aner­kann­ter Akteur muss aber noch weit­ge­hend über die tra­di­tio­nel­len Ritua­le statt­fin­den. In den kom­men­den Jahr­zehn­ten könn­te sich die Situa­ti­on aber grund­le­gend ändern.

Fazit

Gesell­schaft­li­che Dis­kur­se sind sehr stark vom Wech­sel­spiel zwi­schen ihren Inhal­ten und deren Ver­mitt­lung geprägt. Zumin­dest gilt es, die gro­ße Bedeu­tung sym­bo­li­scher, tra­di­ti­ons­be­zo­ge­ner und per­for­ma­ti­ver – also ritu­al­ty­pi­scher – Fak­to­ren bei der Ana­ly­se von Dis­kur­sen in ange­mes­se­ner Form zu berück­sich­ti­gen. Die­se erwei­ter­te Per­spek­ti­ve kann hel­fen, die Mecha­nis­men gesell­schaft­li­cher Kom­mu­ni­ka­ti­on bes­ser zu ver­ste­hen und zu erklä­ren. Argu­men­te und Ideen kön­nen nicht los­ge­löst von den sie ver­brei­ten­den Akteu­ren und der Art ihrer Ver­brei­tung betrach­tet wer­den. Das führt dazu, dass die Stel­lung die­ser Akteu­re inner­halb der Ord­nung des Dis­kur­ses zu einem ent­schei­den­den Fak­tor wird, der wie­der­um maß­geb­lich von ihrer ritu­el­len Per­for­manz beein­flusst wird, wie am Bei­spiel von Autor:innen im lite­ra­ri­schen und poli­ti­schen Dis­kurs gezeigt wur­de. Dies soll natür­lich nicht die Rele­vanz der inhalt­li­chen Dimen­si­on von Äuße­run­gen inner­halb eines Dis­kur­ses in Abre­de stel­len, son­dern das Zusam­men­spiel von ver­schie­de­nen Fak­to­ren bes­ser zu ver­ste­hen und ein­zu­schät­zen helfen.

Lite­ra­tur

Fou­cault, Michel: Die Ord­nung des Dis­kur­ses, Frank­furt 1991.

Link, Jür­gen: Spra­che, Dis­kurs, Inter­dis­kurs und Lite­ra­tur (mit einem Blick auf Kaf­kas Schloß), in: Käm­per, Heid­run / Eichin­ger, Lud­wig M. (Hg.): Spra­che — Kogni­ti­on — Kul­tur. Spra­che zwi­schen men­ta­ler Struk­tur und kul­tu­rel­ler Prä­gung, Ber­lin 2008, S. 115–134.

Mey­er, Tho­mas: Ritua­le der Poli­tik, in Micha­els, Axel (Hg.): Die neue Kraft der Ritua­le, Hei­del­berg 2007, S. 201–212.

Johan­nes Queck, 1995 in Kro­nach gebo­ren, stu­dier­te in Augs­burg Euro­päi­sche Kul­tur­ge­schich­te, Geschich­te und Anglis­tik. Nach dem Bache­lor absol­vier­te er die Aus­bil­dung für die 3. Qua­li­fi­ka­ti­ons­ebe­ne im baye­ri­schen wis­sen­schaft­li­chen Biblio­theks­we­sen und arbei­tet seit sei­nem Abschluss in der Ost­eu­ro­pa­ab­tei­lung der Baye­ri­schen Staats­bi­blio­thek. Par­al­lel dazu stu­diert er Ethik der Text­kul­tu­ren in Augsburg.