© Dumont
Zum neuen Roman Vernichten von Michel Houllebecq
von Leo Blumenschein
Kann man sich selbst überholen? Kann man eine Bewegung vollziehen, die so weit über das geglaubte Ziel hinausreicht, dass sich der angestrebte archimedische Punkt selbst aufhebt?
Denkt man an Romanciers der alten Schule wie Louis-Ferdinand Célines und seinen zum Klassiker avancierten Roman „Reise ans Ende der Nacht“, so muss man diese Frage bejahen. Zwar steckt der Text voller Gewaltschilderungen, Menschenverachtung und anderer Formen von Leid, appelliert aber an das Gegenteil: Der Roman wurde zumeist als humanistische Anklage gelesen, die die Dinge kritisiert, die er darstellt. Die Beschreibungen von Elend und Zerfall einer Gesellschaft müssen zwangsweise zum Wunsch nach Verbesserung führen, so der Grundgedanke.
Eine ähnlich bemerkenswerte Bewegung vollzieht sich in Michel Houellebecqs neuem Roman Vernichten. Es ist die Geschichte einer Figur, die immer weiter geht, bis sie überraschend “ans Ende der Nacht” gelangt.
Da ist zunächst einmal Paul, engster Vertrauter des Französischen Wirtschaftsministers, der bei der Präsidentschaftswahl 2027 dem liberalen Kandidaten zum Sieg verhelfen soll. Paul ist dabei der Prototyp der spät-westlichen Degeneration; einerseits ein vernünftiger und intelligenter Mann, anderseits unfähig zu grundlegendem menschlichem Kontakt. Um diese Figur wird die Geschichte konstruiert. Der Roman beginnt, indem er von einer rätselhaften terroristischen Vereinigung erzählt, die seit geraumer Zeit die Nachrichtendienste und politischen Verantwortlichen Frankreichs ratlos lässt. Die Elemente des Agententhrillers allerdings schmelzen zusehends in der Hitze von Familienkonflikten. Immer weiter verschiebt sich der Roman ins Private: Pauls Vater, ein ehemaliger Mitarbeiter des Geheimdienstes, erleidet einen Schlaganfall, Pauls Ehe scheint am Ende und sein Bruder scheint zusehends labiler zu werden.
Kämpfe im Privaten spiegeln sich aber auch in gesellschaftlichen und politischen Konflikten wider: Während Pauls Schwager Herve der identitären Bewegung nahesteht, könnte man seine andere Schwägerin, eine Gesellschaftsjournalistin als links-liberal bezeichnen. Dass diese dabei moralisch absolut verkommen ist, während jener Herve als grundsympathischer und aufopfernder Charakter präsentiert wird, mag Houellebecq-Kenner nicht überraschen.
Dass in Vernichten auch eine Familiengeschichte mit ungewohnt plastischen Figuren erzählt wird, hingegen schon. Ist die Annäherung an das klassische Familienepos schon als Alterswerk zu betrachten? Wohl eher nicht: Es sind vielmehr die Anzeichen der gesellschaftlichen Spaltung, die sich im Familiären spiegelt. Enttäuschter Eros und körperlicher Verfall schweben weiterhin als böse Geister über allen Figuren. Gerade hier, in den Epizentren des Leides liegt die Strärke von Vernichten.
Trotzdem mischt sich etwas Ungewohntes in die Figuren Houellebecqs: Es ist eine vage, unbestimmte Hoffnung, welche die Protagonist*innen treibt. So nähern sich Paul und seine Ehefrau nach Jahren der Entfremdung wieder an; und auch für Pauls Vater, einen Pflegefall, scheint die Abwärtsbewegung gestoppt. Es sind gerade diese Lichtblicke, die übliche houellebecqusche Koordinaten wie Sex und Verfall ein Stück weit verschieben. Dabei haben wir es durchaus mit keinem positiven Roman zu tun: Eine gespaltene Gesellschaft, ein außer Kontrolle geratener, digitaler Raum und zutiefst unglückliche Lebensgeschichten lassen eigentlich kaum Hoffnung zu. Diese Bewegung aus Hoffnung und Hoffnungslosigkeit lässt den Roman dabei außergewöhnlich spannend werden. Stets ist man dazu geneigt, sich zu überlegen, ob die Hoffnung denn auch wirklich gerechtfertigt ist. Aber da sind noch andere Fragen: Was hat es mit der geheimnisvollen Terrororganisation auf sich, die sich zusehendes radikalisiert? Wird am Ende doch der Kandidat der “Front National” triumphieren? Und kann man eine zerbrochene Ehe wirklich retten? Viel wird verhandelt. Die Sprache ist dabei so scharf, dass man gewillt ist Houellebecq bedingungslos zu folgen. Man rennt durch die Ereignisse und Kapitel und weiß nicht, was an jenem Ende der Nacht auf einen warten mag. Tote wird es geben. Ist jene gerade noch gelobte Hoffnung also doch nur die aufgewärmte christliche Hoffnung auf Erlösung durch den Tod? Möglich, aber die Auffassung, dass sich Hoffnung lohnt, erinnert eher an Pascal als an Nietzsche und klingt so wenig nach Houellebecq, dass es manchmal fast rührselig komisch wirkt. Etwa wenn sich Pauls Bruder noch einmal neu in die Krankenschwester Marysa verliebt, neigt man als Leser*in gerne mal zur Skepsis gegenüber all dem “Glück”. Ganz abgesehen davon, dass dieses Glück ein “männliches Glück” ist: In der Rückkehr zu alten Rollenverhältnissen scheint für die Protagonisten ein Ausweg aus dieser vollkommen verkorksten Gegenwart zu liegen. Bei aller Brillanz und Unterhaltsamkeit darf man nicht vergessen: Houellebecq ist nicht nur ein genialer Schriftsteller, sondern auch ein rechtspolitischer Denker. Mit Spaß und Ironie hat Houellebecqs Werk nie etwas zu tun gehabt.
Spätestens seit seiner Rede anlässlich der Verleihung des Oswald-Spengler-Preises [1] 2018 hat sich gezeigt, dass Houellebecqs reaktionäre Motive und Figuren sich durchaus in seiner politischen Meinung widerspiegeln. Übrigens noch etwas, was er sich mit Louis-Ferdinand Céline teilt. Ob man sich davon abschrecken lässt, muss man dabei letztendlich für sich selbst entscheiden. Wirklich erschreckend hingegen die Verlautbarung am Ende: Vernichten wird Michel Houellebecqs letztes Buch sein. Seine Reise ans Ende der Nacht endet mit Vernichten, einem ungewöhnlich spannendem und manchmal nahezu versöhnlichem Roman.
[1] Übrigens eine Vereinigung, die von AFD- Bundespräsidentschaftskandidat Michael Otte ins Leben gerufen wurde.