T wie Timokles, M wie Regenwolken

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von Anja Seemann

 

Tim war wach, und er hat­te kei­ne Ahnung, was ihn geweckt hat­te. 

Es war noch dun­kel drau­ßen und über­haupt hat­te er ganz gut geträumt. Er tas­te­te auf der Matrat­ze her­um. Han­ni­bal lag nicht mehr neben ihm. Sie schnarch­te manch­mal. Lei­se eigent­lich, aber zu laut für jeman­den, den Oma immer als »Hase unterm Gebüsch« bezeich­ne­te. Bevor sie Han­ni­bal aus dem Tier­heim geholt hat­ten, hat­te Tim nicht ein­mal gewusst, dass Kat­zen schnar­chen. Viel­leicht hat­te sie etwas run­ter­ge­schmis­sen. Mach­te sie beim Erkun­den öfter oder wenn sie ihre »ver­rück­ten fünf Minu­ten« hat. Tim ent­schied sich nach ihr zu rufen. Han­ni­bal hört nicht auf »Han­ni­bal«. Sie hört nur auf Tim und nur wenn er mit sei­ner Zun­ge klack­te. Heu­te hör­te sie gar nicht. Etwas, das ein Mau­zen zu sein schien, kam aus dem Wohn­zim­mer. Mama hat­te Han­ni­bal schon häu­fi­ger irgend­wo ein­ge­sperrt: im Bad, im Schrank, in der Wasch­ma­schi­ne, meis­tens im Schlaf­zim­mer, weil Han­ni­bal allen auf Schritt und Tritt hin­ter­her­lief. Sogar aufs Klo. 

Tim roll­te sich vor­sich­tig aus dem Bett. Nicht ein­mal sei­ne Nacht­tisch­lam­pe trau­te er sich anzu­ma­chen. Es war fast unmög­lich sich an Han­ni­bal anzu­schlei­chen – sie war immer­hin eine Kat­ze. Kat­zen hören Mäu­se­ge­trap­pel unter der Erde. Wenigs­tens ein­mal aber woll­te er sie mit den eige­nen Waf­fen über­lis­ten. 

Die Wohn­zim­mer­tür stand einen Spalt­breit offen. Licht brann­te. Han­ni­bal war ein Pro­fi, wenn es ums Tür­öff­nen ging. Licht­an­ma­chen wäre neu, was eigent­lich nur eins bedeu­ten konn­te: Mama war noch wach und war­te­te bis Papa von der Arbeit heim­kam. Tim hat­te auch schon ver­sucht zu war­ten, war aber immer ein­ge­pennt. Außer­dem konn­te er Papa beim Früh­stück sehen. Da war er immer da. Mon­tags sogar den gan­zen Tag, weil Mon­tag für ihn das war, was für ande­re Sonn­tag ist. 

Tim über­leg­te, ob er nicht lie­ber wie­der ins Bett gehen soll­te, als er das Mau­zen noch ein­mal hör­te. Jetzt, da klar war, dass Mama wach war, klang das Geräusch gar nicht mehr nach einer Kat­ze. Tim kam näher. Der Fern­se­her war an. Mama hät­te ihm nie erlaubt, so lan­ge zu fern­zu­se­hen, weil er »vier­ecki­ge Augen« bekom­men wür­de und Tim sah nicht, war­um für Mama ande­re Regeln gel­ten soll­ten, bloß weil sie ein Erwach­se­ner war. Er übte kurz sein bes­tes Aus­schimpf-Gesicht und ging dann ent­schlos­sen auf die Tür zu. 

Mama hock­te auf dem Boden, was merk­wür­dig war, schließ­lich hat­te Papa extra eine neue und viel beque­me­re Couch gekauft. Sie heul­te, was noch viel merk­wür­di­ger war. Mama heul­te nicht. Zumin­dest hat­te Tim sie nie heu­len gese­hen. Er war sich nicht sicher, ob das etwas war, was sie über­haupt konn­te – so wie er Schnip­sen nicht konn­te. Aber sie hock­te da, zusam­men­ge­kau­ert und sah aus, als wäre sie eben erst geschimpft wor­den: Ihre Augen waren rot, Trä­nen lie­fen ihr die Backen run­ter und Rot­ze aus der Nase. Trotz­dem schnief­te sie nicht in ein Taschen­tuch, was – mit den gan­zen Tem­pos im Bad – nicht rich­tig war. Erst als sie zu reden begann, bemerk­te Tim, dass sie sich das Tele­fon ans Ohr hielt. 

»Hören Sie, ich weiß, die Lage ist chao­tisch, aber – « 

So hat­te er Mama noch nie gehört: schrill und außer Pus­te. Wie ein Baby, das sich nicht beru­hi­gen las­sen woll­te. Sie zit­ter­te, als wäre ihr kalt. Lang­sam erst, dann ganz stark. Noch mehr Trä­nen kamen aus ihren Augen und sie schien ange­strengt nach­den­ken zu müs­sen, um zu ver­ste­hen, was der Mensch – wer auch immer mit ihr so spät noch tele­fo­nier­te – ihr am ande­ren Ende sag­te. 

»Bit­te, ich will nur wis­sen, ob – « Mama erstarr­te. Wie fern­ge­steu­ert nahm sie den Hörer vom Ohr. »Auf­ge­legt«, sag­te sie. 

Dann mach­te sie wie­der die­ses wim­mern­de Geräusch, bei dem Tim ganz schlecht wur­de. Am liebs­ten hät­te er sich die Ohren zuge­hal­ten und wäre in sein Bett zurück­ge­kro­chen, aber er konn­te nicht. Mama hat­te ihn nie allei­ne gelas­sen, wenn er trau­rig war. Er wür­de sie auch nicht allei­ne las­sen. 

»… Mama?« 

Sie schien ihn nicht gehört zu haben. 

»Mami?«, rief er noch ein­mal, etwas muti­ger. »Was hast du?« 

Sie sah ihn an, sag­te aber nichts. Es war, als hät­te sich zu ihnen eine dunk­le Wol­ke ins Zim­mer gequetscht. 

»War­um weinst du?« 

Sie wand­te das Gesicht ab und fuhr sich mit dem Hand­rü­cken über die Augen. »Nicht jetzt, Timo­thy«, schnief­te sie und wedel­te in sei­ne Rich­tung. »Geh zurück ins Bett.« 

»War­um schläfst du nicht? Wo ist Papa? Wie­so ist er noch nicht zurück? Er – « 

»Nicht jetzt!«, schrie sie ihn an. Dann zuck­te sie zusam­men und schlug sich eine Hand vor den Mund. Die ande­re war eng um ihren Bauch gelegt. Tim wuss­te nicht, was er tun soll­te. Gehen woll­te er nicht. Blei­ben woll­te er nicht. 

»War­um rufst du ihn nicht an?«, frag­te er. 

»Bit­te«, bat sie, aber Tim ver­stand nicht, was genau. »Bit­te. Es ist alles gut, Schatz. Bit­te geh schla­fen.» 

»Ich kann ihn anru­fen, wenn du magst.« 

End­lich war ein Lächeln um ihren Mund, aber es war trau­rig. »Er geht nicht ran«, sag­te sie. Das Wim­mern wur­de lau­ter. Tim hat­te sei­ne Mut­ter noch nie umarmt. Es war immer sei­ne Mut­ter, die ihn umarm­te und küss­te und knud­del­te wie ein Stoff­tier. Mutig sein. Er muss­te mutig sein. Sie hör­te nicht auf zu schluch­zen, aber ver­grub ihr Gesicht in sei­ner Schul­ter. 

»Mama, du machst mir Angst«, flüs­ter­te er gegen ihren Hals. Sie drück­te ihn fes­ter an sich. Es war erst, als ihr Schnau­fen lei­ser wur­de, dass Tim mit­be­kam, was im Fern­se­her lief. Er hör­te Eil­mel­dung, Ham­burg, Explo­si­on, Thea­ter im Hafen und immer wie­der ein Wort, das in den Nach­rich­ten in letz­ter Zeit öfter auf­ge­taucht war: Ter­ror­an­schlag. 

Es war nur noch einer übrig – wenn man den Poli­zis­ten nicht mit­zähl­te, der neben der Tür stand und die Leu­te nach­ein­an­der hin­ein­ließ. Ein Jun­ge. Er war nicht so raus­ge­putzt wie er. Nie­mand hat­te es für not­wen­dig gehal­ten, ihm die Haa­re zu käm­men, ihn in sei­ne bes­ten Anzieh­sa­chen zu ste­cken und ihm zu ver­bie­ten dar­in her­um­zu­tol­len. Tim zog eine Gri­mas­se. Der Jun­ge warf ihm einen kur­zen Blick zu, sag­te aber nichts. Nicht ein­mal als Tim sich neben ihn setz­te. 

»Ich hei­ße Tim«, sag­te Tim und streck­te sei­ne Hand aus. Der ande­re Jun­ge zöger­te. »Eigent­lich Timo­thy oder Timo­kles, der Gro­ße.« Gera­de, als Tim ihm sagen woll­te, dass es unhöf­lich sei, eine ange­bo­te­ne Hand nicht zu schüt­teln, griff der Jun­ge zu. 

»Mazin«, sag­te er. »Nur – Mazin«, füg­te er mit einem klei­nen Lächeln hin­zu. 

»Mazin?«, wie­der­hol­te Tim. »Den Namen habe ich noch nie gehört.« 

»Er bedeu­tet Regen­wol­ken«, erklär­te Mazin und klang so stolz dabei, dass Tim ihm nicht sagen woll­te, dass er das sogar noch selt­sa­mer fand. Wer woll­te denn schon Regen­wol­ken hei­ßen? 

»Kommst du aus einer India­ner­fa­mi­lie?«, frag­te Tim und hät­te sich am liebs­ten auf die Zun­ge gebis­sen. Was für eine bescheu­er­te Fra­ge. 

Mazin schüt­tel­te den Kopf. »Wie kommst du dar­auf?« 

»Nur so«, wich Tim schnell aus und starr­te auf sei­ne Füße. »Hast du auch jeman­den ver­lo­ren?« 

»Ver­lo­ren?« 

»Na, du weißt schon … gestor­ben.« 

Mazin schwieg. Er starr­te nun auch auf sei­ne Füße. »Mein Vater.« 

Tim nick­te. »Ich auch.« Es war merk­wür­dig über etwas zu reden, das man nicht ver­stand und das nicht auf­hör­te weh­zu­tun. Tim spür­te die Trä­nen wie­der bren­nen. Er hob sei­nen Ärmel und am liebs­ten wäre er jetzt bei Opa auf der Shellu­na drau­ßen vor der Küs­te. Opa hät­te gewusst, was zu tun wäre. Da war ein Zie­hen an sei­nem Arm. Tim sah hoch. 

»Hier«, sag­te Mazin und hielt ihm die Hälf­te eines Keks hin. Den ande­ren schob er sich in den Mund. »Mit Honig«, erklär­te er, als wür­de das den Keks zum aller­bes­ten Keks auf der Welt machen. 

»Dan­ke«, sag­te Tim. Tim moch­te Honig nicht beson­ders, aber als er Mazins Blick sah, biss er ab. Und tat­säch­lich war der Keks gar nicht so übel. Er nick­te zustim­mend. Mazin lächel­te. 

»Glaubst du«, sag­te Tim, nach­dem er die Keks­brö­sel von sei­ner Hose gewischt hat­te, »wir kön­nen spie­len, wenn das hier vor­bei ist?« 

»Ich weiß nicht …«, ant­wor­te­te Mazin unsi­cher. »Ich hof­fe.« 

»Bau kei­nen Mist, dann sagen unse­re Mamas sicher nicht nein«, sag­te Tim. 

»Mazin You­sif?« 

Die Stim­me ließ ihn und Mazin zusam­men­schre­cken. Es war ein Arzt. Zumin­dest sah er aus wie ein Arzt. Er stand neben dem Poli­zis­ten und lächel­te. Tim hat­te trotz­dem das Gefühl, als hät­ten sie etwas falsch gemacht. 

»Du darfst jetzt hin­ein­ge­hen.« 

Mazin schluck­te. Stock­steif stand er auf und warf der Tür einen ängst­li­chen Blick zu. 

Tim, den Geschmack des Keks noch auf der Zun­ge, rief ihm hin­ter­her: »Denk dar­an: ich war­te spä­ter auf dich, ok?«

Anja See­mann, 1991 im Her­zen des Baye­ri­schen Wal­des gebo­ren, stu­diert in Regens­burg Ger­ma­nis­tik mit dem Schwer­punkt Neue­re Deut­sche Lite­ra­tur und Didak­tik der deut­schen Spra­che. Neben der Uni jobbt sie im Kino und ist als Regie­as­sis­tenz beim Ger­ma­nis­ten Thea­ter tätig. Die Hand­lun­gen ihrer Tex­te beschäf­ti­gen sich mit den Aus­wir­kun­gen des Welt­ge­sche­hens auf das Leben Ein­zel­ner. Sie schreibt in deut­scher und eng­li­scher Spra­che. T wie Timo­kles. M wie Regen­wol­ken ent­stand im Rah­men des Stu­den­ten­se­mi­nars der Baye­ri­schen Aka­de­mie des Schrei­bens zum The­ma „Stadt. Land. Fluss.“