Gehen

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© Blau­druck: Fabi­an Schwankhart

von Martha Baer

Du schaust mich dumpf an. Durch mich hin­durch schaust du. Die Lee­re spie­gelt sich in dei­nen Augen. Noch einen Schritt, sage ich zu dir, du schaffst das, wir müs­sen nur zwei Stock­wer­ke nach unten gehen, dann sind wir zu Hau­se. Zuhau­se, fragst du, ja, sage ich, in dei­ner Woh­nung, du wie­der­holst es und schaust wie durch Glas. Du bewegst dich nicht. Ich zie­he dich an dei­ner Hand, streich­le sie, zie­he wie­der. Rau­chen ver­bo­ten, mur­melst du und zeigst auf die Tür zum Spei­cher. Ja, sage ich, auf dem Spei­cher darf man nicht rau­chen, jetzt komm, ich weiß, dass du lau­fen kannst, vor­hin bist du auch so toll gelau­fen, es ist nicht weit. Bit­te, sage ich noch. Du schaust auf die Spei­cher­tür. Mit der Ober­sei­te dei­nes zitt­ri­gen Zei­ge­fin­gers streichst du dir dei­ne dün­nen roten Haa­re aus der Stirn und ich sehe, dass sie nass ist vor Schweiß­per­len. Die Tür von Roma­novs­kys geht auf, bei­de schau­en mich besorgt an, fra­gen, ob sie hel­fen kön­nen. Ich zucke mit den Ach­seln, du schaust auf den Boden und atmest schwer. Dan­ke, ich ver­su­che es noch­mal, eigent­lich ist das kein Pro­blem, sage ich, und Roma­novs­kys tau­schen einen Blick aus, nicken mir zu und schlie­ßen die Tür. Dei­ne Hand ist schlaff, ich habe Durst, sagst du, und mir tut mein Kopf so weh, mein blö­der Kopf, hast du nicht noch­mal so eine Klei­ne für mich, und wäh­rend du das fragst, streichst du dir erneut über die nun blos­se Stirn. Ja, wenn wir unten sind, kann ich dir eine Tablet­te geben, sage ich, und du kannst dich ganz gemüt­lich auf dein Sofa set­zen und lesen oder fern­se­hen, ich gebe dir eine Tablet­te und dann gehen die Schmer­zen weg, aber dafür müs­sen wir erst­mal run­ter gehen. Wie­so run­ter, fragst du, in dei­ne Woh­nung, ant­wor­te ich, und dies­mal wie­der­holst du es nicht. Ich neh­me noch dei­ne ande­re Hand und zie­he dich an bei­den. Ich kann nicht, sagst du. Dei­ne Stim­me klang noch nie so erschöpft. Die Vehe­menz, mit der ich dich davon zu über­zeu­gen ver­su­che, dass du unbe­dingt in dei­ne Woh­nung gehen musst, kommt mir plötz­lich absurd vor. Ich streich­le dei­nen Kopf, spü­re dei­nen Schweiß. Ich fra­ge mich, was in dir vor­geht. Ich sehe dich an und fal­le durch dich hin­durch in einen unend­li­chen, gedämpf­ten Raum. Heu­te im Haus, hebst du an, und es scheint dich unglaub­lich anzu­stren­gen, heu­te im Haus, da war wie­der die­se Sache, die­se, ja, das haben sie gebracht, und ich habe gesagt, Moment mal, habe ich gesagt, und, das geht doch nicht, aber wie es immer ist, nie­mand macht was, weil, mit die­sem Dings, oder? Mh, mache ich und nicke. Dein auf mich gerich­te­ter Blick ver­liert kurz sei­nen Fokus, dann fängst du ihn wie­der ein. Wir müs­sen auch dei­ne Win­del wech­seln, ver­su­che ich es noch­mal, wir wol­len doch nicht, dass dann alles nass ist. Pfui, stößt du her­vor, bewegst dich aber kei­nen Mil­li­me­ter. Unten kannst du malen, sage ich. Du schaust aus dem Fens­ter und siehst einer Tau­be nach. Der Kike­ri­ki war heu­te nicht da, sagst du und lächelst bedau­ernd. Okay, sage ich, ver­su­chen wir es ein letz­tes Mal, ich weiß, dass du allei­ne bis in den vier­ten Stock gestie­gen bist, jetzt müs­sen wir nur die Hälf­te davon wie­der run­ter, dann sind wir da. Du schaust mich ver­ständ­nis­los und ein wenig belus­tigt an und kicherst kurz. Dann seufzt du und sagst, ach, ich wür­de mich so ger­ne mal hin­set­zen. Du lehnst dich mit dem Rücken gegen die Wand und beugst die Knie, sinkst lang­sam nach unten. Die Tür von Roma­novs­kys geht erneut auf, Herr Roma­novs­ky bringt einen Stuhl. Ich schaue ihn fra­gend an, nicht, dass sie dann gar nicht mehr auf­ste­hen kann, sage ich, aber sie kann ja kaum mehr ste­hen, sagt er und stellt den Stuhl neben dich. Du fällst zur Sei­te auf die Sitz­flä­che, kurz habe ich Angst, der Stuhl könn­te kip­pen, aber Herr Roma­novs­ky hält ihn fest. Frau Roma­novs­ky steht im Tür­rah­men und schüt­telt den Kopf. Die Tür von Garo­nis geht auf, Herr Garo­ni wirft gehetzt sei­nen Ruck­sack über die Schul­ter und eilt auf die Trep­pe zu, da sieht er uns. Oh, sagt er und bleibt ste­hen. Ja, sagt Herr Roma­novs­ky. Frau Roma­novs­ky im Tür­rah­men schüt­telt wei­ter den Kopf und hebt bei­de Augen­brau­en. Sie kann nicht mehr lau­fen, sagt sie, und du lachst lei­se und machst ganz gro­ße Augen. Ach, sagt Herr Garo­ni. Viel­leicht kön­nen wir den Stuhl tra­gen, sagt er nach einer kur­zen Pau­se. Frau Roma­novs­ky wider­spricht vehe­ment, nein, so kann man das nicht machen. Herr Roma­novs­ky wirkt unent­schie­den, nickt aber stets zu dem, was sei­ne Frau sagt. Frau Wisch­now, sagt er und stellt sich vor dich hin, du schaust ihn erschro­cken an und schaust dann zu mir, ich nicke dir zu und du schaust wie­der ihn an. Sol­len wir Sie mal hoch­zie­hen, fragt Herr Roma­novs­ky und ver­sucht, auf­mun­ternd zu wir­ken, und du lachst dein Per­len­la­chen, in einer gedämpf­ten Ver­si­on. Mei­nen Sie, dass wir das schaf­fen, zwin­kert er dir wie­der zu. Du kicherst und machst eine weg­wi­schen­de Hand­be­we­gung, aber natür­lich schaf­fen Sie das, sagst du, da müs­sen Sie sich gar kei­ne Sor­gen machen. Ja, sagst du ener­gi­scher, Sie schaf­fen das auf jeden Fall. Herr Roma­novs­ky schaut mich an. Herr Garo­ni kommt in dei­ne Rich­tung und stellt sich neben ihn. Hal­lo Frau Wisch­now, sagt er unbe­hol­fen, hal­lö­chen, flö­test du, und ich mer­ke, wie sehr ich dich lie­be. Sol­len wir Sie mal hoch­zie­hen, wie­der­holt er etwas unin­spi­riert die Fra­ge von Herrn Roma­novs­ky. Wir schaf­fen das, blitzt du plötz­lich auf und lachst, die­ser Satz scheint dich an etwas zu erin­nern, aber du weißt nicht mehr, an was, und ich habe dei­ne Mer­kel-Par­odien nie lei­den kön­nen, aber in die­sem Moment bin ich bei­na­he stolz auf dich. Herr Roma­novs­ky und Herr Garo­ni stüt­zen dich jeweils am Ober­arm, ola­la, sagst du und wie­der­holst es, ich nicke ihnen zu und Frau Roma­novs­ky schüt­telt den Kopf. Sie zie­hen dich mit einem Ruck hoch, du drohst zurück in den Stuhl zu fal­len, aber sie hal­ten dich. Erschro­cken schaust du mich an und schnappst nach Luft. Wow, hauchst du, na kom­men Sie, sagt Herr Garo­ni und wech­selt unge­schickt die Hand, mit der er dir unter die Ach­sel greift. Ich stel­le mich vor dich und ver­su­che, dei­nen Blick ein­zu­fan­gen. Zu mir, sage ich, als ich das Gefühl habe, dass du mich anschaust, immer zu mir. Ich ste­he dicht vor dir, dei­ne Knie wackeln, die Män­ner wir­ken ange­strengt. So, einen Schritt vor, sagt Herr Roma­novs­ky bestimmt. Sie schie­ben und stüt­zen dich, zwin­gen dich, dich zu bewe­gen. Zitt­rig setzt sich dein rech­ter Fuß vor dei­nen lin­ken. Oh, sagst du ent­zückt. Ja, sagt Herr Garo­ni und lächelt dich von der Sei­te gequält an. Gut, sage ich und fixie­re dei­nen Blick, wäh­rend ich rück­wärts die Trep­pe hin­ab­ge­he, immer wei­ter zu mir. Du bewegst dich unend­lich lang­sam, Stu­fe für Stu­fe wirst du das Trep­pen­haus hin­un­ter­ge­scho­ben, gehal­ten, geho­ben. Oh, sagst du immer wie­der und lachst ab und an. Jaja, sagst du auch ein paar Mal und schaust auf­mun­ternd die Män­ner zu dei­nen Sei­ten an. Schau, da ist schon dei­ne Tür, sage ich und läch­le dir zu. So, fragst du, zuckst mit den Schul­tern und grinst Herrn Roma­novs­ky an. Ja, sagt er, das ist Ihre Tür, da woh­nen Sie. Ich blei­be immer ganz nah bei dir, unser Blick ein Tau, an das auch du dich klam­merst, und ich höre dein Lachen und dein Jaja und spü­re, wie unglaub­lich anstren­gend das alles für dich ist. Ich schlie­ße dei­ne Tür auf, ein­fach nach rechts auf die Couch, sage ich, Herr Garo­ni stößt sich am Tür­rah­men und sie schmei­ßen dich mehr als dass sie dich lang­sam hin­set­zen wür­den. Puh, sagt Herr Roma­novs­ky und streicht sich über die Stirn. Dei­ne Bei­ne bau­meln über dem Boden, erwar­tungs­voll schaust du uns an. Vie­len Dank, sage ich zu Herrn Roma­novs­ky und Herrn Garo­ni, wirk­lich, vie­len Dank. Ger­ne, sagen bei­de, wenn Sie noch was brau­chen, sagt Herr Roma­novs­ky, und ich läch­le ihm zu und schlie­ße lang­sam die Tür hin­ter ihnen. Ich set­ze mich neben dich. Dei­ne Bei­ne bau­meln wei­ter, aber das Lächeln blät­tert von dei­nem Gesicht wie eine porös gewor­de­ne Mas­ke. Du atmest tief aus und lässt dich gegen die Rücken­leh­ne fal­len. Ich schaue dich an, du schaust mich an, ich umar­me dich. Ich strei­che dir über dei­nen nas­sen Kopf, fes­ti­ge mei­ne Stim­me und sage, jetzt ist alles gut. Ja, sagst du, und es klingt wie eine Fra­ge. Ja, sage ich. Das war ein Schock, sage ich. Jetzt bist du zuhau­se. Ich schaue dich noch­mal an. Du blickst ganz tief in mich, dies­mal nicht durch mich hin­durch. Lang­sam schüt­telst du den Kopf. Es tut mir leid, sagst du. Nein, sage ich ener­gisch und wie­der­ho­le, nein, dafür kannst du nichts, das ist nicht dei­ne Schuld, und es klingt wie aus­wen­dig gelernt. Es tut mir leid, sagst du und schüt­telst den Kopf. Ich habe gehört, was du da vor­hin gesagt hast, sagst du. Ich ant­wor­te nicht. Ich knie mich hin, mecha­nisch zie­he ich dir die Schu­he aus und die Haus­schu­he an, brin­ge dir etwas zu trin­ken und eine Tablet­te. Hier, sage ich, gegen die Schmer­zen, dan­ke, sagst du, kaust die Tablet­te und ich schaf­fe es nicht, dir wie­der zu sagen, dass du sie nicht kau­en darfst, statt­des­sen sage ich, trink Was­ser, und hof­fe, dass du die ein­zel­nen Stü­cke schnell schluckst. Ich muss jetzt in die Uni, sage ich. Wo ist das, fragst du und schluckst mehr­mals, wobei du jedes Mal mit dem Kopf nach vor­ne ruckst und die Augen leicht wei­test. Das ist, ja, an der Uni, sage ich, beim Ode­ons­platz. Mir fällt auf, dass das eine sehr schlech­te Beschrei­bung ist. Du nickst. Ich kom­me spä­ter wie­der, sage ich. Ruh dich erst­mal aus, erhol dich von der Auf­re­gung. Jetzt bist du zu Hau­se. Ja, seufzt du. Dan­ke Schätz­chen. Klar, sage ich und läch­le auf­mun­ternd. Ich ste­he auf, ste­cke dei­nen Woh­nungs­schlüs­sel ein und öff­ne die Tür. Bis spä­ter. Bis spä­ter Schätz­chen, sagst du und schließt die Augen. Ich schlie­ße die Tür.

Mar­tha Baer wur­de 2002 in Mün­chen gebo­ren und stu­dier­te dort Kunst­ge­schich­te (MA) und Phi­lo­so­phie. Sie inter­es­siert sich für Syn­er­gie­ef­fek­te zwi­schen ihrem aktu­el­len Mas­ter­stu­di­um der Theo­re­ti­schen Phi­lo­so­phie an der LMU, ihrem Stu­di­um der Frei­en Kunst (Bild­haue­rei) an der AdBK Mün­chen sowie ihrem seit jeher aus­ge­präg­ten Inter­es­se für Lite­ra­tur und Schrift. Dies­be­züg­li­che Ansät­ze ver­folgt sie ger­ne im Aus­tausch mit ande­ren Schrei­ben­den, etwa 2024 im Rah­men der Baye­ri­schen Aka­de­mie des Schrei­bens oder bei dem 2025 von ihr gelei­te­ten Crea­ti­ve Wri­ting Work­shop „Lite­ra­ri­sche For­men“ auf der Kul­tur­aka­de­mie der Stu­di­en­stif­tung des deut­schen Volkes.