Das Theater kann Welten eröffnen

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Ein Interview mit dem Dramatiker, Regisseur und Intendant des Sensemble Theater Augsburg Sebastian Seidel

von Eva Pörnbacher

Aller­orts ver­schwim­men Gren­zen zwi­schen Kul­tu­ren, lösen sich auf, ver­bin­den sich zu etwas Neu­em. Zu Mit­tag gibt es Nasi Goreng, im Radio läuft baye­ri­scher Hip-Hop und neben dem Gar­ten­zwerg steht plötz­lich ein Bud­dha. Nur eine Gren­ze scheint all die­sen Ent­wick­lun­gen zu trot­zen: die Spra­che. Nach wie vor stellt sie in vie­len Fäl­len ein schier unüber­wind­ba­res Hin­der­nis dar. In einer zuneh­mend trans­kul­tu­rel­len Welt sieht sich daher ins­be­son­de­re die Lite­ra­tur mit neu­en Her­aus­for­de­run­gen kon­fron­tiert. Schau ins Blau woll­te von dem Dra­ma­ti­ker Sebas­ti­an Sei­del wis­sen, war­um trans­kul­tu­rel­le The­men den­noch auch im Thea­ter bear­bei­tet wer­den wol­len, wie Über­setz­ter Autoren dazu ver­dam­men sich Gedan­ken über die eige­ne sprach­li­che Her­kunft zu machen und wes­halb neu­er­dings inten­siv an einem Brü­cken­bau­pro­jekt zwi­schen Jinan (Chi­na) und Augs­burg gear­bei­tet wird.

SCHAU INS BLAU: Herr Sei­del, Sie sind Dra­ma­ti­ker, Sie füh­ren Regie und lei­ten das Sen­sem­ble-Thea­ter in Augs­burg, das Sie 1996 ins Leben geru­fen haben. Auf Ihrer Büh­ne wird haupt­säch­lich Gegen­warts­dra­ma­tik gespielt. Zum Teil Stü­cke, die Sie selbst geschrie­ben haben, zum Teil auch Stü­cke von ande­ren zeit­ge­nös­si­schen Autoren. Gleich­zei­tig spricht aus Ihrem Spiel­plan ein star­kes Inter­es­se an trans­kul­tu­rel­len The­men. Stü­cke wie „Iso­la Di Lam­pe­du­sa“, „Schwar­ze Lis­te. Exil­haus“ und „Hei­mat? Da war ich noch nie!“ fin­den sich im aktu­el­len Pro­gramm. Woher rührt Ihre Moti­va­ti­on, The­men wie Migra­ti­on, Flucht und Exil zu bearbeiten?

SEBASTIAN SEIDEL: Ich bin in einer Fami­lie auf­ge­wach­sen, die einen jüdi­schen Hin­ter­grund hat, die emi­grie­ren muss­te im Drit­ten Reich. Daher habe ich sehr vie­le Ver­wand­te in ver­schie­de­nen Län­dern, vor allem in Ame­ri­ka und Eng­land. Eini­ge sind dort wie­der Ger­ma­nis­tik­pro­fes­so­ren gewor­den und haben die deut­sche Spra­che in einem ame­ri­ka­ni­schen Umfeld hoch­ge­hal­ten. So kam es gewis­ser­ma­ßen zu einer Über­la­ge­rung der Kul­tu­ren und einem glo­ba­len Den­ken, das sich durch die Gene­ra­tio­nen mei­ner Fami­lie zieht. Vor die­sem Hin­ter­grund habe ich bald erkannt, dass die gro­ßen The­men des Thea­ters, die Urkon­flik­te und die Tra­gik des Men­schen, dass die­se The­men trans­kul­tu­rell sind. Da ist es völ­lig egal, ob man in Kali­for­ni­en oder North Caro­li­na, in Augs­burg oder Ber­lin lebt. Die Form von Thea­ter, die ich gut fin­de, muss die­se über­na­tio­na­len Zusam­men­hän­ge auf­grei­fen. Auch wenn die Stü­cke bei mir in der deut­schen Spra­che ver­fasst sind, so wei­sen die Pro­ble­me und Kon­flik­te, die dar­in vor­kom­men, doch weit über Deutsch­land hin­aus. Im Grun­de war Thea­ter schon immer trans­kul­tu­rell. Des­we­gen funk­tio­nie­ren anti­ke Dra­men ja immer noch, weil da Urthe­men beschrie­ben wur­den, die natür­lich heu­te in ande­ren Kon­tex­ten erschei­nen, aber von der Grund­the­ma­tik immer gleich blei­ben, weil sie das mensch­li­che Wesen, sei­ne Tra­gik, tref­fen. Ich glau­be, wenn ein Stück gut geschrie­ben ist, funk­tio­niert es welt­weit. Viel­leicht wer­den ver­schie­de­ne Men­schen unter­schied­lich berührt davon oder sehen ande­re Aspek­te, aber das wäre ja gera­de auch das Span­nen­de. Das ist doch gewis­ser­ma­ßen der Sinn von Trans­kul­tu­ra­li­tät, dass ich dadurch etwas ent­de­cke, an mei­nem Werk oder mei­ner eige­nen Sicht­wei­se, was ich sonst nicht gese­hen hätte.

Hin­zu kommt, dass in mei­nen Augen Thea­ter immer auch den Blick auf die rich­ten muss, die zu kurz gekom­men sind. Das geht natür­lich auch außer­halb des Thea­ters – mei­ne Groß­mutter zum Bei­spiel, die im KZ war, hat sich nach der Befrei­ung ihr Leben lang um Asyl­be­wer­ber geküm­mert. Das hat mich natür­lich beein­druckt und geprägt und so ver­su­chen wir das im Thea­ter auf unse­re Art und Wei­se. Ich kann sol­che Din­ge ohne­hin nicht außer­halb der Kunst den­ken. Wäh­rend des Brecht Fes­ti­vals gab es im Rah­men eines Kunst­pro­jekts eine Zusam­men­ar­beit mit Flücht­lin­gen. Wir gaben ihnen die Mög­lich­keit, sich ein­zu­brin­gen und ihre Erfah­run­gen mit­zu­tei­len. Das war ein wun­der­ba­rer Pro­zess, in dem vie­le neue und uner­war­te­te Din­ge ent­stan­den sind. Aber man braucht auch Mut zum Expe­ri­ment, denn man weiß im Vor­hin­ein nie, ob sol­che Ideen und Kon­zep­te wirk­lich funk­tio­nie­ren und auf­ge­hen und was sich dabei ergibt.

SCHAU INS BLAU: Aber birgt ein sol­ches Kon­zept nicht auch eine Gefahr? Trans­kul­tu­rel­le Ent­wick­lun­gen wer­den immer beglei­tet von bestimm­ten Macht­ver­hält­nis­sen. Ein Flücht­ling ist in den meis­ten Kon­tex­ten der Schwä­che­re. Von einer Zusam­men­ar­beit auf Augen­hö­he kann kaum gespro­chen werden.

SEBASTIAN SEIDEL: Ja, das ist natür­lich rich­tig, aber in einem Kunst­pro­jekt kann man auch genau die­ses Macht­ver­hält­nis auf­grei­fen und bear­bei­ten. In unse­rem Fall haben wir das ver­sucht, indem die Flücht­lin­ge nicht die Rol­le der Flücht­lin­ge über­nom­men haben, son­dern die Rol­le der Macht­ha­ber, also der Wach­män­ner und Auf­se­her in Flücht­lings­la­gern. So konn­ten sie ihre gan­ze Erfah­rung ein­brin­gen, die sie als Flücht­ling in Deutsch­land gemacht haben. Das Publi­kum wie­der­um wur­de zum Bitt­stel­ler und muss­te um eine Arbeits­er­laub­nis kämp­fen. Es konn­ten will­kür­lich Leu­te ver­haf­tet wer­den, die dann erst ein­mal in die Amts­stu­be gebracht wur­den und dort einen Asyl­an­trag aus­fül­len muss­ten, der auf Ara­bisch geschrie­ben war. So wur­den die ‚Zuschau­er‘ für einen Augen­blick in die Situa­ti­on gebracht, in der Asyl­be­wer­ber sich täg­lich befin­den. Vie­le fan­den es fan­tas­tisch, aber es gab auch wel­che, die rich­tig vor den Kopf gesto­ßen waren und mein­ten: “Das kann man doch nicht machen, ich lass mich hier doch nicht aus­län­disch anre­den!” Wir haben ver­sucht, den Flücht­lin­gen die Mög­lich­keit zu geben, ihre Erfah­run­gen ein­zu­brin­gen und das Macht­ver­hält­nis für einen kur­zen Moment umzu­keh­ren. Das war wich­tig und ich glau­be des­we­gen waren auch vie­le sehr enga­giert dabei. Letzt­end­lich ist natür­lich klar, dass wir uns das Pro­jekt aus­ge­dacht haben und wir es bezah­len. Völ­lig auf­he­ben kann man die Macht­ver­hält­nis­se nicht. Aber zumin­dest auf der Büh­ne kann man sol­che Din­ge umkeh­ren und beob­ach­ten, ob dabei etwas Neu­es entsteht.

SCHAU INS BLAU: Neben die­sen trans­kul­tu­rel­len The­men bezieht Ihr Thea­ter auch vie­le loka­le Aspek­te mit ein. Es gab bei­spiels­wei­se das Pro­jekt „Stär­ken vor Ort“, das Kin­dern aus der unmit­tel­ba­ren Umge­bung die Welt des Thea­ters näher brach­te. Wie kann ein sol­ches Enga­ge­ment ein­her­ge­hen mit dem inter­na­tio­na­len Anspruch ihres Thea­ters? Denkt man an ihr eige­nes Stück „Böser Bru­der“, tritt die­ser Kon­flikt zwi­schen dem Loka­len und dem Trans­kul­tu­rel­len in Gestalt zwei­er Brü­der zu Tage. Ist Ihr Thea­ter mit den glei­chen Wider­sprü­chen konfrontiert?

SEBASTIAN SEIDEL: Ich bin weni­ger ein regio­na­ler Künst­ler. Auch wenn ich mich im Stadt­teil ein­set­ze, mit “Stär­ken vor Ort”, dann sind das vor allem Kin­der mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund, die eher ver­nach­läs­sigt sind von der Gesell­schaft. Es wur­de ver­sucht, uns als Thea­ter des Tex­til­vier­tels zu eta­blie­ren, als Stadt­teil­kul­tur sozu­sa­gen, aber das geht mit mir nicht so gut. Ich kann mir nicht vor­stel­len, ein Thea­ter zu lei­ten, das sich tat­säch­lich nur um einen Ort dreht. Das mag mit mei­ner Per­son zu tun haben. Ich kann kein Schwä­bisch, obwohl ich in Augs­burg woh­ne, obwohl ich in Ulm auf­ge­wach­sen bin. Ich bin wenig regio­nal ver­wur­zelt. Hei­mat ist für mich dann tat­säch­lich weni­ger der Ort an sich, son­dern die Leu­te, die dort sind und mit denen ich mich aus­ein­an­der­set­zen kann über die Spra­che, aber auch über die gene­rel­le Geis­tes­hal­tung. Ich habe in einem Stück über die Fug­ger­ge­stalt geschrie­ben, die sehr eng mit Augs­burg ver­bun­den ist, aber das, was mich an der Figur inter­es­siert hat, war beson­ders ihr glo­ba­les Den­ken und Han­deln. Das ist es, was ich span­nend fin­de. The­ma­ti­ken, die gänz­lich auf einen Ort beschränkt sind, gibt es ohne­hin kaum noch.

SCHAU INS BLAU: Man könn­te sagen, dass Kunst im All­ge­mei­nen Frei­räu­me schafft, in denen Hand­lungs- und Sinn­ent­wür­fe, also im Grun­de Iden­ti­tä­ten erprobt und getes­tet wer­den kön­nen. Inwie­fern bewe­gen Sie sich als Dra­ma­ti­ker in sol­chen Expe­ri­men­tier­räu­men des Aus­tes­tens von Identitäten?

SEBASTIAN SEIDEL: Als Dra­ma­ti­ker kann ich mir natür­lich jeg­li­che Iden­ti­tä­ten aus­den­ken, mich in die Figu­ren hin­ein­ver­set­zen und ver­su­chen, aus den Figu­ren her­aus zu han­deln. Wenn die Figu­ren­kon­stel­la­ti­on stimmt, dann ver­selbst­stän­di­gen sich die­se Iden­ti­tä­ten im Autor und man muss den Fort­gang der Geschich­te nur noch beglei­ten. So war es bei­spiels­wei­se beim ‚Bösen Bru­der‘, ich muss­te ab einem bestimm­ten Punkt nur noch ver­fol­gen, wie die bei­den Cha­rak­te­re auf­ein­an­der­pral­len. So kämp­fen plötz­lich zwei Iden­ti­tä­ten im Autor. Und man selbst ist ja auch noch dabei. Dann sind es drei Iden­ti­tä­ten. Das führt dann natür­lich zwangs­läu­fig zu der Fra­ge, was eigent­lich den inners­ten Kern des Men­schen aus­macht. Ich habe über Robert Musils ‚Mann ohne Eigen­schaf­ten‘ pro­mo­viert. Dort wird genau die­ses Urthe­ma, die Suche nach der eige­nen Iden­ti­tät ange­spro­chen. Ich den­ke eher, dass der Kern gar nicht so groß ist und man je nach Kon­text, den Lebens­um­stän­den, dem fami­liä­ren und sozia­len Umfeld Iden­ti­tä­ten aus­bil­det, die natür­lich immer ver­än­der­bar blei­ben. Den­noch hat man, wenn man wie ich in einer inter­na­tio­nal ver­net­zen Fami­lie auf­ge­wach­sen ist, ganz ande­re Vor­aus­set­zun­gen und in Bezug auf Trans­kul­tu­ra­li­tät ein ganz ande­res Ver­ständ­nis, als wenn man in einem schwä­bi­schen Dorf groß gewor­den ist. Da sind die Denk­wei­sen natür­lich sehr unter­schied­lich. Den­noch besteht grund­sätz­lich in bei­den Fäl­len die Mög­lich­keit, sich ent­we­der von etwas Frem­dem abzu­schot­ten, oder offen dafür zu sein.

SCHAU INS BLAU: Hat auch das Thea­ter ein Poten­ti­al, Iden­ti­tä­ten ins Wan­ken zu brin­gen oder gar Men­schen zu verändern?

SEBASTIAN SEIDEL: Auf jeden Fall. Das Thea­ter bie­tet da Unmen­gen an Spiel­mög­lich­kei­ten. Es wäre zu viel, von Erwe­ckungs­er­leb­nis­sen zu spre­chen, aber das Thea­ter kann durch­aus Wel­ten eröff­nen. Es gibt Momen­te als Zuschau­er, da merkt man, dass da etwas statt­fin­det auf der Büh­ne — man kennt es viel­leicht nicht, aber es fas­zi­niert einen. Wie eine Suche nach dem Ande­ren oder dem Frem­den. Glei­ches fin­det natür­lich auf der Büh­ne und im Schau­spiel statt. Gera­de in dem Pro­jekt „Stär­ken vor Ort“ haben wir ver­sucht, Thea­ter­sze­nen zu ent­wi­ckeln, die den betei­lig­ten Kin­dern ver­traut sind. In einem zwei­ten Schritt gin­gen wir über die­se Sze­ne hin­aus. Die Jugend­li­chen haben dann schnell gemerkt, was für eine Kraft im Thea­ter und Schau­spiel liegt. Sie konn­ten ihre eige­ne Iden­ti­tät von oben betrach­ten und sie dann auch ein­mal wech­seln, in ande­re Figu­ren schlüp­fen und dabei Gren­zen aus­tes­ten. Mich hat das Thea­ter auch immer inter­es­siert, weil es kri­tisch sein kann und kei­ner Ideo­lo­gie folgt. Eine Figur stellt Fra­gen und kommt in Kon­flikt mit einer Ideo­lo­gie, einem Herr­scher oder bloß einer gesell­schaft­li­chen Norm. Das Stre­ben nach Frei­heit ist ein extre­mer Motor des Theaters.

SCHAU INS BLAU: Ich wür­de ger­ne auf eine spe­zi­el­le Arbeit von Ihnen zu spre­chen kom­men. 2014 haben sie zusam­men mit And­res Nohl die deutsch-chi­ne­si­sche Antho­lo­gie „Tales of Two Cities“ her­aus­ge­ge­ben. Sie ent­hält sowohl Tex­te deut­scher als auch chi­ne­si­scher Autoren und Autorin­nen. Gleich­zei­tig ist die Antho­lo­gie in Chi­na in chi­ne­si­scher Spra­che ver­öf­fent­licht wor­den. Auch ein Aus­schnitt ihres Dra­mas „Love Movie Thea­ter“ ist dar­in zu fin­den. Wie kam es zu die­sem ein­zig­ar­ti­gen Projekt?

SEBASTIAN SEIDEL: Die chi­ne­si­sche Stadt Jinan ist eine Part­ner­stadt von Augs­burg. Es gibt immer wie­der eine Dele­ga­ti­on von Augs­bur­ger Schrift­stel­lern, die nach Jinan fliegt. Im Gegen­zug kom­men dann Autoren aus Jinan nach Augs­burg. Als Andre­as Nohl und ich ein­ge­la­den wur­den, haben wir über­legt, wie­so wir eigent­lich dort­hin flie­gen. Ein­fach um ein biss­chen mit­ein­an­der zu reden? Über die Struk­tu­ren in Chi­na, den Schrift­stel­ler­ver­band? Im Grun­de wis­sen wir dabei doch gar nicht, was die ande­re Sei­te eigent­lich schreibt und denkt über ihr Leben, über die Kunst. Gera­de als Künst­ler kann man nicht nur über äuße­re Din­ge spre­chen. Was nützt es mir zu wis­sen, dass mein Gegen­über Roma­ne schreibt und die­sen und jenen Preis gewon­nen hat. Man will doch dann auch über Inhal­te und die krea­ti­ve Arbeit spre­chen. Daher dach­te ich mir, dass das Tref­fen nutz­los ist, wenn nicht ein gemein­sa­mes Pro­jekt dar­aus her­vor­geht. Mit die­sem Vor­ha­ben gin­gen wir schließ­lich in das Tref­fen und nach ein, zwei Stun­den an Aus­tausch von Höf­lich­kei­ten habe ich die Idee die­ser Antho­lo­gie vor­ge­tra­gen. Sie waren sofort begeis­tert, wobei wir zunächst nicht ein­schät­zen konn­ten, ob die­se Begeis­te­rung eine der Höf­lich­keit oder eine ernst gemein­te ist. Wir jeden­falls haben es ernst genom­men, sind nach Augs­burg zurück und haben ver­sucht, Geld auf­zu­trei­ben bei der Stadt und dem Minis­te­ri­um. Als das funk­tio­nier­te, wähl­ten wir Augs­bur­ger Schrift­stel­ler aus und dann haben die Chi­ne­sen auch schnell begrif­fen, dass wir wirk­lich wis­sen wol­len, was sie schrei­ben. In Augs­burg haben wir dann auch einen Chi­ne­sen gefun­den, der die chi­ne­si­schen Tex­te über­setzt hat. So war beim nächs­ten Besuch die Mög­lich­keit gege­ben, sich wirk­lich über die Wer­ke zu unter­hal­ten und auch über unter­schied­li­che Lite­ra­tur­for­men. Was ist in Chi­na ein Roman? War­um sind Gedich­te so wahn­sin­nig wich­tig? Jeder Staats­chef schreibt dort Gedich­te. Vie­le Gedich­te wer­den in der Öffent­lich­keit kal­li­gra­phiert. Beson­ders in Jinan ist die Lyrik­tra­di­ti­on sehr ausgeprägt.

SCHAU INS BLAU: Wel­che Erkennt­nis­se haben Sie dadurch über die Art des Schrei­bens in Chi­na gewonnen?

SEBASTIAN SEIDEL: Nun, sie den­ken und schrei­ben ganz anders als wir, sehr viel tra­di­tio­nel­ler oder tra­di­ti­ons­be­wuss­ter, sie bezie­hen sich immer auf die Ver­gan­gen­heit. Auf die Groß­mutter, auf die Urgroß­mutter, auf den Krieg. Zumin­dest die Schrift­stel­ler, die für die Antho­lo­gie aus­ge­wählt wur­den. Viel­leicht fin­det momen­tan auch wie­der eine Rück­kehr zur Tra­di­ti­on statt, nach­dem bei der Kul­tur­re­vo­lu­ti­on alles über Bord gewor­fen wur­de. Vie­le der Tex­te beschrei­ben die Stadt Jinan, die Land­schaft, die Natur. Gene­rell ist mein Ein­druck, dass sehr viel über die Land­schaft aus­ge­drückt wird. In die­sen Land­schafts­bil­dern ste­cken unglaub­lich vie­le inter­tex­tu­el­le Ver­wei­se, die wir natür­lich gar nicht ver­ste­hen kön­nen, weil wir die Lite­ra­tur nicht ken­nen, auf die sie sich bezie­hen. Die deut­schen Autoren hin­ge­gen bewe­gen sich viel mehr im Heu­te, im Hier und Jetzt. Die Ver­gan­gen­heit wird zu Guns­ten der Gegen­wart zurück­ge­stellt. Aber obwohl die kul­tu­rel­le Dif­fe­renz zwi­schen Chi­na und Deutsch­land natür­lich noch viel grö­ßer ist als bei­spiels­wei­se zwi­schen der USA und Deutsch­land, ist sie den­noch im End­ef­fekt nicht so rie­sig, wie man im ers­ten Moment anneh­men wür­de. Chi­na ist mitt­ler­wei­le doch sehr west­lich und sehr offen. Mit ein­zel­nen Autoren haben sich daher sofort Ver­bin­dungs­li­ni­en erge­ben, die man wei­ter­den­ken wollte.

SCHAU INS BLAU: Was ich sehr gelun­gen fand, war, dass in der Antho­lo­gie immer abwech­selnd ein deut­scher und ein chi­ne­si­scher Text abge­druckt wur­de. Häu­fig ste­hen die bei­den Tex­te dann auch in einem Bezug zuein­an­der, was den Inhalt oder auch nur ein­zel­ne Wor­te angeht. Bei­spiel­wei­se beginnt das ers­te Gedicht von Lydia Daher mit dem Satz “Es reicht für den Anfang eine Bal­kon­sze­ne“. Der dar­auf­fol­gen­de Kurz­ge­schich­te von Hai Cheng spielt sich dann aus­schließ­lich auf dem Bal­kon ab und beginnt mit dem Satz: „Für den­je­ni­gen, der in einer Stadt­woh­nung lebt, ist der Bal­kon der Ort, wo er der Natur am nächs­ten ist, wo er sich son­nen, fri­sche Luft atmen und Blu­men haben kann“. Als Leser beginnt man da sofort Bezü­ge und Ver­knüp­fun­gen her­zu­stel­len und Sze­nen zusam­men­zu­den­ken. Ver­bin­dungs­li­ni­en sind auf jeden Fall vorhanden.

SEBASTIAN SEIDEL: Genau, für uns war auf jeden Fall klar, wir wol­len es abwech­selnd haben und nicht erst die deut­schen Tex­te und danach die chi­ne­si­schen. So fin­det eine bes­se­re Durch­drin­gung statt, durch die doch etwas Neu­es ent­ste­hen kann – und sei es im Kopf des Lesers. Hai Cheng, von dem die Bal­kon-Sze­ne stammt, war auch der ein­zi­ge Autor, auf den wir bestan­den haben, ansons­ten hat­ten wir kei­nen Ein­fluss auf die Aus­wahl der Autoren und Tex­te. Aber gera­de er schien sich tat­säch­lich aus­zu­ken­nen, mit euro­päi­scher Lite­ra­tur und wir haben sofort einen Zugang zu ihm gefunden.

SCHAU INS BLAU: Im ers­ten Moment scheint Text ein denk­bar unge­eig­ne­tes Medi­um für eine trans­kul­tu­rel­le Kom­mu­ni­ka­ti­on und Zusam­men­ar­beit zu sein. Sie hat­ten es ja ein­gangs schon ange­deu­tet. Selbst wenn man Kul­tu­ren nicht mehr als klar von­ein­an­der abge­grenzt auf­fasst, so besteht in der Spra­che doch eine gro­ße Bar­rie­re. In ande­ren Kunst­for­men, wie bei­spiels­wei­se der Musik, scheint ein Zusam­men­spiel ver­schie­de­ner Kul­tu­ren sehr viel leich­ter mög­lich. Wie­so machen Sie sich den­noch die Mühe, eine trans­kul­tu­rel­le Zusam­men­ar­beit auch im Bereich der Lite­ra­tur und Dra­ma­tik zu verfolgen?

SEBASTIAN SEIDEL: Also zunächst war es ja nicht mei­ne Ent­schei­dung, dass ich ins­be­son­de­re sprach­lich inter­es­siert bin. Viel­leicht hängt es doch mit mei­ner Iden­ti­tät zusam­men, dass ich mit Spra­che umge­hen kann, oder Lust habe, damit zu arbei­ten, mir dar­über Gedan­ken zu machen. Ich bin eben kein Maler oder Musi­ker gewor­den. Ich habe da schon immer mei­nen Onkel, Karl Ber­ger, bewun­dert. Der war Jazz-Musi­ker, hat über­all auf der Welt gespielt und immer sofort Leu­te gefun­den, die mit ihm musi­ziert haben. Musik ist in gewis­ser Wei­se eine inter­na­tio­nal ver­steh­ba­re Aus­drucks­form. Aber bei mir ist es nun mal die Spra­che und da ist es natür­lich etwas schwie­ri­ger. Die Spra­che hat aber auch Vor­tei­le oder bes­ser gesagt eine Kraft, die dazu her­aus­for­dert, sich über bestimm­te Inhal­te und Wor­te noch ein­mal genau zu ver­ge­wis­sern. Gera­de in der Über­set­zungs­ar­beit wird man häu­fig damit kon­fron­tiert. In der Lite­ra­tur muss man dann ein­fach nach dem kon­kre­ten Wort suchen. Die Spra­che for­dert höchs­te Prä­zi­si­on. Das wirft einen dar­auf zurück, wo man her­kommt und was man kennt, was man gele­sen hat und es begrenzt einen natür­lich auch auf einen gewis­sen Sprach­raum, oder viel­leicht auch Denk­raum oder Phi­lo­so­p­hie­raum. Und genau das Ent­de­cken die­ser eige­nen sprach­li­chen Her­kunfts­räu­me kann manch­mal ein sehr guter Aus­gangs­punkt sein, um mit ande­ren Denk­räu­men in Kon­takt zu tre­ten. So kön­nen ver­schie­de­ne Sprach­räu­me in Bezie­hung gesetzt wer­den und sich beein­flus­sen. Die Über­set­zer kön­nen da sehr her­aus­for­dernd sein. Sie fra­gen nach, weil sie wis­sen müs­sen, wie­so etwas so und so geschrie­ben wur­de. Man muss dann sehr genau erklä­ren, was man mit einem bestimm­ten Satz, einem bestimm­ten Wort zum Aus­druck brin­gen will. In die­sem Pro­zess ent­steht dann eine neue Pro­duk­ti­vi­tät, in der man merkt, aha, die­se Art von Rede­wen­dung, die­se Art von Denk­hal­tung gibt es im Chi­ne­si­schen gar nicht. Dann muss man ein Äqui­va­lent fin­den, das annä­hernd pas­sen könn­te, dann aber viel­leicht doch wie­der ande­re Asso­zia­tio­nen her­vor­ruft. In einer sol­chen Arbeit lernt man die Spra­che der ande­ren Kul­tur ken­nen. Ich mache mir dann rück­wir­kend auch Gedan­ken, ob mei­ne Spra­che wirk­lich so gut und sau­ber for­mu­liert ist, dass sie nur hier funk­tio­niert, mög­li­cher­wei­se nur im süd­deut­schen Raum. Schon ein paar hun­dert Kilo­me­ter wei­ter kön­nen auch inner­halb der deut­schen Spra­che Rede­wen­dun­gen eine ganz ande­re Kon­no­ta­ti­on haben. Inso­fern ist die Spra­che in einer trans­kul­tu­rel­len Zusam­men­ar­beit genau das Medi­um, das einen immer wie­der her­aus­for­dert oder dazu ver­dammt, sich Gedan­ken zu machen, über sich selbst und dar­über, wo man her­kommt und wo man hingeht.

SCHAU INS BLAU: Haben Sie kei­ne Angst um Ihre eige­nen Tex­te, wenn sie über­setzt wer­den? Man kann ja nun kaum über­prü­fen, was da nun unter eige­nem Namen geschrie­ben steht.

SEBASTIAN SEIDEL: Natür­lich kann es da leicht zu Miss­ver­ständ­nis­sen kom­men und die Über­set­zung kann ich letzt­end­lich über­haupt nicht beur­tei­len. Die Über­set­ze­rin, die mei­nen Text über­setzt hat, war ein­mal ein Jahr in Augs­burg. Inso­fern kann ich nur hof­fen, dass sie annä­hernd weiß, was ich geschrie­ben habe. Ver­ste­hen kann ich natür­lich ame­ri­ka­ni­sche Über­set­zun­gen. „Ham­let for you“ zum Bei­spiel wur­de ins Eng­li­sche über­tra­gen und dann in New York gespielt. Die­se Über­set­zung schien mir plau­si­bel. Es wur­de ver­sucht, die ori­gi­na­len Wort­spie­le mit eige­nen Wort­spie­len zu über­set­zen, die nicht auf der Sprach­ebe­ne, aber auf der inhalt­li­chen Ebe­ne ähn­lich sind. Dabei ach­te­te man sehr dar­auf, ob an bestimm­ten Punk­ten nun Iro­nie, Sati­re, Sar­kas­mus oder blo­ße Unter­hal­tung gefragt ist. Wenn man es liest, erscheint es zwar als etwas völ­lig ande­res, aber der Über­set­zer hat ver­sucht, der Funk­ti­on des Wort­spiels nach­zu­spü­ren und dann etwas gesucht, was in eine ähn­li­che Rich­tung geht. Es ist wirk­lich wahn­sin­nig schwie­rig, Lite­ra­tur zu über­set­zen. Wir haben ein­mal ein Stück von einem kroa­ti­schen Autor gespielt. Die Über­set­zung war höchst umstrit­ten und am Ende haben sich zwei Über­set­zer gegen­sei­tig vor­ge­wor­fen, dass die Über­set­zung des ande­ren nicht stimmt.

SCHAU INS BLAU: Ich bin froh, dass es den­noch immer wie­der ver­sucht wird. So habe ich zum ers­ten Mal in mei­nem Leben chi­ne­si­sche Lite­ra­tur gele­sen. Über­setzt lau­tet der chi­ne­si­sche Titel der Antho­lo­gie „Von der einen Sei­te der Brü­cke auf die ande­re gehen“. Wird die­se Brü­cke auch zukünf­tig wei­ter benutzt werden?

Wir ste­hen nach wie vor in Kon­takt zuein­an­der. Die Chi­ne­sen sind nun die trei­ben­de Kraft und wol­len unbe­dingt ein nächs­tes Buch machen. Der Prä­si­dent des chi­ne­si­schen Schrift­stel­ler­ver­ban­des hat eine unge­mein rüh­ren­de Ein­lei­tung für die chi­ne­si­sche Aus­ga­be der Antho­lo­gie ver­fasst, in der er betont, wie schick­sal­haft die Begeg­nung für ihn war und wie sehr er sich ver­bun­den fühlt mit uns. Wir brem­sen gera­de ein biss­chen, weil wir erst ein­mal die­ses Pro­jekt ver­ar­bei­ten müs­sen. Aber es wird auf jeden Fall wei­ter­ge­hen. Ziel ist es, aus die­sem Dia­log, den ich im momen­ta­nen Zustand noch als inter­kul­tu­rell bezeich­nen wür­de, eine trans­kul­tu­rel­le Zusam­men­ar­beit zu ent­wi­ckeln. Bis­lang haben die wenigs­ten der betei­lig­ten Autoren eine Ahnung von der schrift­stel­le­ri­schen Tra­di­ti­on des jeweils ande­ren Lan­des. Aber es ste­hen Ideen im Raum. Bei­spiels­wei­se, dass man als nächs­ten Schritt über die jeweils ande­re Part­ner­stadt schreibt. Da könn­te etwas ent­ste­hen. Oder auch der Gedan­ke, dass zwei Autoren gemein­sam an einem Werk schrei­ben oder sich im Ent­ste­hungs­pro­zess austauschen.

SCHAU INS BLAU: Ich bin gespannt auf das, was kom­men wird! Herr Sei­del, ich dan­ke Ihnen herz­lich für das Gespräch und wün­sche dem Sen­sem­ble-Thea­ter und Ihrer Zusam­men­ar­beit mit Chi­na wei­ter­hin viel Erfolg und alles Gute!

Sebas­ti­an Sei­del, gebo­ren 1971 in Ulm, stu­dier­te Ger­ma­nis­tik, Geschich­te und Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät Augs­burg und an der Uni­ver­si­ty at Albany/NY. Nach sei­nem dem Stu­di­um rief er das freie Sen­sem­ble-Thea­ter ins Leben, das er bis heu­te lei­tet. Im Jahr 2000 pro­mo­vier­te Sei­del über Robert Musils „Mann ohne Eigen­schaf­ten“. Er ver­fass­te zahl­rei­che Dra­men, die wie bei­spiels­wei­se „Ham­let for You“ inter­na­tio­na­le Erfol­ge fei­er­ten. Obgleich in sei­nen Stü­cken häu­fig tra­di­tio­nel­le Figu­ren auf­ge­grif­fen wer­den, ver­sucht er stets einen oft humo­ris­ti­schen, aber auch kri­ti­schen Bezug zur Gegen­wart her­zu­stel­len. Im Rah­men eines deutsch-chi­ne­si­schen Lite­ra­tur­pro­jek­tes ent­stand die Antho­lo­gie „Tales of Two Cities“, die Sei­del 2014 gemein­sam mit dem Autor Andre­as Nohl veröffentlichte.