Ivo Stourton — Die Nachtgänger

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von Caro­lin Hensler

Schein oder nicht Schein — das ist für die meis­ten Men­schen nicht nur eine Fra­ge, son­dern ein Lebens­kon­flikt. Ver­letz­lich­keit und Emo­tio­na­li­tät ver­ste­cken wir beim Ein­tau­chen in die Öffent­lich­keit hin­ter Mas­ken, wodurch ein ver­fälsch­tes Bild unse­res Ichs an die Umge­bung ver­mit­telt wird. Der Schein soll gewahrt wer­den. Doch was geschä­he, wenn wir uns plötz­lich dar­auf ange­wie­sen sähen, ver­stan­den zu wer­den wie wir sind? Mit all unse­ren Feh­lern — die nun­mehr zu Tage tre­ten, nach­dem das Kon­strukt uns­res Dop­pel­le­bens in sich zusam­men­ge­fal­len ist und uns aus der Dun­kel­heit unse­rer emo­tio­na­len Nacht mit­ten in den Tag ver­setz­te? Wenn wir von Nacht­gän­gern zu Tag­gän­gern gewor­den wären?

Für sei­nen Stu­di­en­be­ginn in Cam­bridge setzt sich der 18-jäh­ri­ge James hohe Zie­le: Er will sei­ne Außen­sei­ter­stel­lung hin­ter sich las­sen und in den Kreis der Col­lege-Stu­den­ten auf­rü­cken, die auf dem Cam­pus im Zen­trum jeg­li­cher Gesprä­che ste­hen. Auf der Suche nach Aner­ken­nung gelingt James durch einen glück­li­chen Zufall der Anschluss an die Nacht­gän­ger, einer Grup­pe aus vier gelang­weil­ten Stu­den­ten, die ihre Frei­zeit unter ande­rem mit ris­kan­ten Klet­ter­tou­ren über die Dächer des Col­leges ver­brin­gen. Durch­zech­te Näch­te, Besu­che in ein­schlä­gi­gen Clubs, ille­ga­le Box­kämp­fe und Dro­gen­ex­zes­se gehö­ren von nun an zu James Tages­ab­lauf. Geld scheint für die treu ein­ge­schwo­re­ne Ban­de, bestehend aus Fran­cis, Micha­el, Jes­si­ca und Lisa, kei­ner­lei Rol­le zu spie­len — eine Tat­sa­che, die James Bewun­de­rung für die Nacht­gän­ger ste­tig wach­sen lässt. Der Glanz der bis­lang unbe­rühr­ba­ren Grup­pe endet jedoch jäh, als Fran­cis von sei­nem ade­li­gen Vater ent­erbt wird. Erst­mals sehen sich die Stu­den­ten der Ver­ant­wor­tung aus­ge­setzt, ihren Lebens­un­ter­halt eigen­hän­dig ver­die­nen zu müs­sen. Beson­ders der labi­le Fran­cis scheint unfä­hig zu sein, für sich selbst zu sor­gen, und so wird sein Vor­schlag zur Fäl­schung eines Picas­sos und des­sen Ver­kauf mit Begeis­te­rung auf­ge­nom­men. Doch die Ver­schwö­rung der Nacht­gän­ger hat unge­ahn­te Fol­gen, und auch die müh­sam auf­recht erhal­te­ne Schein­welt des Quin­tetts beginnt zu zerbrechen.

Mit sei­nem Roman Die Nacht­gän­ger (2007) the­ma­ti­siert der ehe­ma­li­ge Cam­bridge-Stu­dent Ivo Stour­ton die ver­zwei­fel­te Iden­ti­täts­su­che einer Grup­pe jun­ger Men­schen, denen es an nichts zu feh­len scheint. Beson­ders anhand der Figur des Fran­cis offen­bart Stour­ton die bewuss­te Ober­fläch­lich­keit einer Eli­te­ge­ne­ra­ti­on. Denn als Sohn aus rei­chem Hau­se ver­fügt Fran­cis auf den ers­ten Blick über alle Annehm­lich­kei­ten des Lebens, und doch bricht sein Kampf gegen die Zwän­ge sei­ner Stel­lung zuneh­mend durch und bewirkt letzt­end­lich das Aus­ein­an­der­bre­chen der Gemein­schaft. An sei­nem Unter­gang wird die Ein­ge­schwo­ren­heit zwi­schen den Stu­den­ten geschickt als genau­so schein­haft ent­tarnt wie ihre Sorg­lo­sig­keit ange­sichts der Zukunft. Es stellt sich her­aus, dass der Fak­tor Geld, der bis zu die­sem Punkt als Selbst­ver­ständ­lich­keit betrach­tet wur­de, das ein­zi­ge wirk­lich fes­te Band zwi­schen den Freun­den darstellt.

Mit dem Rück­zug Micha­els ver­liert die zur Schau gestell­te Ein­ge­schwo­ren­heit der Grup­pe immer mehr ihren Glanz. Schließ­lich zwingt die Rea­li­tät die Nacht­gän­ger, ihre Rol­len als furcht­lo­se Drauf­gän­ger auf­zu­ge­ben und sich Fra­gen zur Iden­ti­tät und zum Erwach­sen­wer­den end­lich zu stel­len. Jeder von ihnen wird durch die selbst­zer­stö­re­ri­sche Ver­zweif­lung Fran­cis´ zur Aner­ken­nung einer Furcht ein­flö­ßen­den Wirk­lich­keit gedrängt — ein grund­le­gen­der inhalt­li­cher Aspekt, dem jedoch man­gels ein­heit­li­chen Span­nungs­bo­gens nicht genü­gend Inten­si­tät ver­lie­hen wird. So wirkt vor allem das Ende des Romans wie eine Col­la­ge selt­sa­mer Zufäl­le. Wäh­rend James als Erzäh­ler der Hand­lung neben Fran­cis als Herd des Kon­flikts ver­blasst, stellt sich vor allem die Fra­ge nach der Berech­ti­gung der Nacht­gän­ger als Prot­ago­nis­ten des Romans, da der mora­li­sche Ver­fall der Grup­pe auch in der Auf­lö­sung des Kon­flikts nicht gesühnt wird. Im Vor­der­grund bleibt statt­des­sen die Schein­haf­tig­keit der figür­li­chen Gedan­ken­welt, in der sich die Cha­rak­te­re selbst nach dem ledig­lich knapp ver­mie­de­nen Unter­gang schein­bar bestä­tigt fühlen.

Ivo Stour­ton lässt die Geschich­te der Nacht­gän­ger durch James´ Erin­ne­run­gen zehn Jah­re nach des­sen Col­lege-Abschluss Revue pas­sie­ren. Aus der Sicht des am Ende doch erwach­sen gewor­de­nen Anwalts beschreibt er die Gescheh­nis­se in einem zwar nüch­ter­nen, bild­rei­chen Stil. Die aus­schwei­fend ver­wen­de­ten Meta­phern wir­ken jedoch oft­mals zu gewollt und fan­ta­sie­voll um den teil­wei­se bedrü­cken­den Ereig­nis­sen aus sprach­li­cher Hin­sicht gerecht zu wer­den. Die bild­haf­ten Ver­glei­che und schnel­len Dia­lo­ge ver­lei­hen den Anschein anspruchs­lo­ser Unter­hal­tungs­li­te­ra­tur aus der Feder eines lite­ra­ri­schen Debü­tan­ten, der sich zu sehr im eige­nen Sprach­kleid gefällt. Die Geschich­te jedoch erfährt nicht die ver­dien­te Aner­ken­nung. So ruft Stour­tons Roman Die Nacht­gän­ger zwar ein Gefühl des Bedau­erns her­vor, doch ist die­ses nicht als Effekt der Hand­lung, son­dern als Ent­täu­schung über die sprach­li­che Umset­zung eben­die­ser zu sehen.