Verlaufen

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von Lucy Fricke

 

Ein gewöhn­li­cher Tag im März, es schneit, der Nah­ver­kehr streikt, drau­ßen tobt eine der größ­ten Finanz­kri­sen der letz­ten Jahr­zehn­te, die Milch­prei­se sind um 20 Pro­zent gestie­gen, die Gas­prei­se um 30, ich habe Aus­schlag von der neu­en Nacht­creme und die Taxi­zen­tra­le sagt, es wür­de vier­zig Minu­ten dau­ern bis ein Wagen bei mir wäre. Ich erlei­de einen Anfall, wie ich ihn in letz­ter Zeit häu­fi­ger habe, irgend­wo zwi­schen Jam­mern und Flu­chen, wie­der­holt höre ich mich schrei­en: Mein Flug geht in einer Stun­de! Ich brül­le etwas von Unver­schämt­heit, von Dil­le­tan­tis­mus, Ver­sa­ger, Pen­ner, Nichts­nut­ze schreie ich und noch etwas, das sich auf den Unter­gang die­ses gan­zen Scheiß­sys­tems bezieht, nur weil ein paar Hor­noch­sen jetzt, aus­ge­rech­net jetzt mehr Geld haben wol­len. Aus dem Hörer erklingt ein Tuten. Ner­ven wie Zahn­sei­de, den­ke ich und hal­te mei­ne Nase über eine klei­ne Scha­le mit Zeug, die mir mei­ne Nach­ba­rin letz­te Woche schenk­te. Das Zeug in der Scha­le sieht aus wie mein vol­ler Aschen­be­cher, besteht aber aus getrock­ne­ten Oran­gen­scha­len, Sal­bei­blät­tern, Laven­del und wei­te­ren Geheimin­gre­di­en­zi­en, Gelas­sen­heit nann­te mei­ne Nach­ba­rin die­ses Gebrö­sel. Ich atme tief ein, man muss nur dar­an glau­ben, nur dar­an glau­ben, ich atme immer noch ein, Gelas­sen­heit, ich atme aus, ich atme sehr lan­ge aus. Ich wäh­le die Num­mer eines ande­ren Taxi­un­ter­neh­mens. Eine knap­pe Stun­de, sagt die Frau am ande­ren Ende. Ich atme ein. Ich erklä­re ihr, ganz ruhig, die Situa­ti­on und dass ich weiß, ich hät­te ges­tern bereits ein Taxi bestel­len sol­len, das weiß ich doch, trotz­dem habe ich es nicht getan, und heu­te nützt mir das gar nichts. Ich bie­te den dop­pel­ten Preis, sie sagt: einen Moment bit­te, ich höre sie flüs­tern mit ande­ren, sie spricht wie­der in das Mikro: In fünf Minu­ten wird ein Wagen bei Ihnen sein, und ich fra­ge sie nach ihrem Namen und ver­spre­che Blu­men zu schicken.Es dau­ert nicht fünf, es dau­ert drei Minu­ten, ich grei­fe mei­ne Tasche, die immer­hin hat­te ich ges­tern schon gepackt, bevor ich noch auf ein Getränk in die Bar bin, wo ich schließ­lich mor­gens um sechs immer noch saß und hin­ter her­un­ter­ge­las­se­nen Roll­lä­den mit dem Bar­mann heim­lich rauch­te, eine Beschäf­ti­gung die seit kur­zem ähn­lich geäch­tet war wie öffent­li­ches Ona­nie­ren. Hät­te ich vor lau­ter Begeis­te­rung dazu nicht ganz so viel getrun­ken, wäre ich jetzt wohl in bes­se­rer Ver­fas­sung, aber auch das lässt sich nicht mehr ändern. Ich wer­fe mich mehr auf die Rück­bank, als dass ich ein­stei­ge, ich sage: Tegel: ich sage: Linie, Ter­mi­nal 3, ich sage: die Zeit rennt. Der Fah­rer flucht. Auf dem Fet­zen Papier, der heut­zu­ta­ge das Ticket sein soll, ist ein fri­scher Kaf­fee­fleck und die Mög­lich­keit erwähnt mit dem Han­dy ein­zu­che­cken. Zehn Minu­ten lang tip­pe ich Zah­len­kom­bi­na­tio­nen, Flug­num­mern, Namen in das Tele­fon, dann habe ich einen Fens­ter­platz in der neun­ten Rei­he bekom­men. Ich leh­ne mich zurück und der Fah­rer hupt sich den Weg frei. Quiet­schen­de Rei­fen in der Hal­te­bucht und schon rase ich durch den Ter­mi­nal bis zur Sicher­heits­kon­trol­le, wo ich den Beu­tel mit den klei­nen Fläsch­chen her­aus hole, kei­nes grö­ßer als 100ml, alles abge­füllt, umge­füllt, Dusch­gel, Sham­poo, Lotion, mein Kon­takt­lin­sen­rei­ni­ger gilt nach neu­es­ten Bestim­mun­gen als Medi­ka­ment, was in Ord­nung geht, schließ­lich ist Kurz­sich­tig­keit einen amt­li­che Behin­de­rung. In den nächs­ten Kas­ten wer­fe ich mei­nen Lap­top, dann Jacke, Schal und Müt­ze, einen Gür­tel tra­ge ich nicht, beim Flie­gen nie, auch ansons­ten nir­gend­wo Metall am Kör­per. Durch die Laut­spre­cher dringt der letz­te Auf­ruf für Pas­sa­gie­re des Flu­ges Ber­lin-War­schau, ich hal­te mei­nen Pass auf­ge­klappt in der Hand und sofort schlie­ßen sich die Türen des Shut­tle-Bus­ses hin­ter mir.

Die Maschi­ne lan­det mit einer hal­ben Stun­de Ver­spä­tung, ich ver­pas­se die Däm­me­rung und lan­de in einem küh­len, ver­wisch­ten Abend. Eine feuch­te Käl­te hängt über dem Roll­feld, der ers­te Ein­druck die­ser Stadt ist der eines alten Wisch­lap­pens, der zum Trock­nen im Regen hängt.

Nach unge­zähl­ten Mona­ten bin ich das ewi­ge Rei­sen leid, als wür­de der Boden mit jedem Aus­stieg aus einer Bahn oder einem Flug­zeug wei­cher wer­den, als dro­he der Boden sich auf­zu­lö­sen unter mei­nen Schrit­ten, viel­leicht bin auch ich es, dich sich lang­sam auf­löst so genau kann ich das nicht sagen, nur das alles dünn wird, durch­läs­sig, weich, als sei alles nur noch ein ein­zi­ges Tor­keln. All das ist einem Buch anzu­las­ten, wel­ches ich ver­fasst habe und in dem es, grob gesagt, um Wür­de und Armut geht, ein The­ma, um das sich Haupt­städ­te regel­recht rei­ßen, wie ich schon sehr bald nach der Ver­öf­fent­li­chung zu spü­ren bekam. Es ist eine spe­zi­el­le Iro­nie dabei, dass sich Bücher über Armut ver­teu­felt gut ver­kau­fen und ich seit einem knap­pen Jahr aus­ge­bucht bin, mich von Stadt zu Land flie­gen las­se, wo ich aus­nahms­los in gepfleg­ten Hotels und Restau­rants ein­keh­re. Ich weiß nicht mehr, wann ich das letz­te Mal einen öffent­li­chen Bus genom­men habe, genau­so wenig wie ich weiß, was man mitt­ler­wei­le für einen Liter fett­ar­me Milch bezahlt. Unter mora­li­schen Gesichts­punk­ten ist es eine Unver­schämt­heit, dass man mir jetzt für die­ses Buch einen Preis ver­lei­hen will, der mit 20.000€ dotiert ist. Ich habe mich bei Leu­ten infor­miert, die Erfah­rung damit haben, und die Mei­nung war ein­hel­lig: bei 20.000 musst du hin­fah­ren, bei 20.000 musst du nicht nur hin­fah­ren, du musst eine Rede hal­ten, wären es 10.000 gewe­sen hät­te ich viel­leicht zuhau­se blei­ben, ein paar Dan­kes­wor­te zu Papier brin­gen und die Kon­to­num­mer mit­schi­cken kön­nen, aber so hat­te ich kei­ne Wahl. Zumal nicht damit zu rech­nen war, dass mei­ne Popu­la­ri­tät auf die­sem Level blei­ben wür­de, ich habe ein­fach einen Lauf gera­de, mei­nen aller­ers­ten und viel­leicht aller­letz­ten und wenn man die­sen Lauf hat, wenn das dei­ne Wel­le ist, dann musst du sie rei­ten. Ich habe nicht mehr die Zeit mit einem Joint am Strand zu sit­zen und auf die nächs­te Gele­gen­heit zu war­ten, mit Ende Drei­ßig wird selbst das Meer ruhiger.

Mit mei­nem Hand­ge­päck lau­fe ich durch Hal­len, ein paar ver­stumm­te Beam­te hin­ter nicht benut­zen Schal­tern, immer dem grü­nen Signal fol­gend, EU-Bür­ger, kei­ne zoll­pflich­ti­gen Waren, kein auf­ge­ge­be­nes Gepäck, ich lau­fe wie am Schnür­chen in die Frei­heit, läch­le einer regel­rech­ten Dele­ga­ti­on zu, schütt­le Hän­de und las­se mich auf die Rück­bank einer schwar­zen Mer­ce­des-Limou­si­ne fal­len. Es gibt Stim­men, Vor­schlä­ge, Plä­ne, es gibt Reser­vie­run­gen, Tref­fen, Attrak­tio­nen, es gibt Mur­ren, als ich sage: Ich füh­le mich nicht wohl, und Schwei­gen, als ich behar­re, heu­te Abend nur noch schla­fen zu wol­len. Es gibt an einer Rezep­ti­on die Kar­te zu einem Zim­mer im vier­ten Stock, es gibt auto­ma­ti­sches Licht beim Ein­tre­ten, eine Nach­richt auf dem Fern­seh­ge­rät und Scho­ko­la­den­her­zen auf dem Bett.

Als ers­tes öff­ne die Mini­bar und lee­re ein zar­tes Fläsch­chen Whis­key, wobei ich an der Decke den Rauch­mel­der ent­de­cke, der auch eine Kame­ra sein könn­te, ein klei­nes, rotes Licht blickt direkt auf mich hin­un­ter und klebt mir im Gesicht. Auch im Bad haben sie einen mon­tiert. Über­all lau­ern hier klei­ne, leuch­ten­de Punk­te. Fern­se­her, Safe, Tele­fon, Tür­schloss, Steck­do­se, es ist unmög­lich sich in die­sem Raum allein zu füh­len, und ich füh­le mich ger­ne allein. Durch das Fens­ter kann ich nur eine gegen­über­lie­gen­de graue Wand sehen, wie hin­ge­wor­fen klebt am obe­ren Rand ein win­zi­ger Glas­bau­stein in dem Beton. Wenn ich hin­un­ter sehe, endet mein Blick zwei Meter wei­ter an dem Kühl­ag­gre­gat der Kli­ma­an­la­ge, den Boden des Hofes sehe ich nicht, der Aus­druck düs­ter wäre für die­ses Bild maß­los unter­trie­ben. In mei­nem Rücken spü­re ich wei­ter die roten Lämp­chen, unwill­kür­lich den­ke an Laser­ge­weh­re und an die Aus­lö­schung jeg­li­cher Exis­tenz. Mir wird klar, dass ich auf kei­nem guten Weg bin, dass ich dabei bin auf die­ser Stre­cke falsch abzu­bie­gen. Ich blinz­le ein paar mal, schütt­le hef­tig mei­nen Kopf, doch die Enge bleibt, und kurz den­ke ich: die Rede, ich muss doch die Rede fer­tig schrei­ben, dann sehe ich neben den roten auch noch ein paar schwar­ze Punk­te und fast schon in Panik grei­fe ich mei­ne Hand­ta­sche und stür­me hin­aus. Ein­fach nur lau­fen, ein­fach nur ein Stück lau­fen, ein paar Meter nur, ein biss­chen fri­sche Luft und jetzt begin­ne ich doch zu ren­nen, ren­ne durch die Stra­ßen, über einen klei­nen Platz, über Kreu­zun­gen, durch ein Stück Grün mit lee­ren Bän­ken, ich ren­ne bis ich den Fluss errei­che, weiß nicht mehr, wann ich das letz­te Mal so gerannt bin. Der Anblick des trü­ben Was­sers beru­higt mich, gekrümmt ste­he ich am Ufer, Sei­ten­sti­che links und ein rasen­des Herz. Ich gehe ein paar Schrit­te in die Rich­tung, wo ich das Zen­trum ver­mu­te, Pas­san­ten schau­en mich aus den Augen­win­keln an und wie­der weg. Ich kann mir vor­stel­len, wie ich aus­se­he, ein glü­hend roter Kopf, Schweiß im Haar, mög­li­cher­wei­se habe ich gar etwas Irres im Blick, das kann ich von hier drin­nen nicht beur­tei­len. Wenn ich nach vor­ne schaue, sehe ich die Sky­line von War­schau, die auch hier nur aus Hoch­häu­sern besteht. Es bleibt die Fra­ge, was ich sonst erwar­tet habe. Von den Hoch­häu­sern abge­se­hen ist es dun­kel in War­schau. Ich tas­te mich vor­an, ohne Ziel und Ver­stand. Ein Bier könn­te hel­fen, eine Bar, ein Schluck, gesetz­te Ruhe, Bli­cke in Glä­ser und Wel­ten, ich neh­me die ers­te Knei­pe, die sich mir in den Weg stellt, sie ist hol­zig, sie ist voll, laut und bil­lig. Ein Hocker am Ende des Tre­sens, ganz allein, abseits vom Gewühl, ich sehe ihn schon vom Ein­gang aus und kämp­fe mich durch. Sit­zen hilft, Trin­ken auch und mehr ver­lan­ge ich nicht vom die­sem Abend. Die Ord­nung kehrt schlei­chend zurück, beim zwei­ten Bier schnel­ler als beim ers­ten und beim drit­ten ist schon fast wie­der alles an sei­nem Platz. Ich ver­lie­re mich in frem­den Wor­ten und Lau­ten, nichts ist ver­traut und doch alles bekannt. Spra­che ist nicht mehr als ein Hilfs­mit­tel. Ich schwei­ge. Die Fremd­heit besteht immer zu drei­vier­tel aus einem Selbst, was nicht zwangs­läu­fig ange­nehm sein muss. Die Fremd­heit ist nah und zu viel. Nach Hau­se wäre gut, schla­fen, auf­wa­chen, lie­gen blei­ben, die ewi­ge Fra­ge, wo das ist, wo das sein soll und zurück zu den Ein­fach­hei­ten, Zuhau­se ist da, wo die Post hin­ge­schickt wird, wo man tat­säch­lich den Brief­kas­ten leert, täg­lich am bes­ten. Irgend­wann muss es genug sein mit den immer­glei­chen Fra­gen und der nicht enden­den Varia­ti­on von Ant­wor­ten. Ich hebe mei­nen Arm mit dem Wunsch nach der Rech­nung, grei­fe nach dem Porte­mo­naie und dann ist es pas­siert, dann ist es weg, alles, dann ist da nichts mehr, nur noch die Bläs­se in mei­nem Gesicht und nichts in der Hand. Die Tasche, die eben noch da, die eben noch am Hocker, die eben noch. Nichts.

Ich könn­te zap­fen, spü­len, tan­zen. Ich könn­te noch mal ganz vor­ne, könn­te ille­gal in Polen leben, mich ver­hei­ra­ten und Kin­der groß­zie­hen. Statt­des­sen Schul­ter­zu­cken vom Bar­mann, Kopf­schüt­teln und mor­gen, mor­gen ist auch noch ein Tag, mor­gen kann ich wie­der­kom­men, mor­gen ist die Rech­nung immer noch da und das wird ver­spro­chen. Mor­gen. Und ich wer­de, ganz sicher wer­de ich. Das Ver­trau­en von Bar­män­nern ent­täuscht man nicht, nie­mals und unter kei­nen Umstän­den. Einen Bar­mann zu beschei­ßen führt direkt in die Höl­le, des­sen bin ich mir sicher und war das schon immer.

Es wird sich alles klä­ren, alles behe­ben las­sen, es sind nur Kar­ten, es ist nur Geld, es ist nur das Han­dy, das Black­ber­ry, es sind nur Adres­sen, Num­mern, Iden­ti­fi­ka­tio­nen, Bewei­se. Das Hotel wird hel­fen, die Rezep­ti­on wird hel­fen, die Poli­zei, der Schlaf wird hel­fen. Ich muss nur hin­kom­men, nur ein kur­zes Stück noch und alles wird nur halb so schlimm sein. Ein Taxi wird hel­fen, ein Fah­rer, der wis­sen wird, wo ich bin und wo ich hin will. Ein paar Schrit­te nur und dort ste­hen die Wagen in Rei­he. Wie­der die Rück­bank, der Aus­schnitt eines Gesich­tes im Spie­gel, wie­der die Müdig­keit. Mar­riott, sage ich, und er fährt los, über Haupt­stra­ßen und Kopf­stein­pflas­ter, Ein­bahn­stra­ßen, Schleich­we­ge, Schnell­stra­ßen, vor­bei an Ein­kaufs­zen­tren, Luxus­mei­len, Bau­ge­rüs­ten, Brach­an­la­gen, die­se Stadt gleicht einer Wun­de, an der die Näh­te auf­ge­platzt sind, das Inne­re quillt in alle Rich­tun­gen und mei­ne ein­zi­ge Ori­en­tie­rung ist das Taxa­me­ter, wel­ches sich immer, egal wo, bei Orts­frem­den vor Freu­de über­schlägt. Es rat­tert in mei­nen Ohren, voll­kom­men unmög­lich so weit gelau­fen zu sein, ich begin­ne auf mei­nem Sitz her­um­zu­zap­peln, der Fah­rer wirft mir einen Blick zu und nickt freund­lich. Weni­ge Minu­ten spä­ter hält er an, zeigt mit dem aus­ge­streck­ten Fin­ger nach rechts und dort steht es, in leuch­ten­den Buch­sta­ben: Hotel Mar­riott. Das kann nicht sein, den­ke ich, und sage das auch, das ist nicht mein Hotel, mein Hotel war klei­ner, mein Hotel war älter, mein Hotel war über­haupt ganz woan­ders. Er zeigt nur wei­ter mit dem Fin­ger auf das Schild über dem Ein­gang und Moment, sage ich, ich wer­de rein­ge­hen und das klä­ren. Aber so ein­fach ist das nicht. Er will sein Geld, er will es jetzt, sofort, ges­tern am bes­ten, er schreit, ich ver­ste­he kein Wort, trotz­dem alles, er häm­mert auf sei­nen Taxa­me­ter, schlägt auf das Lenk­rad, er brüllt, ich brül­le, der Typ ist nicht ganz bei­sam­men, den­ke ich noch, da steigt er schon aus, läuft um den Wagen her­um und zerrt mich am Man­tel­kra­gen hin­aus. Wir brül­len uns in die Gesich­ter, bis ich mich los­rei­ße und zum zwei­ten Mal an die­sem Tag begin­ne ich zu ren­nen, ich ren­ne und höre wie er in sein Auto springt, das Gas­pe­dal durch­drückt. Die­ser Irre rast mir auf dem Bür­ger­steig hin­ter­her, ich flüch­te nach links in eine klei­ne Stra­ße, in ein Gewirr von Stra­ßen, ich flüch­te, ich flüch­te tat­säch­lich den­ke ich, in mei­nem gan­zen Leben bin ich noch nie geflo­hen, vor nichts und nie­man­den. Ich ren­ne, ich ren­ne wei­ter, links rein, rechts rein, ich stür­ze in eine Bar, drei Stu­fen hin­ab. Alles starrt mich an, wie ich im Tür­rah­men ste­he, um Halt und Luft kämp­fend. Ja, mir ist zu hel­fen, möch­te ich sagen, mir wäre unter Umstän­den zu hel­fen, wenn es jetzt jemand rich­tig gut mir mei­nen wür­de, dann wäre ich zu ret­ten. Ansons­ten ver­lo­ren, das ahne ich in die­sem Moment. Bli­cke wie schwe­re Pran­ken auf den Schul­tern, es drückt mich nie­der, ich taum­le auf dem Trep­pen­ab­satz ihres Wohn­zim­mers, jemand ruft mir etwas ent­ge­gen, was wohl eine Fra­ge ist und mir ver­sagt die Stim­me. Lang­sam set­ze ich die Schrit­te zurück, tas­te nach dem Aus­gang, kein Ort zum Blei­ben, ich will nach Hau­se, ein­fach nur nach Hau­se, ich will schla­fen. Der Schwin­del reicht bis in die Füße. An Haus­wän­den stüt­ze ich mich ab, See­manns­gang durch frem­des Land.

Mei­ne Erin­ne­rung ist nicht auf Stand, ich kam mit dem Flug­zeug, ich ging in ein Hotel und weiß noch, wie der Aus­blick aus mei­nem Fens­ter war, ein enges Grau, ich weiß, das Bett stand rechts neben der Tür, das Bad war links, die Mini­bar neben dem Schreib­tisch, das alles weiß ich und es hilft nicht. Wie waren die Namen? Wo waren die Ver­ab­re­dun­gen, wann waren sie? War mein Hotel viel­leicht gar nicht das Mar­riott son­dern doch das Inter­con­ti, Sofi­t­el, Radis­son, Westin, Hil­ton, Hyatt?

Wel­che Num­mer hat­te mei­ne Kre­dit­kar­te? Wie lan­ge ist der Aus­weis noch gül­tig? Wie groß bin ich wirk­lich? Wann habe ich mei­ne Mut­ter das letz­te Mal gese­hen? Ich ver­su­che das Was­ser zu fin­den, Flüs­se sind Adern, Flüs­se sind immer da, wo sie waren, an Flüs­sen lässt sich eine Rich­tung aus­ma­chen. Das wäre hilf­reich, eine Rich­tung, eine Ori­en­tie­rung, etwas an dem man ent­lang gehen kann. Viel­leicht soll­te ich zur Poli­zei gehen, den Dieb­stahl mei­ner Hand­ta­sche in einer trun­ke­nen Nacht mel­den, viel­leicht soll­te ich mir hel­fen las­sen, viel­leicht soll­te ich mich erin­nern, mich end­lich erin­nern. Einen Schritt vor den ande­ren, ich schwit­ze immer noch oder schon wie­der, ich höre das Blut in mei­nem Kopf rau­schen, ich höre Kin­der­schreie von weit her. Irgend­et­was ist geris­sen, eine Ver­bin­dung hat sich gelöst. Das Leben ist nur ein Ort, der auch woan­ders lie­gen könn­te. Ich wan­ke die Haupt­stra­ße hin­un­ter. Die Stadt ist grob, sechs Spu­ren, schma­le Geh­we­ge, Häu­ser, die sich nei­gen und nir­gend­wo Bewoh­ner. Wie spät mag es sein? Wo ist Nor­den? Wo ist die Mit­te, wo der Fluss? Und wo, wo ist das Hotel? Als ich einen klei­nen Platz errei­che, kni­cken mir die Bei­ne weg, als hät­ten sich die Mus­keln auf­ge­löst in Sekun­den­schnel­le, jetzt also auch noch die Bei­ne und dann sacke ich zusam­men auf einer klei­nen, frisch gestri­che­nen Bank. Grün ist die Far­be und noch feucht. Ich stre­cke mich aus, lege mir die Hän­de unter den Kopf, ich frie­re, ich schwit­ze, schlie­ße die Augen. Ruhig ist es, sehr ruhig und der letz­te Satz, bevor ich ver­schwin­de: Ich ist auch nur ein Name.

Lucy Fri­cke wur­de 1974 in Ham­burg gebo­ren, sie hat an zahl­rei­chen Film- und Fern­seh­pro­duk­tio­nen mit­ge­ar­bei­tet, bevor sie 2003 ihr Stu­di­um am Lite­ra­tur­in­sti­tut Leip­zig begann. 2005 gewann sie den „open mike” der Lite­ra­tur­werk­statt Ber­lin, der als wich­tigs­ter Preis für Nach­wuchs­au­to­ren gilt. Ihr Debüt­ro­man “Durst ist schlim­mer als Heim­weh” erschien zwei Jah­re spä­ter im Piper Ver­lag. Zur Zeit ist sie Sti­pen­dia­tin im Künst­ler­haus Lukas, Ahren­shoop, wo sie an ihrem zwei­ten Roman und einem Dreh­buch arbeitet.