© Hollis King
Wenn Musiker und Publikum nicht zusammenfinden
Ein Eindruck zu Kenny Garrett & Sounds from the Ancestors im botanischen Garten in Augsburg
von Roman Matzke
Dass es zwischen den Augsburgern und Saxophonist Kenny Garrett nicht harmonieren wird, hätte ich bereits einer der mir vorgeschlagenen Suchmaschinen-Fragen des Vorabends entnehmen können: Ist Kenny Garrett Kenny G? heißt es. Ouch. Für einen Jazzmusiker eines solchen Kalibers eine schmerzhafte Assoziation, wo doch der Easy-Listening Jazz des Letzteren seit Jahrzehnten sein Zielpublikum im Zahnarztwartezimmer findet und mit Garretts virtuosem Lebenswerk wenig zu tun hat. Dass das Publikum den 30. Jazzsommer im botanischen Garten heute Abend allerdings lieber mit den seichten Klängen des Herrn Gorelick verbracht hätte, steht nicht außer Frage.
Pünktlich um 20 Uhr soll es losgehen. Fünfzehn Minuten später immer noch keine Spur von Garrett und Co. – auch verwunderlich, immer noch schwirren Platzsuchende durch die Reihen. Um siebzehn nach betritt ein Herr im Anzug die Bühne, was heißt, dass nun auch noch eine (wie immer) viel zu lange Begrüßung aka. Sponsorenlobrede auf die Wartenden zukommt. Waren die Spätankömmlinge eventuell so vorausdenkend und erhofften sich, mit legerer Verspätung dieser verbalen Tortur zu entkommen? Aber nix da. Alle dürfen sich für ein paar Minuten fremdschämen, als ein uninspirierter Promotext vom Blatt abgelesen wird. Phrasen wie „Virtuose und facettenreicher Melodiker“ werden derart unbeholfen artikuliert, dass nach zwei Worten klar wird, wie wenig Mühe in die Vorbereitung gesteckt wurde. Keine schöne Note für den Einstieg.
Fast eine halbe Stunde zu spät, aber die Band schafft es schließlich doch noch Richtung Bühne. An der Spitze läuft allerdings nicht Kenny, sondern Drummer Ronald Bruner Jr., der sofort Blicke erntet. Mit knallrotem Bucket Hat, riesiger Sonnenbrille, Goldketten und einer Hose, deren Schritt etwa auf Kniehöhe zu verorten ist, stolziert der junge Herr voran als wäre er der Leader. Wer meint, dass Bruners Outfit bereits Ich bin der eigentliche Star schreit, der wird auch schnell genug von seinen selbstlobenden Handgestiken haben. So viel Selbstvertrauen kommt hierzulande schwierig an, um einige von meinem Sitzplatz aus hörbare Publikumsreaktionen nett auszudrücken.
Pianist Keith Brown und Bassists Corcoran Holt folgen bescheiden aber mit fröhlicher Miene; einige Meter hinter ihnen schafft es auch endlich Kenny Garrett auf die Bühne. Ohne große Begrüßung geht’s sofort in eine flotte Nummer des neuen Albums, Sounds from the Ancestors (2021). Die ersten Takte erklingen. Wenn wir mal ehrlich sind, herrscht in den Köpfen der Zuschauer sicher sofort Konsens, auch wenn es sich (noch) keiner traut auszusprechen: Was stimmt hier nicht?
Sicher denken sich die ein oder anderen „Gott steh mir bei, das wird ein langer Abend“ als es so klingt als würde die Gruppe versuchen, Jazzunwürdige aus dem Publikum zu vertreiben. Eine andere Theorie: wollen Garrett und Co. hier provokativ testen, wie viel akustische Akrobatik man den deutschen Banausen noch als hohe Kunst verkaufen kann? Auch im Jazz gibt es unkonventionelle Dissonanz; und so wild zu starten, ist wirklich ein Statement. Was hier in den ersten Takten abläuft, testet Limits und wird nicht für sondern gegen das Publikum gespielt. An sich möchte ich diese gewagte Entscheidung nicht kritisieren, machte Miles Davis mit seiner elektrischen Phase schließlich das Gleiche; dennoch sitzt es ungut im Magen, wenn man sich den Rest des Abends vor Augen hält.
Die nächsten Nummern klingen jedoch erstmal wieder nach „normalem“ Jazz – so wie man es auch vom programmbildenden Album kennt (was das schiefe Intro nur noch seltsamer macht). Nummern wie „Hargrove” liefern auf ganzer Linie ab: spannende Interaktionen der Improvisierenden und ein gekonnter Wechsel von „in” und „out” Spiel — also von wohlklingender Harmonie und herrlichem Chaos — verdeutlichen, was es heißt, in der Präsenz von Vollblutmusikern zu sein. Der große Unterschied zum Playback der Studioversion in den eigenen vier Wänden: Ronald Bruner Jr. dominiert live mit seinem autoritären Schlagzeugspiel den Abend. Hinter dem großen Ego steckt auch ein großer Sound. Diese permanente Wucht gefällt sicher nicht jedem Jazzfan, schließlich könnte Bruner mit seiner Präsenz den ein oder anderen Metaldrummer in Grund und Boden stampfen. Das ist eine Attitüde, die beim Ticketkauf sicher nicht erwartet wurde.
Es ist allerdings Garrett selbst, der zwei fremde Welten aufeinanderprallen lässt. Das Durchschnittsalter des Publikums liegt am heutigen Abend höflich geschätzt bei fünfzig plus. Realistisch gesehen halten wir uns aber bei sechzig auf. Für Jazzmusiker mit jung gebliebenem Geist und hippen Grooves mag das schmerzen, keine Frage. Aber dass dieser Clash der Kulturen so gar nicht funktionieren mag, hätte wohl zunächst keiner erwartet. Wir Augsburger sind zwar bekanntlich kein leichtes Publikum, aber darauf sollte man sich einlassen können.
Kann im Nachhinein der schlecht eingestellten PA die Schuld zugeschoben werden? Haben die Leute Kennys Aufrufe zum Mitsingen einfach nicht verstanden? Zwar lässt die Wiedergabe der Stimme durchweg zu wünschen übrig, aber der Grund für fehlende Partizipation liegt wohl einzig und allein darin: wir wollen nicht. Deutschlands Kulturlandschaft lebt in einer Performer-Zuschauer Spaltung, die nur ja nicht durchbrochen werden soll. Profis produzieren, Zuschauer konsumieren. Wenn Kenny also „Let’s get this party started – come on – come on“ rappt, dann heißt das höchstens, dass leichtes Fußwippen initiiert wird (rhythmisch inkorrekt, versteht sich).
Schlimmer noch: Garrett versucht, die Masse zusätzlich zum Mitklatschen zu bringen. Die Teilnahme stoppt — wie wäre es anders zu erwarten? – immer dann, wenn er nicht mehr direkt dazu auffordert. Was in den Kirchen aus Garretts Jugend freiwillige Freude war, wird hier als lästige Zwangsarbeit interpretiert. Aber, es geht noch schlimmer: als Kenny das Publikum zum Mitsingen auffordert, platzt ihm wohl endgültig der Kragen. Sein frustriertes „come oon, white people“ (i.e., so schwer ist das nun wirklich nicht, meine Güte) fasst den Abend wohl am adäquatesten zusammen: zwei grundverschiedene Vorstellungen treffen aufeinander. Und gänzlich zufrieden ist keine Seite.
21:47 Uhr: alle Musiker sind von der Bühne. Zunächst verabschiedet Kenny Klavier und Drums, geht dann selbst, und lässt Drummer Ronald den Groove allein ausspielen. Der sammelt erst noch Applaus und springt dann in einem Hauch von Coolness über das Pavillongeländer, um einen Abstecher ins Publikum zu machen — Händeschütteln für den letzten Egopush.
Aber Moment, war es das? Um viertel vor zehn? Kommt jetzt also die Pause? Nein, irgendwie kann es das nicht sein. Dann planen sie wohl eine lange Zugabe? Die Fans klatschen und klatschen, aber schließlich schleicht nur der Organisator auf die Bühne und teilt uns mit: „die Band weiß den Applaus zu schätzen, aber da sie nur 25-minütige Stücke haben, können sie leider nicht mehr spielen – an die Lärmschutzgrenze von 22 Uhr muss sich strikt gehalten werden“. Dass sich das nach improvisierter Lüge anhört, sollte jedem klar sein. Wohl hatten die Musiker eher keine Lust mehr auf das stocksteife Publikum. Nach verspätetem Start wäre es das Mindeste gewesen, das Set bis 22 Uhr zu spielen; auch macht das 25-Minuten-Argument wenig Sinn, wenn man sich vor Augen hält, dass nur eines der Stücke auf dem neuen Album die 10-Minuten-Marke ankratzt. Und mal ganz davon abgesehen, welche Jazzband ist nicht in der Lage mit einem Stück (egal ob Standard oder Eigenkomposition) in dreizehn Minuten Spaß zu haben?
Enttäuscht und mit einem Fragezeichen über dem Kopf verlasse ich den botanischen Garten und höre beim Vorbeilaufen ähnlich unzufriedene Stimmen. Ein ernüchternder Start in den 30. Jazzsommer. Für Kenny Garrett & Sounds from the Ancestors gilt es wohl, das Motto „never meet your heroes“ mit „never hear them live“ zu ergänzen — oder präziser, “never in the wrong venue”. Zwar ist das neue Studioalbum an sich ein wirklich solides Projekt, aber etwas Staub wird die Scheibe trotzdem erst mal sammeln dürfen.