“Ich versuche nicht eine Geschichte zu erzählen, sondern eine Lage”

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Susanne Heinrich über ihr Filmdebüt »Das melancholische Mädchen« 

von Julian Riegel

Schau ins Blau:  Frau Hein­rich, Ihr Film­de­büt Das melan­cho­li­sche Mäd­chen wur­de im Feuil­le­ton fast durch­weg wohl­wol­lend bespro­chen. Auch Tei­le der Pres­se, die nicht unbe­dingt für die Ver­brei­tung von radi­ka­ler femi­nis­ti­scher Gesell­schafts­ana­ly­se oder Kapi­ta­lis­mus­kri­tik bekannt sind, haben gera­de dies als beson­ders gelun­gen an Ihrem Film gelobt. Was bedeu­te­tet eine sol­che aner­ken­nen­de Reak­ti­on der Film­kri­tik für die kri­ti­sche, poli­ti­sche Dimen­si­on Ihrer Arbeit?

 

Susan­ne Hein­rich:      Etwas pole­misch – und ohne mei­ne Freu­de über die Aner­ken­nung ver­schwei­gen zu wol­len – wür­de ich sagen, sie stellt für eben die­se poli­ti­sche, kri­ti­sche Dimen­si­on eine Gefahr dar. Was macht denn die­se Medi­en­ma­schi­ne­rie? In ers­ter Linie speist sie Phä­no­me­ne in bestehen­de Dis­kur­se ein. Damit ein­her geht Reduk­ti­on und Kom­mo­di­fi­zie­rung. Bestimm­te Labels („Ber­lin­film“, „femi­nis­ti­sche Kapi­ta­lis­mus­kri­tik“) selek­tie­ren ein Publi­kum vor und neh­men dem Film damit Mög­lich­kei­ten, Men­schen unvor­be­rei­tet zu tref­fen. Viel­mehr wird das Kon­su­mie­ren von Kri­tik dadurch eine Kauf­ent­schei­dung eines vor­be­rei­te­ten, geneig­ten und infor­mier­ten Publi­kums. Aus­ser­dem fol­gen die meis­ten Kri­ti­ken im Augen­blick ja einer bestimm­ten Sche­ma­tik und sind eigent­lich eher Pro­dukt­emp­feh­lun­gen. Wenn nun aber ein Film, der sich die­sem Pro­dukt­sta­tus ver­wei­gert, in der Form einer Pro­dukt­emp­feh­lung beschrie­ben wird, ver­liert ent­we­der der Film oder die Beschrei­bung oder bei­de (es gibt übri­gens eine Film­kri­tik, die das sehr gelun­gen the­ma­ti­siert und über­haupt ein schö­nes Bei­spiel dafür ist, dass Film­kri­tik auch Annä­he­rung durch ein Medi­um an ein ande­res Medi­um sein kann. In mei­nen Augen stellt sie sogar einen Ver­such dar, die Ver­fah­rens­wei­se des Films auf den Text zu über­tra­gen: https://www.sissymag.de/das-melancholische-maedchen/). Wie­viel Resi­li­enz der Film hat ent­schei­det sich aber viel­leicht auch erst in der Rück­schau, wenn er ein­mal wie­der­ent­deckt und viel­leicht noch ein­mal neu ein­ge­ord­net wird.

 

Schau ins Blau:       Am auf­fäl­ligs­ten dürf­te zunächst ein­mal die Form Ihres Films sein. Statt einer line­ar erzähl­ten Hand­lung wer­den 15 Abschnit­te anein­an­der­ge­reiht. Wie wür­den sie die­ses Ver­fah­ren genau­er beschreiben?

 

Susan­ne Hein­rich:         Ich wür­de sagen, ich ver­su­che nicht, eine Geschich­te zu erzäh­len, son­dern eine Lage (mir fehlt ein bes­se­res Wort) zu beschrei­ben und Zusam­men­hän­ge sicht­bar zu machen. Dabei arbei­te ich kon­stel­la­tiv. Das heißt, es gibt ein­zel­ne Tei­le, die sich zu einem Gan­zen zusam­men­set­zen, das wie­der­um auf die ein­zel­nen Tei­le zurück­wirkt. Die Sze­nen hän­gen nicht chro­no­lo­gisch zusam­men, son­dern sind nach ande­ren Logi­ken (Rhyth­mus, Gewich­tung bestimm­ter The­men, inne­rer Zusam­men­hang, Bild­ge­stal­tung, Text­an­schlüs­se) in eine Rei­hen­fol­ge gebracht wor­den. Das hat natür­lich auch weit­rei­chen­de Fol­gen für die Wir­kungs­wei­se des Films. Da es kei­ne chro­no­lo­gi­sche Hand­lung, kei­nen Haupt­kon­flikt, kei­ne nach der Logik der Psy­cho­lo­gi­sie­rung ein­or­den­ba­re Moti­ve gibt, die die Zuschaue­rin durch den Film füh­ren, ist sie in gewis­ser Wei­se stär­ker auf sich selbst zurück­ge­wor­fen und muss sich einen ande­ren Grund suchen, den Film wei­ter zu schau­en. Der Film hält sie  auf Abstand – auch durch die zahl­rei­chen Mit­tel, mit denen er auf sein eige­nes Gemacht­sein und die fil­mi­sche Form ver­weist. Gleich­zei­tig wird die Zuschaue­rin dadurch ein­ge­la­den, ihre eige­ne Erwar­tungs­hal­tung zu reflek­tie­ren und sich immer wie­der neu zu den ver­schie­de­nen Figu­ren und Situa­tio­nen zu posi­tio­nie­ren, auch, da ihr Erle­ben nicht mit dem einer Haupt­fi­gur zusammenfällt.

 

Schau ins Blau:       Wenn es nicht um das Erzäh­len einer linea­ren Hand­lung oder eines leicht ver­ständ­li­chen plots geht, war­um haben Sie sich den­noch für eine Haupt­fi­gur ent­schie­den, war­um geht es nicht um diver­se „melan­cho­li­sche Mädchen“?

 

Susan­ne Hein­rich:        Gute Fra­ge. Es gab tat­säch­lich ein­mal die Über­le­gung, den Eröff­nungs­mo­no­log von ver­schie­de­nen Dar­stel­le­rin­nen per­for­men zu las­sen und so zusam­men­zu­schnei­den, dass Marie Rath­scheck die letz­te in der Rei­he ist. Aber das hät­te nur ver­deut­licht, was sich für mich ohne­hin erzählt: dass unser „melan­cho­li­sches Mäd­chen“ ja eine Blau­pau­se ist – eine Mischung zwi­schen Typus, Label, einer Posi­ti­on inner­halb der Gesell­schaft. Sie bleibt eine Figur ohne Psy­cho­lo­gie, steht also für alle melan­cho­li­schen Mäd­chen. Dass sie von der glei­chen Dar­stel­le­rin ver­kör­pert wird, hat unter ande­rem den Vor­teil, dass das Fri­su­ren­spiel und die unter­schied­li­chen Män­ner­so­cken bes­ser auf­fal­len. Wahr­schein­lich erleich­tert es auch die Iden­ti­fi­ka­ti­on. Dazu lädt die Figur näm­lich schon ein – nur habe ich davon einen ande­ren Begriff als vie­le zeit­ge­nös­si­schen Fil­me, scheint mir. Was da oft­mals pas­siert, wür­de ich eher als Über­tra­gung beschrei­ben. Die Iden­ti­fi­ka­ti­on, die „das melan­cho­li­sche Mäd­chen“ anbie­tet, ist eher ein sich-Wie­der­erken­nen in Situa­tio­nen und Struk­tu­ren, die einem vor­ge­führt werden.

 

Schau ins Blau:  Ihre Sze­nen zitie­ren mehr oder min­der bekann­te Kul­tur­phä­no­me­ne, Posen, Fri­su­ren, Mode usw. So wird der Film nicht etwa von zeit­ge­nös­si­scher Pop-Musik unter­malt, son­dern auch etwa von einem Big-Band-Sound, den man mit den 1960er Jah­ren ver­bin­den könn­te. Nach wel­chen Kri­te­ri­en wur­den die­se Fremd­re­fe­ren­zen aus­ge­wählt und wel­che Rol­le spielt die Geschicht­lich­keit ihrer Vorlagen? 

 

Susan­ne Hein­rich:         Hät­te ich den Film mit zeit­ge­nös­si­schem Tech­no unter­legt, wäre es ein Ber­lin­film gewor­den und hät­te ein Halt­bar­keits­da­tum bekom­men. Auch wenn man die Figur als schreib­blo­ckier­te Schrift­stel­le­rin einem Milieu oder einer Sze­ne zuord­nen könn­te, sagt ihre Kri­se bei­spiel­haft etwas dar­über aus, was an der Sub­jek­ti­vie­rungs­form des „unter­neh­me­ri­schen Selbst“ (Ulrich Bröck­ling), für das die Künst­le­rin wie kei­ne ande­re steht, pro­ble­ma­tisch sein könn­te. Der Big-Band-Sound his­to­ri­siert außer­dem die erzähl­te Welt. Durch die leicht­fü­ßi­ge Iro­nie und Nost­al­gie der inzwi­schen alt­mo­di­schen For­ma­ti­on Big Band funk­tio­niert der Sound­track für mich wie ein „Es war ein­mal …“. Zusam­men mit den ande­ren Gestal­tungs­mit­teln, die eben­falls dar­an arbei­ten, zu ent­na­tu­ra­li­sie­ren, erschei­nen die im Film geschil­der­ten oft so alter­na­tiv­los erschei­nen­den neo­li­be­ra­len Zustän­de als eine absur­de Mög­lich­keit unter vie­len – als ver­än­der­bar. Die Fri­su­ren, die zum Groß­teil Signa­tu­re-Fri­su­ren von Hol­ly­wood-Diven sind (in der ers­ten Sze­ne wird die Fri­sur von Audrey Hepb­urn in „Break­fast at Tiffany’s“ zitiert, spä­ter unter ande­rem die Dau­er­wel­le von Julia Roberts in „Pret­ty Woman“, eine typi­sche Fri­sur von Eliza­beth Tay­lor und die berühm­te Bri­git­te-Bar­dot-Tol­le), spie­len mit dem Iko­ni­schen des melan­cho­li­schen Mäd­chens und mit der Dimen­si­on der Figur, die als Pro­jek­ti­ons­flä­che für männ­li­che Bli­cke funk­tio­niert. Ihre Klei­dung – Pelz­man­tel und Wan­der­schu­he – mar­kiert sie als Streu­ne­rin, als die sie in einer Tra­di­ti­on mit ande­ren Streu­ne­rin­nen der Film­ge­schich­te steht wie z.B. „Sue“ von Amos Kol­lek oder „Wan­da“ von Bar­ba­ra Loden. Ins­ge­samt geht es immer dar­um, das Typi­sche und Modell­haf­te her­aus­zu­ar­bei­ten statt eine indi­vi­du­el­le Geschich­te zu erzählen.

 

Schau ins Blau:  Die Metho­de Bekann­tes in Varia­ti­on bzw. Dif­fe­renz zu wie­der­ho­len gilt ja bis heu­te als klas­si­sche Defi­ni­ti­on der Par­odie. Sie haben an ande­rer Stel­le (im SPIEGEL) von einem „befrei­en­den Lachen“ gespro­chen, das sich ein­stel­len könn­te, wenn in Ihrem Film z.B. der „male gaze“, den Lau­ra Mul­vey beschrie­ben hat, auf männ­li­che* Kör­per gewor­fen wird. Könn­ten Sie erläu­tern inwie­fern die­ses Lachen als „befrei­end“ zu ver­ste­hen ist? 

 

Susan­ne Hein­rich:         Als ich Mul­vey gele­sen habe, habe ich mich gefragt, was das Gegen­teil eines „male gaze“ wäre und ob es einen „fema­le gaze“ oder bes­ser: einen „femi­nist gaze“ (d.h. ein herr­schafts­frei­er, nicht zurich­ten­der Blick) in einer Gesell­schaft, in der sich das Patri­ar­chat in sei­ner Ehe mit dem Kapi­ta­lis­mus rela­tiv unge­hemmt repro­du­ziert (und wir alle täg­lich dabei hel­fen) geben kann. Ich glau­be nicht. Ich glau­be, er wäre zu erar­bei­ten, über einen lan­gen Zeit­raum, aus alter­na­ti­ven Prak­ti­ken her­aus und vor dem Hin­ter­grund ver­än­der­ter gesell­schaft­li­cher Struk­tu­ren. Bis dahin kann ich ja zumin­dest ein biss­chen mit dem männ­li­chen Blick spie­len, dach­te ich. Ihn durch eine klei­ne Dre­hung sicht­bar machen. Indem ich zum Bei­spiel einen Mann in die hys­te­ri­sche Posi­ti­on ver­set­ze (Bade­wan­nen­sze­ne & Yoga der Stim­me), einen Mann Pin-up-Posen auf dem Bett per­for­men las­se und dem „melan­cho­li­schen Mäd­chen“ das Wort gebe und sie vom Home­trai­ner her­ab aus einem Buch zitie­ren las­se (Sze­ne 13) oder einen männ­li­chen Kör­per wie eine lie­gen­de Schö­ne fil­me (Eröff­nungs­mo­no­log). Einen Mann in die­ser Posi­ti­on zu sehen, löst in mir gro­ße Hei­ter­keit aus, die, wie ich glau­be, nicht mit sei­ner Her­ab­set­zung zu tun hat, son­dern eher damit, dass eine Struk­tur sicht­bar gemacht wird, die oft unbe­wusst bleibt, und Erfah­run­gen und Erin­ne­run­gen in mir zum reso­nie­ren bringt, die sel­ten ange­spro­chen wer­den. Ich habe mich län­ger schon gefragt, ob es Alter­na­ti­ven zum Alt­her­ren­witz und einem Humor auf Kos­ten der Ernied­ri­gung ande­rer gibt, und bin so zum Bei­spiel auf die Come­di­en­ne Vanes­sa Stern gesto­ßen, die weib­li­che Kri­sen in komö­di­an­ti­scher Form auf die Büh­ne bringt. Ich kann aber den Humor, der in mei­nem Film am Werk ist, nicht genau beschrei­ben, das müs­sen ande­re tun.

 

Schau ins Blau:  Ihr Film stört Iden­ti­fi­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten und scheint auf psy­cho­lo­gi­sie­ren­de Erzähl­mus­ter ver­zich­ten zu wol­len. Wel­che Rol­le spielt aber die Psy­cho­ana­ly­se für Ihre Arbeit? Gera­de die­se war ja für Mul­vey noch 1973 sogar eine „poli­ti­sche Waf­fe“ mit deren Hil­fe gezeigt wer­den konn­te, wie das „Unbe­wuss­te der patri­ar­cha­len Gesell­schaft die Film­form struk­tu­riert hat.“ Hal­ten Sie viel­leicht heu­te ande­re Theo­rie­an­sät­ze für angemessener?

 

Susan­ne Hein­rich:         In den 70ern ist unglaub­lich viel pas­siert, was femi­nis­ti­sche Psy­cho­ana­ly­se angeht. Nan­cy Cho­do­rows Arbeit über die Repro­duk­ti­on des Müt­ter­li­chen zum Bei­spiel war bahn­bre­chend, und Jes­si­ca Ben­ja­min hat in „Die Fes­seln der Lie­be“ nicht nur beschrie­ben, wie Miso­gy­nie ent­steht durch „die Gene­se psy­chi­scher Struk­tu­ren, in denen die eine Per­son das Sub­jekt spielt und die ande­re ihm als Objekt die­nen muss“ (eben­da), son­dern damit auch Kri­tik an der Bina­ri­tät in west­li­chen Gesell­schaf­ten und der Fixie­rung auf die Kern­fa­mi­lie in Freuds Psy­cho­ana­ly­se geübt. Heu­te, da psy­cho­lo­gi­sie­ren­des Spre­chen all­ge­gen­wär­tig ist und unse­re All­tags­kom­mu­ni­ka­ti­on und unse­re Nar­ra­ti­ve von uns selbst und unse­ren Leben domi­niert, fin­de ich die Fra­ge danach inter­es­sant, wie die­ses „Para­dig­ma der Psy­cho­lo­gie“ und das dazu­ge­hö­ri­ge Sto­ry-Impe­ra­tiv mit neo­li­be­ra­len Logi­ken zusam­men­hängt / ‑wirkt. Zusam­men mit Rafa­el Dern­bach habe ich dazu den Vor­trag „Against Sto­ries“ erar­bei­tet. Zu unse­rem Sto­ry-Begriff: „Sto­ries“ zeich­nen sich dadurch aus, dass sie effi­zi­ent sind, maxi­ma­len Impact haben, ein­fach zu kon­su­mie­ren und mög­lichst leicht über­trag- bzw. über­setz­bar sind. Ihr Ide­al ist der ele­va­tor pitch. Sto­ries sind also uni­ver­sel­le Wäh­rung gewor­den, und Medi­um, um sozia­les, kul­tu­rel­les und öko­no­mi­sches Kapi­tal zu bil­den. „Tell your sto­ry“ ist der Impe­ra­tiv unse­rer Zeit und hält auch uns Sub­jek­te per­ma­nent dazu an, unser eige­nes Leben in Sto­ry­form zu brin­gen und als Geschich­te des zu-uns-Fin­den, als Geschich­te der Hei­lung und Selbst­fin­dung zu ver­kau­fen. Was nicht erzähl­bar ist, ist nicht wahr. Die Sto­ry ist nicht nur ein Instru­ment indi­vi­du­el­ler Ermäch­ti­gung und macht gutes Gewis­sen kon­su­mier­bar, sie ist ein hege­mo­nia­les Macht­in­stru­ment, das Nor­men repro­du­ziert und hat, laut unse­rer Auf­fas­sung, heu­te vor allem eine ent­po­li­ti­sie­ren­de Wir­kung: indem sie trös­tet, Self-Empower­ment pro­mo­tet und die Illu­si­on auf­recht erhält, dass indi­vi­du­el­le Ent­schei­dun­gen den Lauf der Geschich­te beein­flus­sen kön­nen. Eine Form also, die Ver­stri­ckun­gen unsicht­bar macht und struk­tu­rel­les Den­ken eher ver­hin­dert als för­dert, weil sie Struk­tu­ren als Ange­le­gen­hei­ten von Sub­jek­ten fasst. Damit spielt sie dem Neo­li­be­ra­lis­mus in die Hän­de. Zu mei­nem Neo­li­be­ra­lis­mus-Begriff hat­te ich in dem kur­zen Impuls­pa­pier für die „Augs­bur­ger Gesprä­che“ geschrie­ben: „Die Aus­brei­tung der Märk­te in die Sub­jek­te hin­ein, oder anders: die Orga­ni­sie­rung selbst unse­rer Bezie­hun­gen als Märk­te und unse­rer Inner­lich­kei­ten als zu ver­wal­ten­de Res­sour­cen, die tota­le Kolo­ni­sie­rung des Selbst also, ver­la­gert die Kon­troll­me­cha­nis­men der Dis­zi­pli­nar­ge­sell­schaft ins Inne­re des Sub­jekts, das nichts mehr will, was es nicht auch soll, und nichts mehr träumt, was nicht eh kom­men muss. Die­se neo­li­be­ra­le Pha­se lie­ße sich als die Pha­se des Kapi­ta­lis­mus beschrei­ben, in der die Men­schen ihr eige­nes Zuge­rich­tet­sein als Frei­heit wahr­neh­men und ergo den Wunsch nach Eman­zi­pa­ti­on suk­zes­si­ve ver­ges­sen. Der Neo­li­be­ra­lis­mus schafft sich so sei­ne wider­stands­lo­sen Agent*innen, durch die er sich unge­hin­dert aus­brei­ten kann.“ In dem Zusam­men­hang haben Rafa­el und ich uns also gefragt, ob die Diver­si­fi­zie­rung von Sto­ries, die der­zeit gefor­dert und als poli­ti­sches Pro­jekt geframed wird („repre­sen­ta­ti­on mat­ters“ etc.) und die Poli­ti­sie­rung von Inhal­ten wirk­lich pro­gres­siv sind oder in ihrem Ver­blei­ben im Reprä­sen­ta­ti­ons­dis­kurs nicht viel­mehr den neo­li­be­ra­len Ver­blen­dungs­zu­sam­men­hang zemen­tie­ren – und wel­che ande­ren Dis­kur­se und Instru­men­te wich­tig wären, um dem Dik­tat von Sto­ry und Psy­cho­lo­gi­sie­rung etwas ent­ge­gen­zu­set­zen. Für uns steckt das poli­ti­sche Poten­zi­al also in der Form – und in einer radi­ka­len Form­kri­tik. Eini­ge Fra­gen, die uns beschäf­tigt haben, sind: Wel­che For­men sind geeig­net, um die Infra­struk­tu­ren, in denen sie ent­ste­hen, zu reflek­tie­ren? Wel­che For­men sind geeig­net, um Struk­tu­ren, Bezie­hun­gen, Zusam­men­hän­ge, Kon­stel­la­tio­nen zu erzäh­len? Wel­che For­men sind nicht-hier­ar­chisch und lau­fen weni­ger Gefahr, alter­na­ti­ve Prin­zi­pi­en wie Poe­sie, Neben­ein­an­der und Syn­chro­ni­zi­tät unter­zu­ord­nen / zu funk­tio­na­li­sie­ren? Wir haben Ori­en­tie­rung gefun­den bei den Begrif­fen „Modell“ und „Ent­wurf“, die Harun Faro­cki und Vilém Flus­ser in Stel­lung brin­gen. Dazu ein Zitat von Flus­ser: „The old images are images of some­thing, the new ones are pro­jec­tions, models for some­thing that does­n’t exist, but could exist. The old images are “fic­tions”, “simu­la­ti­ons of”, the new ones are con­cre­ti­sa­ti­ons of pos­si­bi­li­ties. The old images are an abs­tract, rece­ding “ima­gi­na­ti­on”, the new ones a con­cre­tiz­ing, pro­jec­ting “ima­gi­na­ti­on”. So we do not think ima­gi­na­tively magi­cal­ly, but on the con­tra­ry ima­gi­na­tively desig­ning“. Nach eben die­sen „neu­en Bil­dern“ zu suchen, von denen Flus­ser spricht, könn­te eine Alter­na­ti­ve zum Para­dig­ma des Sto­rytel­ling und der Psy­cho­lo­gi­sie­rung sein.

 

Schau ins Blau:  Für Wal­ter Ben­ja­min bestand die poli­ti­sche Auf­ga­be des Kino­films auch dar­in, kogni­ti­ve Fähig­kei­ten zu erpro­ben, die dem gege­be­nen Stand der Tech­nik ange­mes­sen begeg­nen kön­nen. Dies schrieb er 1936, als das Kino das tech­no­lo­gisch am höchs­ten ent­wi­ckel­te Reprä­sen­ta­ti­ons­sys­tem dar­stell­te. Davon kann heu­te selbst­ver­ständ­lich längst nicht mehr die Rede sein. Wor­in könn­ten poli­ti­sche Auf­ga­ben des Kino­films heu­te bestehen?

 

Susan­ne Hein­rich:         Ich bin sehr skep­tisch, was die poli­ti­schen Auf­ga­ben oder Poten­zia­le von Kunst heu­te angeht. Auch dazu ver­wei­se ich auf mein State­ment zu den „Augs­bur­ger Gesprä­chen“ und die Aus­füh­run­gen zur Rol­le der Cul­tu­ral Indus­tries in der Ver­an­ke­rung des Krea­ti­vi­täts­dis­po­si­tivs in der Gesell­schaft und der Ver­brei­tung des Ide­als vom „unter­neh­me­ri­schen Selbst“, zur Appro­pria­ti­on / Absorp­ti­on von Künst­ler­kri­tik und ihrer Rol­le als Avant­gar­de der Wirt­schaft. Ein Poten­zi­al liegt sicher dar­in, dass das Kino, ähn­lich wie der Roman, im post-digi­ta­len Zeit­al­ter nicht nur offi­zi­ell für tot erklärt ist, son­dern auch zu einem ana­chro­nis­ti­schen Medi­um gewor­den ist. Damit ein­her geht m.E. einer­seits die Gefahr des Kon­ser­va­tis­mus, aber eben auch die Chan­ce, z.B. durch einen nicht-zeit­ge­nös­si­schen Umgang mit Zeit­lich­kei­ten hege­mo­nia­le Ästhe­ti­ken und ihren ideo­lo­gi­schen Gehalt zu reflek­tie­ren, also Bild­po­li­ti­ken sicht­bar zu machen und zu durchkreuzen.

Susan­ne Hein­rich wur­de 1985 bei Leip­zig gebo­ren. Sie ver­fass­te schon in ihrer Schul­zeit lite­ra­ri­sche Tex­te und stu­dier­te zeit­wei­se am Deut­schen Lite­ra­tur­in­sti­tut in Leip­zig. Zwi­schen 2005 und 2011 erhielt sie Auf­ent­halts-Sti­pen­di­en in Ber­lin, Los Ange­les und der Vil­la Mas­si­mo in Rom. In die­sen Jah­ren ver­öf­fent­li­che sie zwei Roma­ne und zwei Bän­de Erzählungen.

Ab 2012 stu­diert sie Regie an der Deut­schen Film- und Fern­seh­aka­de­mie Ber­lin. Mit Das melan­cho­li­sche Mäd­chen erschien 2019 ihr ers­ter Film, der von der Kri­tik viel­fach begeis­tert auf­ge­nom­men wur­de und bis­her mit dem Max-Ophüls-Preis und dem Drei-Län­der-Film­preis der Säch­si­schen Kunst­mi­nis­te­rin für den bes­ten Spiel­film aus­ge­zeich­net wurde.