Augsburger Gespräche zu Literatur und Engagement 2020 #Ritual

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„Der ist nicht fremd, wer teilzunehmen weiß“

von Ste­pha­nie Waldow

Gera­de die aus­dif­fe­ren­zier­te und trans­na­tio­na­le Gesell­schaft scheint das Ritu­al als Mög­lich­keit eines kol­lek­ti­ven wie indi­vi­du­el­len Sinn­stif­tungs­pro­zes­ses wie­der zu ent­de­cken. Dabei sind Ritua­le offen­bar ein wich­ti­ges Ele­ment des Zusam­men­le­bens und zeich­nen sich durch immer wie­der­keh­ren­de Abläu­fe aus. Es gibt sie in allen Kul­tu­ren; sie sind oft iden­ti­täts­stif­tend und tra­gen so zur Sta­bi­li­sie­rung einer Gesell­schaft oder Grup­pe bei. Folgt man dem Eth­no­lo­gen und Sozio­lo­gen Emi­le Durk­heim, sind sie aus dem mensch­li­chen Grund­be­dürf­nis nach Gemein­schaft ent­stan­den. Meist haben sie sym­bo­li­schen Gehalt, stär­ken Iden­ti­tät und Selbst­be­wusst­sein, geben Sicher­heit und kön­nen bei der Bewäl­ti­gung von Kri­sen helfen.

Wenn nun das Ritu­al eine Form von Zuge­hö­rig­keit aus­drückt, wie ver­hält es sich dann mit dem Ritu­al in trans­kul­tu­rel­len Gesell­schaf­ten, wie wirkt sich die Begeg­nung zwi­schen Fremd und Eigen auf die Pra­xis des Ritu­als aus? Ent­ste­hen neue Aus­prä­gun­gen der Ritua­le, wer­den die­se vor dem Hin­ter­grund des Frem­den reflek­tiert oder neu geformt? Und liegt die­se Refle­xi­on nicht sogar in der Ver­ant­wor­tung jedes Ein­zel­nen, der ein Ritu­al aus­übt? Denn ohne die­se Refle­xi­on besteht die Gefahr von star­rer Regel­haf­tig­keit und nor­ma­ti­ver Gewalt. Eine Kehr­sei­te des Ritu­als, die immer mit­ge­dacht wer­den muss, denn anhand von Ritua­len kön­nen sich nicht sel­ten auch Macht­de­mons­tra­tio­nen, Unter­drü­ckung und Aus­gren­zung arti­ku­lie­ren. So gese­hen hat das Ritu­al auch eine gro­ße poli­ti­sche Bedeut­sam­keit; die Teil­ha­be an bestimm­ten Ritua­len ent­schei­det dar­über, wer zu einer Gesell­schaft oder kul­tu­rel­len Gemein­schaft dazu­ge­hört und wer nicht.

Ein wich­ti­ges Ele­ment des Ritu­als ist dar­über hin­aus sei­ne Sicht­bar­keit und Wahr­nehm­bar­keit und nicht zuletzt sei­ne Ästhe­tik. Ritua­le sind Insze­nie­run­gen, Per­for­man­ces, brau­chen Akteu­re, oft auch das Publi­kum. Sie fol­gen einer bestimm­ten Cho­reo­gra­phie, an der sich Per­so­nen direkt oder als Zuschauer*innen betei­li­gen, so gese­hen sind sie kul­tu­rel­le Auf­füh­run­gen. Eine zen­tra­le Rol­le spielt häu­fig die sprach­li­che Aus­ge­stal­tung die­ser Auf­füh­rungs­prak­ti­ken, denn sprach­li­che Äuße­run­gen haben im Kon­text von Ritua­len häu­fig einen per­for­ma­ti­ven Cha­rak­ter. Inwie­fern kön­nen aber auch Tex­te die Funk­ti­on von Ritu­al­spei­chern über­neh­men und wel­chen Anteil haben sie dann an den Erin­ne­rungs­kul­tu­ren und schließ­lich, kann viel­leicht auch der Akt des Schrei­bens als eine Form des Ritu­als ver­stan­den wer­den und somit als eine Form des ‚ein­grei­fen­den Den­kens‘? Wo sind die Gren­zen zwi­schen Kult und Ritu­al zu zie­hen und vor allem wel­che Rol­le spie­len die Küns­te, die Lite­ra­tur und das Thea­ter bei der Insze­nie­rung, Refle­xi­on und Spei­che­rung von Ritualen?