Ein Überraschungsgeschenk von Anna Seghers anlässlich ihres 125. Geburtstags

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© Auf­bau Verlage

von Josipa Grubeša

Am 19. Novem­ber die­ses Jah­res wür­de Anna Seg­hers ihren 125. Geburts­tag fei­ern. Obwohl sie längst nicht mehr unter uns ist (die 1900 gebo­re­ne Main­ze­rin ist 1983 in Ost-Ber­lin gestor­ben), hat sie uns anläss­lich ihres Geburts­tags ein Über­ra­schungs­ge­schenk hin­ter­las­sen: über 400 Brie­fe, eini­ge Foto­gra­phien und Zeich­nun­gen aus den Jah­ren 1921–1925, die ihr Enkel und Ver­wal­ter ihres lite­ra­ri­schen Erbes Jean Rad­vá­nyi im Fami­li­en­nach­lass gefun­den hat. Die Brie­fe stam­men fast aus­schließ­lich von der jun­gen Stu­den­tin Net­ty Rei­ling (wie Anna Seg­hers bis zu ihrer Hei­rat 1925 hieß) und sind an den gleich­alt­ri­gen unga­ri­schen Aus­lands­stu­den­ten und ihren spä­te­ren Ehe­mann László Rad­vá­nyi adres­siert. Net­ty Rei­ling lern­te ihn an der Uni­ver­si­tät Hei­del­berg, wo sie selbst stu­dier­te, ken­nen und in kur­zer Zeit ist aus der Bekannt­schaft eine Freund­schaft und Lie­bes­be­zie­hung ent­stan­den. Die­se wur­de von einem Brief­wech­sel beglei­tet, von dem aber nur die Brie­fe Anna Seg­hers erhal­ten geblie­ben sind. 

Die Brie­fe über­ra­schen in vie­ler­lei Hin­sicht und erhel­len zugleich eine wich­ti­ge Pha­se im Leben der berühm­ten Lite­ra­tin. Die Rol­le des Juden­tums im Leben der jun­gen Seg­hers, die in der DDR nach ihrer Rück­kehr aus dem mexi­ka­ni­schen Exil häu­fig her­un­ter­ge­spielt wur­de, wird viel­leicht am meis­ten ver­wun­dern. Ihr Wunsch, das Hebräi­sche wie­der so gut zu kön­nen, wie sie es in der Kind­heit konn­te, die Über­le­gun­gen, am Zio­nis­ten­kon­gress in Wies­ba­den teil­zu­neh­men oder auch das The­ma ihrer Dok­tor­ar­beit, näm­lich „Jude und Juden­tum im Werk Rem­brandts“, zeu­gen davon, dass das reli­giö­se Eltern­haus einen nach­hal­ti­gen Ein­fluss auf die jun­ge Dok­to­ran­din der Kunst­ge­schich­te aus­ge­übt hat.

Als zwei­te gro­ße Über­ra­schung wird auch ihre Ein­stel­lung und ihr Ver­hält­nis zum Kom­mu­nis­mus erschei­nen. Obwohl ihre Abscheu gegen­über der spie­ßi­gen bür­ger­li­chen Gesell­schaft, in die sie hin­ein­ge­bo­ren wur­de, in vie­len ihrer Brie­fe sehr deut­lich zum Aus­druck kommt, ist die jun­ge Seg­hers noch bei Wei­tem nicht die über­zeug­te Kom­mu­nis­tin, die sie nach dem Ende des Zwei­ten Welt­kriegs gewor­den ist. Die spä­te­re Funk­tio­nä­rin der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei und Prä­si­den­tin des Schrift­stel­ler­ver­bands der DDR äußert sich in ihren Brie­fen aus­ge­spro­chen miss­trau­isch gegen­über der KPD:

„In Dei­nem Kopf u Dei­nem Her­zen ist ‚Par­tei‘ ein gro­ßes Wort, aber ich ver­ste­he nichts davon u es ist mir bloß ein gro­ßes gro­ßes Tier mit bösen Augen, wovor ich Furcht habe. Mög­lich daß ich eines Tages das alles sehr gut ver­ste­he.“ (22. Febru­ar 1925)

Immer wie­der bit­tet sie ihren „Rodi“, sich vor ihrer Hei­rat nicht poli­tisch zu expo­nie­ren, um sie auf die­se Wei­se nicht zu vereiteln.

Von Hei­rat ist im Brief­wech­sel schon sehr früh die Rede (sogar in eini­gen Brie­fen von 1921) und dies ist auch das eigent­li­che The­ma die­ses Brief­wech­sels: Lie­be. Ja, in der Tat geht es die gan­ze Zeit um Lie­be und nicht etwa um Ver­liebt­sein, wie das bei einem so jun­gen Men­schen viel­leicht zu erwar­ten wäre. Denn Net­ty Rei­ling ist kei­nes­falls eine nai­ve Stu­den­tin, die eine rosa­ro­te Bril­le trägt und ihren Gelieb­ten idea­li­siert. Man­gel­haf­te Deutsch­kennt­nis­se, schlech­te Kör­per­hal­tung, trä­ge Job- und Woh­nungs­su­che sind nur eini­ge The­men­ge­bie­te, in denen der jun­ge unga­ri­sche Phi­lo­so­phie­stu­dent von sei­ner Freun­din klar und deut­lich kri­ti­siert wird.

Die­se Kri­ti­ken sind aber immer von viel Lie­be und Zärt­lich­keit durch­wo­ben und das ist das glän­zends­te Moment die­ses Brief­wech­sels: Das All­ge­mei­ne und das All­täg­li­che wer­den in einer zärt­li­chen und lie­be­vol­len Spra­che, durch eine bril­lan­te Elo­quenz dar­ge­stellt. Es wird geta­delt, Feh­ler wer­den klar benannt und Miss­ver­ständ­nis­se aus­kom­mu­ni­ziert, aber lie­be­vol­le Ver­ge­wis­se­rung bleibt nie­mals aus:

„Oh, mein Herz, ich bin betrübt über Dein Ver­sa­gen im Prak­ti­schen. Dei­ne Unzu­läng­lich­keit hier­in hat schlim­me Fol­gen u das Schick­sal der See­le wird ver­ge­wal­tigt. Ich bin müde u sowie du weg gehst, beherr­schen mich die schreck­lichs­ten Selbst­quä­le­rei­en u gar­nichts fehlt dar­in. Von Traum­ver­su­chung bis Todes­furcht – u Ahnung. Sobald Du bei mir bist, wer­de ich ruhi­ger.“ (4. Juni 1924)

Die Hef­tig­keit ihrer Lie­be äußert sich in den Brie­fen auch in ein­falls­rei­chen Anre­de­for­meln und Kose­na­men. „Mein Herz Jesu Kirch­lein“ ist sicher­lich nicht der selt­sams­te Spitz­na­me, den man in Net­ty Rei­lings Brie­fen fin­den kann. Wie wohl­tu­end László Rad­vá­nyi für die jun­ge Seg­hers ist, sieht man auch dar­an, dass er immer der ers­te Leser ihrer lite­ra­ri­schen Ver­su­che ist, mit dem sie sich in die­ser Hin­sicht ger­ne berät und des­sen Mei­nung sie über alles schätzt. Über­haupt ist Rodi ihre ein­zi­ge Bezugs­per­son, der ein­zi­ge, der sie ver­steht und nach dem sie sich sehnt. Ins­be­son­de­re in den Pha­sen, in denen sie län­ge­re Zeit von­ein­an­der getrennt sind, wird der Brief­wech­sel inten­si­ver und Net­ty schreibt manch­mal auch mehr­mals an einem Tag.

„Dein Kom­men ist etwas ande­res als Freu­de, es bedeu­tet das ein­zi­ge Mal, wo ich nicht allein bin, wo ich mei­ne See­le ver­wer­ten kann, wo mei­ner See­le nicht weh getan wird. Du wirst mich ver­ste­hen, obwohl alles, was ich Dir davon schrei­ben kann, zu wenig aus­drückt. […] Ich wer­de stark sein und für Dich wach­sen. (30. Okto­ber 1921)

Die Spra­che der Brie­fe ist noch in einer wei­te­ren Hin­sicht inter­es­sant. Die tief­sin­ni­gen Betrach­tun­gen über die Mit­men­schen und zahl­rei­che Beob­ach­tun­gen und Bemer­kun­gen zu Kunst und Lite­ra­tur deu­ten auf die Men­schen­ken­ne­rin und Erzäh­le­rin mit der gro­ßen poe­ti­schen Kraft hin, die Anna Seg­hers im Lau­fe der Jah­re gewor­den ist. Wer also Par­al­le­len zu ihrem spä­te­ren Oeu­vre und vor allem zu ihren Roma­nen und Erzäh­lun­gen sucht, wird nicht im Stich gelassen.

Mit einem gro­ßen und aus­führ­li­chen Anhang, einer beglei­ten­den Zeit­ta­fel für die Jah­re 1921–1925 und einem auf­klä­ren­den Vor- und Nach­wort von Jean Rad­vá­nyi sind die­se Brie­fe nicht nur ein wich­ti­ges Doku­ment für das ger­ma­nis­ti­sche Fach­pu­bli­kum. Sie sind wahr­lich ein Fund für alle, die hin­ter einer lite­ra­ri­schen Iko­ne des 20. Jahr­hun­derts einen Men­schen ken­nen­ler­nen wollen.

 

Die Lie­bes­brie­fe der jun­gen Anna Seg­hers sind unter dem Titel „Ich will Wirk­lich­keit“ am 11. Novem­ber 2025 im Auf­bau Ver­lag erschienen.