Das Phantastische als Gefühl

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Ein Gespräch mit der Schriftstellerin María Cecilia Barbetta

von Cle­mens Heydenreich

„Ich muss nicht lan­ge suchen, all die­se Bil­der sind Teil mei­nes Lebens, und ich brau­che nur die Hand aus­zu­stre­cken, und sie sind mit­ein­an­der ver­bun­den, zual­ler­erst in mei­nem Herzen.“

Es war ein­mal eine schö­ne Jung­frau, die arbei­te­te als Schnei­de­rin bei ihrer Tan­te und war sehr unglück­lich, denn ihr Ver­lob­ter hat­te sie ver­las­sen und war in die wei­te Welt hin­aus­ge­gan­gen. Eines Tages begeg­ne­te ihr eine ande­re Frau, die war eben­so jung und schön wie sie und war sehr glück­lich: Denn auch sie hat­te einen Ver­lob­ten, der aber woll­te bei ihr blei­ben und sie hei­ra­ten — und ihr fehl­te nun nichts mehr zum immer wäh­ren­den Glück außer einem Hoch­zeits­kleid. Und das soll­te die unglück­li­che Schnei­de­rin ihr nähen.

Dass es eine Art Mär­chen-Plot ist, auf dem in María Ceci­lia Bar­bet­tas Debüt­ro­man „Ände­rungs­schnei­de­rei Los Mila­gros” die Hand­lung auf­setzt, ist wich­tig, sagt aber noch fast nichts aus. Denn ent­schei­dend ist — sozu­sa­gen — der nar­ra­ti­ve Über­bau die­ser Handlung.

Zum einen spielt der Roman nicht im Mär­chen­wald, son­dern in einer moder­nen Mega­ci­ty: im Bue­nos Aires der spä­ten Acht­zi­ger, in dem die 33 Roman­ka­pi­tel mun­ter zwi­schen diver­sen Orten (und Zeit­stu­fen) hin- und her­hüp­fen. Doch schafft die unüber­sicht­li­che Topo­gra­fie der Stadt wie auch des Tex­tes (anders als aus euro­päi­schen Groß­stadt­ro­ma­nen geläu­fig) nicht etwa ein Flui­dum hek­ti­scher Unbe­haust­heit, son­dern eher eins der Gebor­gen­heit: In den Plüsch­ses­seln eines Pla­ne­ta­ri­ums, im Karus­sell auf dem Rum­mel­platz oder vor der Pac-Man-Kon­so­le im Spiel­ka­si­no lässt es sich treff­lich von Lie­be und Fer­ne träu­men. Für Irri­ta­tio­nen sorgt eher — zum ande­ren — eine mor­bi­de Par­al­lel-Sphä­re, die in den Kel­lern der Meta­pho­rik stets prä­sent bleibt: die der Insekten.

Die näm­lich spen­det zwar einer­seits dem Volks­glau­ben her­zi­ge Meta­phern wie die vom Schmet­ter­ling als See­len­vo­gel oder im Bauch umher­flat­tern­des Ver­liebt­heits­sym­ptom, steht aber bei Bar­bet­ta auch für eine sehr see­len­lo­se Mecha­nik aus Begat­tungs­drang, Fres­sen und Gefres­sen­wer­den. Vor allem aber ver­knüpft sie die Iden­ti­täts­su­che Maria­nas, der Schnei­de­rin, mit der Schreib­wei­se des Tex­tes: So sehr ver­webt die Hel­din ihre uner­füll­ten Sehn­süch­te nach Ver­än­de­rung mit den sel­ben und offen­bar erfüll­ten Sehn­süch­ten ihrer Dop­pel­gän­ge­rin Analía, dass die­se ihr ganz peu á peu von der Freun­din zur Bedro­hung wird — und schließ­lich in einem sym­bo­li­schen Akt ver­nich­tet wer­den muss, damit Maria­na frei wer­den kann. Der Text also baut sei­ner Hel­din zur Ver­pup­pung einen Kokon aus Phan­ta­sien, ein Gespinst, in das er auch den Leser hin­ein­zieht: Denn die­sem selbst bleibt es über­las­sen, wie viel unter­schwel­li­ge Magie er im urban-moder­nen Set­ting des Romans wal­ten sehen will. Die Mit­tel, die er dazu an die Hand bekommt, sind ver­schie­dens­te For­men von Zei­chen­be­zü­gen und Zei­chen­spra­che: Wort­spie­le rund um schil­lern­de Meta­phern — Pup­pe, Stich, Läu­fer — machen nicht nur Bild­fel­der wie die der Ero­tik, der Insek­ten­welt und des katho­li­schen Volks­glau­bens für­ein­an­der durch­läs­sig, son­dern auch schein­bar unver­bun­de­ne Kapi­tel. Über klei­nen Illus­tra­tio­nen und vari­ie­ren­den Schrift­ty­pen stockt der Lese­fluss, und all­fäl­li­ge Farb­sym­bo­lik, kab­ba­lis­ti­sche Zah­len­spie­le und ana­gram­ma­ti­sche Namen las­sen geheim­nis­vol­le Quer­ver­bin­dun­gen zwi­schen Figu­ren und Text­pas­sa­gen erah­nen. Vor allem aber schließt jedes Kapi­tel mit einem ganz­sei­ti­gen Bild ab, einem „Stoff­mus­ter”, wie Bar­bet­ta es nennt: 33 Moti­ve, über­wie­gend Zita­te aus der Kunst- und Kul­tur­ge­schich­te, fügen dem je zuletzt gele­se­nen Abschnitt neue Sinn­di­men­sio­nen hin­zu, die der Text allei­ne nicht her­gibt, oder ver­wei­sen gar auf Künftiges.

Das alles nun klingt einer­seits wie ein Schul­buch-Bei­spiel zum The­ma „Post­mo­der­ne”: Ein Roman, der Zei­chen- und Medi­en­in­ter­fe­ren­zen nutzt, der von durch­läs­sig gewor­de­nen Iden­ti­tä­ten erzählt und sei­ne Sinn­stif­tung als ein Spiel betreibt, in dem der Leser gleich­be­rech­tigt mit­spie­len darf. Ande­rer­seits lässt die Atmo­sphä­re des Tex­tes, kipp­bild­ar­tig flir­rend zwi­schen Rea­lem und Irrea­lem, an den „Magi­schen Rea­lis­mus” der klas­si­schen Moder­ne Latein­ame­ri­kas den­ken. Rich­tig ist bei­des. Dass Bar­bet­ta das Grund­ge­fühl und die sprach­skep­ti­schen Schreib­wei­sen der Post­mo­der­ne mit roman­ti­schen Moti­ven aus­söhnt und so die Hoff­nung auf eine wie auch immer gear­te­te Stim­mig­keit im Wel­ten­ge­bäu­de am Leben hält (ein Ansatz, der in der jun­gen deut­schen Lyrik schon öfter begeg­net ist, in der Pro­sa aber noch kaum) — das dürf­te mit ein Grund gewe­sen sein, wes­halb sie für „Ände­rungs­schnei­de­rei Los Mila­gros” auf der Frank­fur­ter Buch­mes­se 2008 den „Aspekte”-Literaturpreis bekam. Und dass sie all das als Argen­ti­nie­rin in deut­scher Spra­che getan hat, mit dem unbe­las­tet-krea­ti­ven Blick der Nicht-Mut­ter­sprach­le­rin also, das trug ihr im März 2009 den Adel­bert-von-Cha­mis­so-För­der­preis ein.

Bereits vor­her — im Janu­ar 2009, nach einer Lesung in der Erlan­ger Volks­hoch­schu­le — konn­te Schau ins Blau die Autorin zu einem Inter­view tref­fen. Bar­bet­ta bekennt sich dar­in im Schrei­ben wie im Leben (über die oben genann­ten lite­ra­tur­ge­schicht­li­chen Strö­mun­gen hin­aus) zu einer Tra­di­ti­on, die schon vor vie­len Jahr­zehn­ten Euro­pa und Latein­ame­ri­ka ver­band und ein Revi­val der Roman­tik im Zei­chen der Moder­ne fei­er­te: zum Sur­rea­lis­mus. Ein Gespräch über (Kipp-)Bilder und (Prä-)Texte von Jules Ver­ne bis Julio Cor­tá­zar, über Schmet­ter­lin­ge, Comic-Ama­zo­nen, mys­ti­sche Momen­te und geprü­gel­te Schweine.

Schau ins Blau: Wenn wir heu­te – Ende Janu­ar 2009 – Ihren Namen in die „Wiki­pe­dia“ ein­ge­ben, dann fin­det sich noch kein Ein­trag zu Ihnen, statt des­sen aber zu einem ita­lie­ni­schen Kom­po­nis­ten namens Bar­bet­ta. Spä­tes 16. Jahr­hun­dert. Ist das ein Vor­fahr von Ihnen?

Bar­bet­ta: (lacht) Das weiß ich nicht…

Schau ins Blau: Ich kom­me des­we­gen drauf, weil die­ser Herr Bar­bet­ta ja noch die frü­he Barock­zeit erlebt haben könn­te. Viel­leicht wür­de er sich in Ihrem Text also ganz wohl füh­len – denn auch der ist ja eine baro­cke Kom­po­si­ti­on, ein Arran­ge­ment ver­schie­dens­ter Din­ge, Bil­der, Wor­te, auch von Musik. Füh­len Sie sich sel­ber dem baro­cken Lebens­ge­fühl nahe?

Bar­bet­ta: Natür­lich! Ich habe mal behaup­tet, die „Ände­rungs­schnei­de­rei“ sei eine Wun­der­kam­mer, und das hat natür­lich mit dem Barock zu tun. Ich bin eine Samm­le­rin, ich lie­be voll­ge­stopf­te Räu­me, und was ich an Wun­der­kam­mern mag: Die haben eine ganz spe­zi­el­le, eine etwas ande­re Ord­nung der Din­ge. Dicht anein­an­der gibt es da dis­pa­ra­te Din­ge, und wenn man die genau­er betrach­tet, dann kann man eine Art Ver­wandt­schaft zwi­schen ihnen fin­den, das fin­de ich reiz­voll an der Idee der Wun­der­kam­mer. Es gibt einen schö­nen Text von Jor­ge Luis Bor­ges, mit dem Michel Fou­cault sein Buch Die Ord­nung der Din­ge ein­lei­tet: Bor­ges beschreibt eine chi­ne­si­sche Enzy­klo­pä­die, die auch eine Art Wun­der­kam­mer ist. Da geht es um eine etwas ande­re Ord­nung der Tie­re: Es gibt „Fabel­tie­re“, es gibt „gezähm­te Tie­re“, es gibt „Tie­re, die von wei­tem wie Flie­gen aus­se­hen“ – eine schö­ne poe­ti­sche Anord­nung der Tier­welt. Und so etwas ver­su­che ich auch im Leben über­haupt zu fin­den. Des­we­gen ist mein Roman eine Wun­der­kam­mer – eine Mischung aus Text und Bild, anschei­nend eine Mischung aus dis­pa­ra­ten Din­gen, aber wenn man sich auf die­ses Spiel ein­lässt, dann erkennt man eine… – ja, eine Ordnung.

Schau ins Blau: Da wun­dert es mich nicht, dass Sie in einer Text­stel­le die­sen net­ten alten Hoch­zeits-Aber­glau­ben auf­grei­fen, dass man auf der Fei­er „was Altes, was Neu­es, was Geborg­tes und was Blau­es“ tra­gen müs­se – denn auch dabei gehen die Kate­go­rien ja so wild durch­ein­an­der wie in die­ser Enzyklopädie…

Bar­bet­ta: Ja – man soll­te viel­leicht Bücher nach die­sem Prin­zip schrei­ben! (Lacht)

Schau ins Blau: Ihr Roman heißt Ände­rungs­schnei­de­rei Los Mila­gros. „Mila­gros“ bedeu­tet „Wun­der“. Und er heißt nicht: „Die Ände­rungs­schnei­de­rei…“, son­dern ohne Arti­kel, so als wür­de der Titel als ein Schild über dem Ein­gang des Buches hän­gen und als wäre das Buch somit ein Raum dahin­ter. Tat­säch­lich habe ich beim Lesen öfter einen räum­li­chen, mehr­di­men­sio­na­len Ein­druck gehabt, weil man, durch die ver­schie­de­nen Bil­der ange­regt — deren Sinn sich oft erst spä­ter erschließt –, sehr ins Vor- und Zurück­blät­tern gerät. Haben Sie das beab­sich­tigt, dass der Leser ein biss­chen mäan­dern soll?

Bar­bet­ta: „Mäan­dern“ ist schön. Aber: „Beab­sich­tigt“ habe ich nichts. Ich habe beim Schrei­ben das Gefühl gehabt, dass ich nicht lan­ge suchen muss­te. Die Bil­der waren von Anfang an da, das Cover war von Anfang an da, ich den­ke auch häu­fig in Bil­dern, ver­su­che auch beim Schrei­ben so vie­le Bil­der zu evo­zie­ren wie mög­lich. Mir geht es um Sinn­lich­keit und Plas­ti­zi­tät, und viel­leicht spre­chen Sie des­we­gen von „Raum“. Was das Wun­der angeht, da gibt es zwei­er­lei: Einer­seits heißt Mila­gros Wun­der, aber auch die Besit­ze­rin die­ser Schnei­de­rei heißt so. Mila­gros ist ein katho­li­scher Name, mitt­ler­wei­le ohne Kon­no­ta­ti­on – kein spa­nisch spre­chen­der Mensch denkt an Wun­der, wenn eine Frau sich vor­stellt und sagt, ich hei­ße Mila­gros. Für mich ist die­se Dop­pel­deu­tig­keit äußerst wich­tig. Genau­so wich­tig wie die­ses Schild, das ich in Ber­lin an einer Ände­rungs­schnei­de­rei gese­hen habe. Da war zu lesen: „Ände­rung von Damen“, dar­un­ter „Kin­der- und Her­ren­be­klei­dung“, und bei „Ände­rung von Damen“ fehl­te der Bin­de­strich. Das ist die­ses „Änderungsschneiderei-Los-Milagros“-Wunder, also die­se Mög­lich­keit, den Text phan­tas­tisch zu lesen oder auch nicht. Denn die­se Schnei­de­rei in Ber­lin war inso­fern inter­es­sant, als es das Schild im ande­ren Schau­fens­ter noch ein zwei­tes Mal gab, aller­dings war da der Bin­de­strich: „Ände­rung von Damen‑, Kin­der- und Her­ren­be­klei­dung“. Und so hät­ten wir auch das „ande­re“ Mila­gros, also die rea­lis­ti­sche Les­art. Die Schnei­de­rin namens Mila­gros scheint zwar manch­mal für das Wun­der­ba­re zu ste­hen, aber eigent­lich steht sie mit bei­den Bei­nen auf der Erde, betreibt ihr eige­nes Geschäft, hat drei Mit­ar­bei­te­rin­nen usw. Sol­che Kipp­bil­der fas­zi­nie­ren mich.

Schau ins Blau: Die­ses Kipp­bild funk­tio­niert durch Spra­che, und da sind wir beim The­ma „Die Außen­sicht eines Zweit­sprach­lers auf eine Spra­che“. Ihr Roman ist ja auf Deutsch ver­fasst, und sei­ne Meta­pho­rik trägt viel zu die­sem räum­li­chen Lese­ein­druck bei. Denn vie­le Meta­phern sind Poly­se­mi­en. Die Pup­pe zum Bei­spiel: Die taucht auf als das Wort, dass die Stra­ßen-Machos der Analía hin­ter­her flö­ten, spä­ter dann als Schnei­der­pup­pe zum Maß­neh­men, aber natür­lich auch als der Schmet­ter­ling, der sich im Gespinst ver­än­dert. Also Text und Gespinst als ein Ort, wo Ver­än­de­rung statt­fin­den kann, das ist wich­tig. Sind sol­che Poly­se­mi­en im Deut­schen beson­ders aus­ge­prägt – inter­es­siert Sie das an die­ser Spra­che besonders?

Bar­bet­ta: Ja, das ist natür­lich das, was ich lie­be. Aber wenn ich einen Ver­gleich mit dem Spa­ni­schen anstel­len soll­te, wäre ich ver­mut­lich nicht die Rich­ti­ge. Ich glau­be, Fremd­sprach­ler haben in der Tat einen etwas ande­ren Blick auf die Spra­che. Schrei­ben auf Deutsch hat für mich viel mit Spie­len zu tun, mit einer kind­li­chen Ent­de­cker­freu­de, zumin­dest war ich sehr glück­lich beim Schrei­ben an der Ände­rungs­schnei­de­rei, unter ande­rem, weil sich mir die­se Poly­se­mi­en peu à peu erschlos­sen haben. Ich habe zum Bei­spiel in einem Kapi­tel ein gewöhn­li­ches Sub­stan­tiv gebraucht wie „der Läu­fer“, und dann ist mir ein­ge­fal­len: Moment mal, das kann ja auch die Schach­fi­gur sein. Und noch mal spä­ter dach­te ich: Wun­der­bar, jetzt kann ich die­sen Läu­fer auch als läng­li­chen Tep­pich ein­set­zen. Alfred Jar­ry, der für mich ein sehr wich­ti­ger Autor ist, spricht nicht von „Poly­se­mi­en“, er hat ein schö­ne­res Wort dafür: Er spricht von Wör­tern als „Ideen-Poly­edern“. Da haben wir das Räum­li­che wie­der, denn ein Poly­eder ist ja eine geo­me­tri­sche Figur, die ich mir aus ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven anschau­en kann. Und so war es bei mir, als ich die­sen Läu­fer im Kopf hat­te. Beim Schrei­ben ist für mich die Lust an der Spra­che der trei­ben­de Motor, die Lust, auch „Sei­ten­sprün­ge“ zu machen, die­ses Hin und Her. Das macht die deut­sche Spra­che in mei­nen Augen aus, die­se Poten­tia­li­tät der Wör­ter. Es ist ein biss­chen, als wür­de man eine hal­lu­zi­nie­ren­de Wirk­lich­keit vor Augen haben, wenn man sich auf die­ses Spiel ein­lässt, wenn man, wie Jules Ver­ne sagt, „mit bei­den Augen schaut“. Die­ses ande­re Schau­en ver­su­che ich zu trai­nie­ren. Die Sur­rea­lis­ten haben das Auge auf­ge­schlitzt, um zu zei­gen: Es gibt ein ande­res Sehen. Und für Alfred Jar­ry, einen Vor­läu­fer der Sur­rea­lis­ten, war nicht nur das Anders-Sehen wich­tig, son­dern sogar das Umden­ken, das Anders-Den­ken, und so hat er kon­se­quen­ter­wei­se eine „Enthir­n­ungs­ma­schi­ne“ erfun­den, damit man anders denkt. All das erscheint mir nicht nur in der Lite­ra­tur wich­tig, son­dern überhaupt.

Schau ins Blau: Zur Rol­le der Bil­der: Die 33 Bil­der, die jeweils ein Kapi­tel abschlie­ßen, nen­nen Sie „Stoff­mus­ter“. Die­se Bil­der sind Zita­te aus 2000 Jah­ren Kul­tur­ge­schich­te. Die Wun­der­kam­mer ver­sam­melt also auch ganz ver­schie­de­ne Zei­ten und Kulturkreise.

Bar­bet­ta: Ja, Sie spre­chen – das Fach­wort wird Sie begeis­tern – von „Dia­chro­nien“. (lacht) Das Wort habe ich letz­tens bei Roger Wil­lem­sen gele­sen und dach­te: Ah, das passt auch zu mei­nem Buch. Roger Wil­lem­sen spricht in sei­nem Buch Der Knacks von Dia­chro­nien und sagt: Wir neh­men den Leib Chris­ti in der Hos­tie auf, und dabei sind wir haupt­be­ruf­lich Han­dy­klin­gel­ton­de­si­gner. Sol­che Dia­chro­nien gibt es auch in Euro­pa, aber in Latein­ame­ri­ka sind sie natür­lich noch stär­ker zu spüren.

Schau ins Blau: Der Leib Chris­ti ist ein gutes Stich­wort, um zu Sprach­mys­tik und Bild­mys­tik zu kom­men. In Ihrem Roman heißt es: „Das Wort – DAS WORT – benennt nicht nur, es voll­zieht.“ Also es hat eine per­for­ma­ti­ve Wir­kung, wie auch im katho­li­schen Ritus bei der Trans­sub­stan­tia­ti­on: Der Pries­ter sagt’s, und die Ver­wand­lung ist voll­zo­gen. Kön­nen in der katho­li­schen Tra­di­ti­on auch Bil­der solch eine mys­ti­sche Auf­la­dung haben?

Bar­bet­ta: Na klar, Sie wis­sen ja sel­ber, dass Bil­der im Katho­li­zis­mus unglaub­lich wich­tig sind. Katho­li­sche Kir­chen sind bela­den mit Bil­dern, das ist eine beson­de­re Ästhe­tik, die ich sehr mag und bei der ich zuhau­se bin. Und was ich auch ganz toll fin­de: Sie grenzt manch­mal wohl­ge­merkt an den Kitsch. Die Fil­me von Almo­dó­var zum Bei­spiel grei­fen auch die­se katho­li­sche Ästhe­tik auf und spie­len iro­nisch mit ihren Kli­schees. Außer­dem: Der Katho­li­zis­mus geht in Latein­ame­ri­ka ein­her mit dem Aber­glau­ben – das zün­det, wür­de ich sagen.

Schau ins Blau: Die Bil­der zitie­ren, wie gesagt, wei­te Zeit­räu­me an, begon­nen bei der Göt­tin Diana/Artemis und endend mit einer Insek­ten-Skulp­tur aus dem Jahr 2000…

Bar­bet­ta: Es stimmt. Ich erzäh­le Ihnen dazu eine schö­ne Geschich­te: Julio Cor­tá­zar ist in den 50er Jah­ren von Bue­nos Aires nach Paris gezo­gen, und er erzählt, wie er dort in Paris eine Biblio­thek hat­te. Die war aus Holz, und die­ses Holz war schon alt und an der Sei­te nicht mehr so schön anzu­se­hen, und Cor­tá­zar fing an, an die­se Holz­leis­te Bil­der anzu­pin­nen. Dis­pa­ra­te Din­ge: Ein Kino­pro­gramm, ein Foto, eine Zeich­nung. Und er erzählt, wie er eines Abends – er war am Lesen – den Kopf von sei­nem Buch hob, sich die­se Holz­leis­te vol­ler ange­pinn­ter Din­ge anguck­te und in die­sem Moment eine durch­gän­gi­ge Linie ent­deck­te. Eine Linie, die plötz­lich da war, die oben anfing und unten ende­te, und all die­se dis­pa­ra­ten Din­ge mit­ein­an­der ver­bun­den hat­te. Die schlän­gel­te sich vor­bei an der Trom­pe­te von Lou­is Arm­strong, an einem Frau­en­rü­cken, an einem Wort und so wei­ter und so fort – das nennt Cor­tá­zar das „phan­tas­ti­sche Moment“. Da sind wir wie­der bei der ganz spe­zi­el­len Ord­nung eines Kunst­werks. Und die­ses Gefühl hat­te ich beim Schrei­ben an der Ände­rungs­schnei­de­rei: Ich muss nicht lan­ge suchen, all die­se Bil­der sind Teil mei­nes Lebens, und ich brau­che nur die Hand aus­zu­stre­cken, und sie sind mit­ein­an­der ver­bun­den, zual­ler­erst in mei­nem Her­zen. Ich habe natür­lich ver­sucht, dass es auch im Lau­fe des Romans klar wird, dass die­se Bil­der mit­ein­an­der kom­mu­ni­zie­ren. Und dann gibt es noch etwas, was Cor­tá­zar gesagt hat, was ich wun­der­schön fin­de. Sie ken­nen ja sicher­lich die Defi­ni­ti­on der Sur­rea­lis­ten für Schön­heit. Eigent­lich war es Lau­tré­a­mont, der das gesagt hat, und die Sur­rea­lis­ten haben es über­nom­men: „Die zufäl­li­ge Begeg­nung einer Näh­ma­schi­ne und eines Regen­schirms auf einem Sezier­tisch“. Das ist ihre Defi­ni­ti­on für Schön­heit. Und Julio Cor­tá­zar hat sich eine wun­der­ba­re Defi­ni­ti­on für das phan­tas­ti­sche Ele­ment in der Lite­ra­tur aus­ge­dacht. Er spricht von einer beson­de­ren Art von Osmo­se. Eini­ge Kri­ti­ker haben von mei­nem Roman behaup­tet, er sei ein „Patch­work-Roman“ oder eine „Text-Bild-Mon­ta­ge“, damit bin ich nicht ein­ver­stan­den, weil es mir nicht um ein Neben­ein­an­der oder Nach­ein­an­der geht, son­dern dar­um, dass die Din­ge inein­an­der über­ge­hen. Des­we­gen Osmo­se. Und Cor­tá­zar erklärt, wie so was geht. Also jetzt sein Rezept – das ich befolgt habe! (Lacht und liest vor) „Man neh­me ein Schwein, bin­de es an einen Pflock und prüg­le es, wäh­rend man ande­rer­seits aus ver­schie­de­nen Zuta­ten einen Teig berei­te und im Rüh­ren nur inne­hal­te, um wei­ter auf das Schwein ein­zu­schla­gen. Wenn es einem nach drei Tagen nicht gelun­gen ist, dass der Teig und das Schwein ein homo­ge­nes Gan­zes bil­den, kann man die Pas­te­te getrost als miss­glückt betrach­ten. In die­sem Fall wird man das Schwein los­bin­den und den Teig auf den Mist wer­fen.“ Sie kön­nen sich vor­stel­len: Ich lie­be außer­ge­wöhn­li­che Pasteten!

Schau ins Blau: Dar­auf kann ich jetzt nur mit einem neu­en The­ma kon­tern… Das Set­ting Ihres Romans ist Bue­nos Aires in den 80er Jah­ren. Also eine moder­ne, urba­ne Welt, aber von 2009 aus betrach­tet doch eine Art fast nost­al­gi­sche Moder­ne, in der man fast ein Gefühl von ste­hen geblie­be­ner Zeit hat: Da klin­gelt kein Han­dy, da hat das Ber­mu­da­drei­eck auch des­we­gen noch sei­ne unheim­li­che Aura, weil es weder GPS noch Goog­le Earth gibt. Und ein Gelieb­ter, der sich zu einer Odys­see ent­schlos­sen hat, der ist noch so rich­tig weg vom Fens­ter, sobald er kei­ne Post­kar­ten mehr schreibt. Ist die­se Art von Zeit­lo­sig­keit auch etwas, was Sie bewo­gen hat, spe­zi­ell die 80er Jah­re zu wäh­len, oder hat das mehr mit auto­bio­gra­fi­scher Inspi­ra­ti­on zu tun?

Bar­bet­ta: Ich füh­le mich da natür­lich zuhau­se. Und ich mag es, dass es kei­ne Han­dys gibt und so wei­ter. Klar, es hat auch was Alt­mo­di­sches. Wie auch eine Ände­rungs­schnei­de­rei etwas Alt­mo­di­sches hat – wer geht heu­te noch in eine Ände­rungs­schnei­de­rei? Man geht schnell zu H&M und kauft dort Kla­mot­ten. Also, ich mag die­se alt­mo­di­sche Welt, und ich hole sie mir zurück, indem ich dar­über schrei­be. Klar, Ende der 80er Jah­re, 90er Jah­re, das ist auch die Zeit mei­ner Jugend in Bue­nos Aires, und es lag auf der Hand, dass ich da anset­zen wür­de, wenn ich mei­nen ers­ten lite­ra­ri­schen Text schreibe.

Schau ins Blau: Nor­ma­ler­wei­se inter­es­siert es mich bei einem Roman über­haupt nicht, wie er ent­stan­den ist, aber bei einem sol­chen mul­ti­me­dia­len oder…

Bar­bet­ta: … jetzt müs­sen Sie sagen: Pas­te­te! Pas­te­te! … (lacht)

Schau ins Blau: … ja, wie Sie auf das Schwein ein­prü­geln, stel­le ich mir auch ger­ne vor, aber Ihr Text legt doch auch die klas­si­sche Tex­tur-Meta­pher sehr nahe: Da wer­den Fäden gespon­nen, die wer­den ver­webt und dann die Tei­le zusam­men­ge­schnei­dert. Ich kann mir vor­stel­len, dass Sie für die­se Arbeit — weil Ihr Arran­ge­ment von Moti­ven, Fäden, Geschichts­be­stand­tei­len so klein­tei­lig ist – dass Sie da ers­tens eine gan­ze Wei­le für gebraucht haben und zwei­tens, dass es nicht line­ar von Anfang bis Ende durch­ging, son­dern dass Sie immer wie­der mal par­al­lel… (Bar­bet­ta schüt­telt den Kopf) … nein?

Bar­bet­ta: Nein. Nein, des­we­gen habe ich auch die­se Geschich­te von Cor­tá­zar und der Holz­leis­te erzählt. Klar, ich habe mich zwar nicht hin­ge­setzt und mir gedacht: Ich schrei­be jetzt einen Roman. Ich dach­te: Ich schrei­be eine Erzäh­lung von 15 Minu­ten Lese­zeit, denn ich hat­te von einem Wett­be­werb für jun­ge, unent­deck­te Talen­te gehört, aus­ge­lobt von der Lite­ra­tur­werk­statt in Ber­lin. Ich hab natür­lich nicht gedacht: Du bist jung und unent­deckt, aber ich war in die­ser Zeit arbeits­los und dach­te, das wäre viel­leicht eine Chan­ce. Und so woll­te ich zuerst eine Erzäh­lung schrei­ben, die dann aber mit der Zeit län­ger wur­de. Mit dem Wett­be­werb hat es nie geklappt (das apro­pos „jun­ge, unent­deck­te Talen­te“), aber ich wur­de im Lau­fe des Schrei­bens, wie gesagt, glück­lich. Auch des­halb, weil ich das Gefühl hat­te, es geht wie von allei­ne. Natür­lich hab ich das Manu­skript immer wie­der redi­giert und teil­wei­se auch die Rei­hen­fol­ge der Kapi­tel geän­dert, aber Kapi­tel 1 war immer Kapi­tel 1, Kapi­tel 2 war immer Kapi­tel 2. Der Anfang blieb zum größ­ten Teil so, wie er war. Ich habe wenig geplant, ich wuss­te nur, es wird eine Art Dop­pel­gän­ger­ge­schich­te wer­den, mir war klar, es wird Bil­der geben, weil am Anfang ja ein Bild stand – eben die­ses Schild in der Ber­li­ner Schnei­de­rei. Auch das Cover war von Anfang an da: Die­se Näh­an­lei­tung habe ich vor Jah­ren auf einem Floh­markt in Ber­lin ent­deckt und gekauft, weil ich mich in die Zeich­nun­gen ver­liebt habe. Aber das Schrei­ben ging – viel­leicht auch, weil es für mich „das ers­te Buch“ war – von allei­ne, ohne dass ich wuss­te, wo es mich hin­führt. Ich hab mich ein­fach von der Lust am Spiel mit der Spra­che trei­ben lassen.

Schau ins Blau: Und es stand auch gleich fest, dass es 33 Bil­der gibt, und die haben Sie schon gehabt?

Bar­bet­ta: Nein, nein. „Schon gehabt“ im Sin­ne von: Es waren – mit zwei, drei Aus­nah­men – Bil­der, die in mei­nem Kopf waren, sich in mei­nem Arbeits­zim­mer befan­den, in mei­nem Kos­mos. Dass es 33 Kapi­tel wer­den wür­den, das habe ich nicht gewusst, ich fand es am Ende aber ganz schön und schlüs­sig, weil bereits im Kapi­tel 1 die Rede von der Zahl 33 ist. Maria­na zählt ihre Schrit­te, geht genau mit Schritt 33 an der Kir­che vor­bei, und des­we­gen denkt sie an …

Schau ins Blau: — wir sind grad in der 33. Minu­te, übri­gens… (zeigt aufs Dis­play des Aufnahmegeräts)

Bar­bet­ta: …oh nein – das ist toll! Sehen Sie, alles ist gut! (Lacht) – Also, Maria­na denkt an Chris­tus, der mit 33 am Kreuz gestor­ben ist. Und 33, das fin­de ich wun­der­bar, denn das ist sozu­sa­gen das Alter fürs „Stirb und Wer­de“: „Und solang du das nicht hast, / die­ses Stirb und Wer­de, / bist du nur ein trü­ber Gast / auf der dunk­len Erde“. Da sind wir über Goe­the auch wie­der beim Schmet­ter­ling. Die 33 war also für mich ganz wich­tig. Und Sie wer­den mir nicht glau­ben, aber nach­dem das Buch fer­tig war, ist mir klar gewor­den, dass ich genau mit 33 Jah­ren ange­fan­gen hat­te, es zu schrei­ben! Und die­se klei­nen Ent­de­ckun­gen – die sind für die Welt da drau­ßen nicht wich­tig, aber für mich. Die­se klei­nen Momen­te, wo ich den­ke: Ach – alles ist gut, die Welt ist stimmig.

Schau ins Blau: Mir kam Ihr Text manch­mal fast wie ein gro­ßes Gedicht vor. Was ihn ein biss­chen lyrisch macht, das sind zum Bei­spiel die­se Poly­se­mi­en und so wei­ter, dass also ein­zel­ne Wör­ter mehr­fach codiert sind, und dass das Gan­ze eben auch einen Kos­mos ergibt, der in sich ruht. Benn sagt bekannt­lich, Lyrik sei das „schlecht­hin Unüber­setz­ba­re“. Tun ihnen die Leu­te jetzt schon leid, die die­sen Roman über­set­zen müssen?

Bar­bet­ta: Also, ich war erleich­tert, als der S. Fischer Ver­lag mich gefragt hat, ob ich nicht Lust hät­te, mei­nen Text zu über­set­zen, und ich dann sagen konn­te: Um Got­tes wil­len, das möch­te ich nicht machen. Der Ver­lag hat das auch sofort ver­stan­den, und jetzt über­setzt jemand ande­res den Roman ins Spa­ni­sche. Ich bin glück­lich, dass nicht ich das über­neh­men muss, weil so vie­les, was ich geschrie­ben habe, mit der Lust an der Fremd­spra­che zu tun hat. Alle Sprach­spie­le kom­men aus dem Deut­schen her und funk­tio­nie­ren teil­wei­se im Spa­ni­schen sicher nicht, da muss man sich wohl ande­re über­le­gen. Und manch­mal habe ich auch Wör­ter anein­an­der­ge­reiht, die für mich vom Klang her reiz­voll waren. Ich arbei­te sehr ger­ne mit Klang – ich habe immer, wenn ich zwei, drei Sät­ze geschrie­ben hat­te, mir die­se Sät­ze laut vor­ge­le­sen, die gan­ze Zeit. Ich hof­fe, dass man auch das Spiel mit dem Klang ins Spa­ni­sche über­tra­gen kann. Wie, weiß ich nicht.

Schau ins Blau: Sie haben Ihre Dok­tor­ar­beit über „Phan­tas­tik und Neo-Phan­tas­tik“ ver­fasst. Ihr Bei­spiel für die­se Trend­wen­de im Erzäh­le­ri­schen, die sie in den 80er, 90er Jah­ren ansie­deln, war Patrick Süs­kinds Roman „Das Par­fum“. Und nun haben Sie sich ja selbst ein­ge­schrie­ben in die phan­tas­ti­sche Lite­ra­tur. Wie ver­hält sich denn Ihr fik­tio­na­ler Text zu Ihren theo­re­ti­schen Überlegungen?

Bar­bet­ta: Ich bin glück­lich, dass ich jetzt die Mög­lich­keit habe, Ihnen zu sagen: Die­se Fra­ge wer­de ich nicht beant­wor­ten! Ich muss dar­auf nicht ant­wor­ten, weil ich die Sei­te gewech­selt habe – und Sie spre­chen heu­te nicht mit der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin, son­dern mit der Autorin. Zum Glück! Und auch das ist ganz im Sin­ne von „Ände­rung von Damen“…

Schau ins Blau: Aber ich habe Sie halt gera­de „mit bei­den Augen ange­schaut“ — und eines von bei­den sieht nun mal die Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin… (Geläch­ter beiderseits)

Bar­bet­ta: Gut, ich geb’ ihnen eine ver­söhn­li­che Ant­wort. Julio Cor­tá­zar schät­ze ich auch des­halb, weil er nicht vom Phan­tas­ti­schen als Kate­go­rie redet, son­dern vom Phan­tas­ti­schen als Gefühl. Als Bei­spiel dafür erzählt er, wie sei­ne Kat­ze – namens „Theo­dor W.“, haha! – ein­mal irgend etwas in der Luft fixiert, irgend­ei­nen Punkt. Und Cor­tá­zar sagt: Ich weiß nicht, was die­se Kat­ze da sieht – ich sehe nichts. Wir sehen nichts, aber Theo­dor W., davon ist Cor­tá­zar über­zeugt, „Theo­dor W. kann das Phan­tas­ti­sche sehen“. Das ist eine wun­der­schö­ne Defi­ni­ti­on für das Phan­tas­ti­sche. Immer wie­der kommt Cor­tá­zar auch auf Alfred Jar­ry zu spre­chen und auf die Pata­phy­sik, auf die „Wis­sen­schaft der ima­gi­nä­ren Lösun­gen“, die nichts Ande­res ist als eine Osmo­se zwi­schen Wis­sen­schaft, Kunst und Lite­ra­tur, und er sagt: Die Pata­phy­si­ker unter­su­chen nicht die Regeln, son­dern die Aus­nah­men. Und in die­ser Welt füh­le ich mich wohl und zuhau­se. Es geht dar­um, ein Gespür zu ent­wi­ckeln für das Außer­ge­wöhn­li­che im All­täg­li­chen, also die­sen Blick, der bei dem Schild „Ände­rung von Damen“ ent­deckt: Oh, da fehlt der Bin­de­strich – wo kann uns das hin­füh­ren? So wür­de ich mich ein­ord­nen wol­len – oder auch nicht einordnen.

Schau ins Blau: Was Ihr Text und was die Bil­der mit Phan­tas­tik zu tun haben, haben wir bespro­chen. In wel­cher Bezie­hung zum Phan­tas­ti­schen sehen Sie die Zusam­men­schau aus bei­den Elementen?

Bar­bet­ta: Die „Stoff­mus­ter“, die für mich immer stim­mig waren, habe ich zum Teil intui­tiv gesetzt, im Nach­hin­ein aber habe ich einen Dis­kurs ent­wi­ckeln müs­sen, um auch über die­se Ebe­ne des Romans spre­chen zu kön­nen. Stel­len Sie sich die­se Bil­der wie Türen vor, und die Mot­ti, die ich immer wie­der über ein Kapi­tel set­ze, wie Fens­ter. Ich habe ver­sucht, die­se Türen und Fens­ter einen Spalt weit offen zu las­sen. Da kommt nicht nur eine fri­sche Bri­se rein…

Schau ins Blau: … die „guten Win­de“ sozu­sa­gen, bue­nos aires

Bar­bet­ta (lacht): … ja, genau – dank die­ser Türen und Fens­ter kann aber auch das phan­tas­ti­sche Ele­ment Zugang in den Text fin­den, wenn man sich die Quel­len der Bil­der genau­er anschaut. Ich habe ver­sucht, mit ver­schie­de­nen „Erzähl­sub­stra­ten“ zu arbei­ten, von denen ich glau­be, dass in ihnen das phan­tas­ti­sche Ele­ment zuhau­se ist. Das ist natür­lich zum einen die Reli­gi­on samt dem Aber­glau­ben, also der Mythen­syn­kre­tis­mus. Dann die Pseu­do- oder Popu­lär­wis­sen­schaf­ten (Stich­wort Ber­mu­da­drei­eck), auch da ist das Phan­tas­ti­sche zuhau­se. Und dann natür­lich die Comic-Welt mit Won­der Woman zum Bei­spiel. Denn auch im Mythos ist ja das phan­tas­ti­sche Ele­ment zuhau­se, und für mich ist die Comic-Welt eine Wei­ter­füh­rung des Mythos. Won­der Woman heißt ja, wenn sie sich in der bür­ger­li­chen Welt bewegt, mit Deck­na­men Dia­na Prin­ce. Wenn wir uns aber die Vor­ge­schich­te von Dia­na Prin­ce angu­cken, sind wir im Mythos. Sie ken­nen ja die Dia­na im Mythos, die Jagd­göt­tin und Jung­frau, und Won­der Woman ist ja ursprüng­lich eine Ama­zo­ne, eine Mythen­fi­gur wie Dia­na, und lebt auf einer Insel namens „Para­dies­in­sel“ mit lau­ter Frau­en. Und ich behaup­te: Das ist die Wei­ter­füh­rung des Mythos, nur „in pop­pig“. Des­we­gen habe ich auch die Comic-Welt ein­be­zo­gen. Im Nach­hin­ein wur­de mir klar, dass hier dem Sprich­wort „Klei­der machen Leu­te“ eine beson­de­re Rol­le zukommt. Man könn­te es auf die Spit­ze trei­ben und behaup­ten: Klei­der machen Comic-Hel­den. Dia­na Prin­ce ist eine lang­wei­li­ge Sekre­tä­rin, wenn sie sich dann aber ein‑, zwei‑, drei­mal um die eige­ne Ach­se dreht, hat sie plötz­lich kei­nen lan­gen Rock mehr an, son­dern ein knap­pes Hös­chen – und ist Won­der Woman.
Aber es geht in der Ände­rungs­schnei­de­rei Los Mila­gros ja nicht nur um eine äußer­li­che, „ober­fläch­li­che“ Ver­wand­lung, son­dern auch um eine Ver­wand­lung, die nach unten führt, ins Inne­re der Haupt­fi­gur, ins Inne­re des Tex­tes, ins Inne­re des Braut­klei­des, des Gewe­bes, wo auch das Geheim­nis ver­steckt ist. Es gibt zwei Ebe­nen in mei­nem Roman, so sehe ich das zumin­dest: Die Ober­flä­che mit all den bun­ten Klei­dern, und es gibt eine Tie­fe. Und vie­le der Bil­der füh­ren in die­se Tie­fe. Im ers­ten „Stoff­mus­ter“ bei­spiels­wei­se sind schwar­ze Punk­te auf einem Stadt­plan zu sehen (die hat­te ich am Anfang nicht als schwar­ze Punk­te vor­ge­se­hen, son­dern als Löcher im Blatt), und man weiß nicht: Sind das die Gull­i­de­ckel, von denen im ers­ten Kapi­tel die Rede ist, oder sind es Löcher von den Mot­ten oder von den Nackt­schne­cken …? All das wird im ers­ten Kapi­tel nahe gelegt. Dann gibt es noch Jules Ver­nes 20.000 Mei­len unter den Mee­ren oder das Kanin­chen­loch von Ali­ce in Won­der­land. Auch da geht es ja „nach unten“. In Ali­ce in Won­der­land sind es sogar nur die Anfangs­se­quenz und die letz­te Sequenz, die sich oben abspie­len. Der Rest spielt sich unten ab.

Schau ins Blau: Sie haben Ali­ce in Won­der­land wahr­schein­lich zuerst auf Spa­nisch gelesen?

Bar­bet­ta: Nein, auf Deutsch, natür­lich auf Deutsch!

María Ceci­lia Bar­bet­ta wur­de 1972 in Bue­nos Aires (Argen­ti­ni­en) gebo­ren, wo sie eine deutsch-argen­ti­ni­sche Schu­le besuch­te und Deutsch als Fremd­spra­che stu­dier­te. 1996 kam sie mit einem DAAD-Sti­pen­di­um nach Ber­lin. Nach ihrer lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Pro­mo­ti­on ent­schloss sie sich, in Deutsch­land zu blei­ben, und lehr­te fünf Jah­re lang Spa­nisch an der Euro­pa-Uni­ver­si­tät Via­dri­na in Frankfurt/Oder. Seit 2005 ist sie freie Autorin. 2007 bekam sie das Alfred-Döb­lin-Sti­pen­di­um der Aka­de­mie der Küns­te und nahm an der Autoren­werk­statt Pro­sa des Lite­ra­ri­schen Col­lo­qui­ums Ber­lin teil. Für ihren Debüt­ro­man „Ände­rungs­schnei­de­rei Los Mila­gros“ erhielt sie 2008 den Aspek­te-Lite­ra­tur­preis und 2009 den Adel­bert-von-Cha­mis­so-För­der­preis. [Foto: © Sven Paus­ti­an / Agen­tur FOCUS]