“Die Frage ist, ob Fernweh nicht immer auch Heimweh ist.”

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Ein Gespräch mit Angelika Overath

von Manu­el Illi

“War­um rei­sen wir denn? Wir rei­sen nicht unbe­dingt alle als Repor­ter oder als Wis­sen­schaft­ler oder als Eth­no­lo­gen, son­dern wir suchen auf einer Rei­se ein Erleb­nis, und das ist etwas rela­tiv Moder­nes, die­ses tou­ris­ti­sche Rei­sen. Der Flug­ha­fen als Sym­bol unse­rer Gesell­schaft, das kann schon mög­lich sein, da wir ja wirk­lich sehr mobil sind, in unse­ren Beru­fen, in unse­rem Woh­nen. Frü­her bedeu­te­te ein Umzug, die Hei­mat zu verlassen.”

SCHAU INS BLAU: Frau Ove­r­ath, Schau­platz Ihres neu­en Romans ist ein gro­ßer, inter­na­tio­na­ler Flug­ha­fen und die Atmo­sphä­re, die dort geschil­dert wird, dürf­te jedem Flug­rei­sen­den sofort bekannt vor­kom­men. Wie erklä­ren Sie sich, dass die Atmo­sphä­re auf fast allen grö­ße­ren Flug­hä­fen der Welt zum Ver­wech­seln ähn­lich ist, dass immer der Ein­druck ent­steht, da wäre man schon gewesen?

ANGELIKA OVERATH: Viel­leicht liegt es dar­an, dass ein Flug­ha­fen ein­fach ein sehr funk­tio­na­ler Raum ist. Aber die Fra­ge hab ich mir noch gar nicht gestellt, denn Bahn­hö­fe sind ein­an­der nicht so ähn­lich wie Flug­hä­fen. Das Bahn­rei­sen ist ja auch etwas ande­res als das Flie­gen. Die Rei­se bei einer Bahn­fahrt hat Erleb­nis­cha­rak­ter, wäh­rend man beim Flie­gen nicht so viel sieht, da die Maschi­nen sehr hoch flie­gen. Man sieht eben Wol­ken. Das Bezeich­nen­de ist auch, dass in den Flug­zeu­gen bei Lang­stre­cken­flü­gen Fil­me gezeigt wer­den. Man soll gar nichts sehen, man macht die Fens­ter zu, das heißt, man will die Zeit des Flu­ges mög­lichst über­brü­cken und nicht als Rei­se­zeit erle­ben. Die­se Art des Rei­sens prägt auch die Flughäfen.

SCHAU INS BLAU: Fas­zi­nie­rend fin­de ich in Ihrem Roman die Dar­stel­lung des Flug­ha­fens als einem „Unort”. Flug­hä­fen sind Orte, die — auch juris­tisch gese­hen — bis zu einem gewis­sen Grad Nie­mands­land sind, die kei­ne Mög­lich­keit bie­ten, hei­misch zu wer­den. Ist gera­de der Tran­sit­be­reich des­we­gen der zen­tra­le Schau­platz des Romans, weil er die­ses emp­fun­de­ne Befrem­den der Prot­ago­nis­ten unterstreicht?

ANGELIKA OVERATH: Das ist gut mög­lich. Beim Schrei­ben kon­stru­ie­re ich nicht so. Ich wuss­te bei mei­nem ers­ten Roman von Anfang an nicht, war­um ich ihn schrei­ben muss, aber ich wuss­te von Anfang an, er wird in der Woh­nung der Mut­ter statt­fin­den. Wenn mei­ne Hel­din von Nahe Tage, Johan­na, durch die Stadt lau­fen oder einen Spa­zier­gang durch den Wald machen wür­de, wäre es ein ande­rer Roman gewor­den. Johan­na reagiert auf den Raum, sie reagiert auf die Alpen­veil­chen auf der Fens­ter­bank, sie reagiert auf die Wachs­tuch­tisch­de­cke, auf die Gerü­che im Raum. Die Din­ge wer­den zum Anstoß für Erin­ne­run­gen. Die Aus­ein­an­der­set­zung mit der Mut­ter, mit ihrer Ver­gan­gen­heit und mit ihrer Kind­heit voll­zieht sich in die­sem bestimm­ten Raum und nur in die­sem Raum. Und als ich dann an den zwei­ten Roman dach­te, war das Wit­zi­ge, dass mir zuerst ein Raum­bild ein­fiel, näm­lich die­ses Aqua­ri­um im Flug­ha­fen, der Glas­kör­per im Glas­kör­per, und ich wuss­te nicht, war­um mir das ein­ge­fal­len ist, aber ich wuss­te, irgend­wo ist da ein Grund, es hat immer einen Grund, war­um einem etwas ein­fällt. Ich habe ange­fan­gen zu schrei­ben und es hat sich dann aus dem Raum her­aus die Geschich­te erge­ben. Der Raum ist also ein Held.

SCHAU INS BLAU: Man könn­te die Fra­ge noch aus­wei­ten: Ist die Erfah­rung der Hei­mat­lo­sig­keit nicht nur auf Orte wie den erwähn­ten Flug­ha­fen beschränkt, son­dern ein Merk­mal unse­rer west­lich indus­tria­li­sier­ten Gesell­schaf­ten? Gera­de den so genann­ten „vario-mobi­len Sin­gles” — die Prot­ago­nis­tin Elis, eine Rei­se­pho­to­gra­phin, bezeich­net sich selbst so — scheint ein Hei­mat­ge­fühl unzu­gäng­lich. Ich habe mich bei der Lek­tü­re an eine Grund­stim­mung erin­nert gefühlt, die im Gespräch mit vie­len Men­schen anklingt. Vie­le schei­nen sich nach einem Ort zu seh­nen, an dem man ankom­men kann, an dem man auch nicht gezwun­gen ist, wie­der unmit­tel­bar abzu­rei­sen. Ist der Flug­ha­fen, der frü­her eher ein exo­ti­scher Ort war, zu einem Sym­bol unse­rer heu­ti­gen Gesell­schaft geworden?

ANGELIKA OVERATH: Die Fra­ge ist, ob Fern­weh nicht immer auch Heim­weh ist. War­um rei­sen wir denn? Wir rei­sen nicht unbe­dingt alle als Repor­ter oder als Wis­sen­schaft­ler oder als Eth­no­lo­gen, son­dern wir suchen auf einer Rei­se ein Erleb­nis, und das ist etwas rela­tiv Moder­nes, die­ses tou­ris­ti­sche Rei­sen. Der Flug­ha­fen als Sym­bol unse­rer Gesell­schaft, das kann schon mög­lich sein, da wir ja wirk­lich sehr mobil sind, in unse­ren Beru­fen, in unse­rem Woh­nen. Frü­her bedeu­te­te ein Umzug, die Hei­mat zu ver­las­sen. Das erfah­ren wir heu­te nicht mehr so. Oder könn­ten wir „ver­trie­ben” wer­den, wie viel­leicht unse­re Eltern? Ich glau­be nicht in die­ser Wei­se, weil wir mit dem Fern­se­hen auf­wach­sen, mit dem Inter­net. Wir wach­sen auf mit vie­len Bil­dern von der Welt, von Orten, an denen wir noch nicht waren und die wir trotz­dem ken­nen. Das war ja noch vor ein, zwei Gene­ra­tio­nen voll­kom­men anders und des­we­gen denk ich mir, das Hei­mat­ver­trie­be­nen­schick­sal kön­nen wir nicht mehr nach­voll­zie­hen, weil wir, jeden­falls in der west­li­chen Welt, nicht mehr so eng, so nah zu Hau­se sind.

SCHAU INS BLAU: Es stellt sich die Fra­ge, viel­leicht hie­ße das aber den Bogen zu über­span­nen, ob die tran­szen­den­ta­le Obdach­lo­sig­keit, von der Georg Lukács Anfang des 20. Jahr­hun­derts sprach, sich zu einer ganz kon­kre­ten, fun­da­men­ta­len Ort­lo­sig­keit oder Hei­mat­lo­sig­keit des Men­schen ent­wi­ckelt hat.

ANGELIKA OVERATH: Ver­mut­lich ja. Neh­men sie doch einen Begriff wie „Gene­ra­ti­on Prak­ti­kum”. Wir haben auch immer weni­ger klar defi­nier­te Beru­fe. Wir brau­chen auch kei­ne Beru­fe in die­sem Sinn mehr. Das Büro als Ort für die Arbeit ver­liert an Bedeu­tung; Es gibt auch kei­ne Chefs im klas­si­schen Sinn mehr. Wir befin­den uns auf ver­schie­de­nen Ebe­nen in ele­men­ta­ren Auf­lö­sungs­pro­zes­sen und es stimmt, da eig­net sich ein Flughafen‑, ein Tran­sit­raum, ein vor­über­ge­hen­der Ort, sehr gut als Sym­bol für eine post­mo­der­ne, eine post­in­dus­tri­el­le Gesellschaft.

SCHAU INS BLAU: Man könn­te die Idee die­ser Ort­lo­sig­keit aber auch wen­den. In Flug­hä­fen kom­men Mas­sen an Men­schen aus ganz unter­schied­li­chen Kon­ti­nen­ten, ganz unter­schied­li­chen kul­tu­rel­len Hin­ter­grün­den zusam­men und schaf­fen es, ziem­lich ziel­ge­rich­tet aber ohne Kon­flik­te zu agie­ren. Was auf­fällt, ist, dass in Flug­hä­fen kei­ne gewalt­ge­la­de­ne, son­dern eine ste­ri­le und küh­le Atmo­sphä­re herrscht. Bie­tet der Flug­ha­fen am Ende eine Art Uto­pie für unse­re heu­ti­gen mul­ti­kul­tu­rel­len Gesell­schaf­ten, in denen es immer schwie­ri­ger wird, die ver­schie­de­nen kul­tu­rel­len Bezü­ge eben­so wie reli­giö­sen oder poli­ti­schen Hin­ter­grün­de zu har­mo­ni­sie­ren, um ein fried­li­ches Zusam­men­le­ben zu ermöglichen?

ANGELIKA OVERATH: Das glau­be ich weni­ger. Obwohl der „Mul­ti-faith-room” in Flug­hä­fen schon etwas hat. (Da könn­te auch eine Geschich­te spie­len!). Die Men­schen im Flug­ha­fen machen ja nichts mit­ein­an­der. Sie wer­den durch glä­ser­ne Hal­len geschleust, als Mas­sen, nicht als Indi­vi­du­en. Ich den­ke, dass wir zurück müs­sen zu klei­ne­ren, über­schau­ba­ren Struk­tu­ren, zum Fami­li­en­ver­band, zum Dorf­ver­band, zum Bewusst­sein, in einem Stadt­teil zu woh­nen, mit Nach­barn. Ich lebe jetzt im Unter­enga­din in einem Dorf mit etwa 900 Ein­woh­nern, es liegt an der Gren­ze von drei Län­dern, Schweiz, Öster­reich und Ita­li­en. Dort leben Men­schen aus sechs Natio­nen mit ver­schie­de­nen Kon­fes­sio­nen. Ich sehe eher im Klei­nen die Chan­ce. Den­ken Sie zum Bei­spiel an den Kin­der­fuß­ball. Da kicken die unter­schied­lichs­ten Kin­der, tür­ki­sche mit deut­schen, christ­li­che mit mus­li­mi­schen oder jüdi­schen zusam­men. Das geht, weil man zusam­men ein Spiel hat. Ich set­ze eher auf das Spiel, auf über­schau­ba­re Strukturen.

SCHAU INS BLAU: Könn­te man viel­leicht auch sagen, dass sich genau solch eine klei­ne Gemein­schaft zumin­dest andeu­tungs­wei­se in der Bezie­hung zwi­schen den Figu­ren Tobi­as und Elis entwickelt.

ANGELIKA OVERATH: Ja, unbe­dingt, Tobi­as sagt nicht, er wür­de ger­ne eine rie­sen­gro­ße Fern­rei­se machen, son­dern er sagt, man könn­te ans Mit­tel­meer fah­ren. Elis heißt eigent­lich Eli­sa­beth, aber Elis ist auch eine Pro­vinz in Grie­chen­land. Über das Wort Elis kom­men der Ver­such einer klei­nen Rei­se und die Nähe zu einer Frau zusam­men. Und es pas­siert nichts Gro­ßes am Schluss: Er sieht, sie ist ein­ge­schla­fen, und es ist die mini­mals­te Berüh­rung, die mög­lich ist, einen Man­tel, der her­un­ter­rutscht, ein biss­chen hoch­zu­zie­hen. So eine ganz klei­ne Berüh­rung, aber ich den­ke für die­sen Aqua­ris­ten, der nie anfasst, der nie berührt, ist es eine extre­me Tat. Genau­so, dass sie ruhig wird, dass sie ein­schläft, dass es ihr egal ist, ob sie das Flug­zeug ver­passt, ist für sie, die immer funk­tio­niert und die immer unter­wegs ist, eine Ver­än­de­rung. Sie ist am Schluss eine ande­re Elis als am Anfang.

SCHAU INS BLAU: Man kann die­se Bezie­hung zwi­schen Tobi­as und Elis als einen Kon­trast zu der bom­bas­ti­schen und durch­ge­plan­ten Welt des Tran­sit­be­reichs sehen. Hier wird per­fek­tio­nis­tisch Qua­li­täts­ma­nage­ment für das Wohl­ge­fühl der Pas­sa­gie­re betrie­ben, wäh­rend sich in den klei­nen Ges­ten der Prot­ago­nis­ten ein wirk­li­ches Wohl­füh­len uto­pisch andeu­tet und ein opti­mis­ti­scher Neu­an­satz abzeichnet.

ANGELIKA OVERATH: Ja. Die Lösun­gen lie­gen, da, wo man es noch nicht weiß. Die bei­den ver­ste­hen sich, wenn man so will, nicht. Sie dis­ku­tie­ren nichts aus, sie reden anein­an­der vor­bei. Er erzählt von den Fischen und sie erzählt von ihren Rei­sen. Und dann pas­siert doch etwas: Sie ver­ste­hen sich, indem sie ein­fach ein­an­der zuhö­ren. Sie hal­ten plötz­lich Din­ge für mög­lich, die sie vor­her nicht für mög­lich gehal­ten haben. Tobi­as kommt zum ers­ten Mal auf die Idee, er könn­te auch ein­mal tau­chen, er könn­te ins Was­ser gehen zu sei­nen Fischen. Und sie sagt, man könn­te auf Zero set­zen. Sie fragt ihn ja auch, ob man sein Leben ändern kön­ne. Es sind kei­ne gro­ßen Pro­jek­te, es sind noch kei­ne Lösun­gen, aber es sind Momen­te, an denen man zulässt, dass etwas pas­sie­ren könn­te, dass etwas auf­bricht, dass etwas mög­lich wird. Und auch all die­se Tier­ge­schich­ten, die­se gan­zen klei­nen Tier­sym­bio­sen sind immer nur Lösun­gen, die wahn­sin­nig unwahr­schein­lich sind, die aber zwei Indi­vi­du­en schaf­fen müs­sen. Man weiß bei­spiels­wei­se nicht, war­um der Ane­mo­nen­fisch mit der Ane­mo­ne leben kann, aber sie haben es hingekriegt.

SCHAU INS BLAU: Es ist inter­es­sant und liegt nahe, wenn man etwas über Fische oder Tie­re im Gene­rel­len erfährt, dass man das auf das mensch­li­che Zusam­men­le­ben über­trägt. Bie­tet die­ses auf ande­re For­men des Lebens Schau­en auch die Mög­lich­keit, einen Alter­na­tiv­ent­wurf zu ent­wi­ckeln oder zumin­dest zu erahnen?

ANGELIKA OVERATH: Wir sind zu fan­ta­sie­los, wir könn­ten ein biss­chen hin­gu­cken, wie es ande­re machen. Ja natür­lich, ich den­ke der Unter­strom der Flug­ha­fen­fi­sche ist das Emp­fin­den, dass das Leben unwahr­schein­lich und kost­bar ist, abso­lut unwahr­schein­lich und abso­lut kost­bar. Flug­ha­fen­fi­sche gibt kei­ne Lösungs­vor­schlä­ge für Exis­tenz­fra­gen, aber es öff­net Räu­me der Auf­merk­sam­keit oder Räu­me der Stil­le und Ruhe. Das Aqua­ri­um ist in die­sem hek­ti­schen Flug­ha­fen ein fast schon medi­ta­ti­ver Ruhe­raum. Ein­mal sagt Elis, die­ses Aqua­ri­um ist ein Auge, nicht weil die Fische Augen haben, son­dern weil die­ses Aqua­ri­um uns anschaut. Wir füh­len uns ange­schaut und das ist die Vor­stu­fe dazu, etwas zu erken­nen. Nahe Tage hat­te als Grund­struk­tur das Schach­brett. Das Buch beginnt am Toten­bett der Mut­ter und endet am Toten­bett des Vaters. Die Todes­sze­ne des Vaters wird erin­nert und Johan­na rekon­stru­iert eine Pro­blem­schach­auf­ga­be. Ihr Vater hat Schach­pro­ble­me ent­wor­fen und bei die­sem Pro­blem­schach geht es immer dar­um, dass der schwar­ze König mit einer bestimm­ten Anzahl an Zügen matt gesetzt wird. Der Roman ist von Anfang an so ange­legt, dass Johan­na in die­ser Woh­nung, wie auf einem Schach­brett, matt gesetzt wird. Sie geht von der Küche ins Schlaf­zim­mer, sie wech­selt die Fel­der, die Zim­mer und sie kommt nicht allei­ne her­aus. Über­all begeg­net sie ihrer Ver­gan­gen­heit, also dem, was ihr ange­tan wor­den ist. Und ich bre­che im Grun­de die­ses Schach­spiel, die­ses Matt­set­zen, indem ich eine neue Spiel­fi­gur ein­set­ze. Eine Figur, die nicht zu die­sem Fami­li­en­schach gehört. Die das Spiel, das Matt­set­zen auf­bricht. Es ist die Piz­za­bo­tin, die von außen dazu­kommt. Bei­de Frau­en sit­zen dann an die­sem Küchen­tisch und die­se Begeg­nung wird zu einer Art Abend­mahls­sze­ne mit Brot und Wein. Sie essen Piz­za, trin­ken Lam­brusco und kom­men ins Erzäh­len. Sie tei­len das Brot des Erzäh­lens. Für Johan­na ist Spre­chen eine Befrei­ung. Hin­ter­her kann sie die Woh­nung ver­las­sen. Das letz­te Wort des Romans ist „Ben­zin”. Die­ses Wort kommt nur ein Mal im Roman vor. Etwas Neu­es kann jetzt begin­nen. Wobei das Wort „Ben­zin” ja ambi­va­lent ist.

Wenn die struk­tu­rie­ren­de Grund­idee von Nahe Tage das Schach­spiel, das Pro­blem­schach war, dann ist die Grund­struk­tur von Flug­ha­fen­fi­sche wohl das Frak­tal. Die­ser Bio­che­mi­ker, der ein­fach nur Rau­cher genannt wird, erscheint nicht ohne Grund im Text. Zum einen wird mit ihm eine drit­te Stim­me hör­bar, ich brau­che die­sen inne­ren Mono­log schon wegen der musi­ka­li­schen Dra­ma­tur­gie, zum ande­ren kann er vie­le Din­ge reflek­tie­ren, die Elis und Tobi­as nicht reflek­tie­ren kön­nen. Und sein Hob­by sind Frak­ta­le. Frak­ta­le sind mathe­ma­tisch nicht ein­fach beschreib­ba­re Struk­tu­ren (also eben kei­ne Qua­dra­te oder Drei­ecke). Es geht in die­sem Buch immer um die­ses eine kom­pli­zier­te Frak­tal: Nähe oder Fer­ne. Wie weit ist Distanz gut und wie weit ist Nähe gefähr­lich? Alle Figu­ren reden im Grun­de immer wie­der über das­sel­be: Wie leben wir zusam­men? Der Rau­cher reflek­tiert sei­ne Ehe und zwi­schen Elis und Tobi­as ent­steht so etwas wie eine Gemein­schaft. Eine Bezie­hung geht zu Ende, eine ande­re ent­steht. Und über­all die­se Lebe­we­sen im Was­ser, die das auch auf ihre Art leisten.

SCHAU INS BLAU: Das Inter­es­san­te an Frak­ta­len ist, wenn ich mich rich­tig erin­ne­re, dass sie selbst­be­züg­lich sind. Das hie­ße für den Roman, dass das­sel­be The­ma auf ver­schie­de­nen Ebe­nen immer wie­der neu aktu­ell wird. Selbst wenn eine Bezie­hung ent­steht, näher und ver­trau­ter wird, stellt sich die Fra­ge nach Nähe und Fremd­heit neu.

ANGELIKA OVERATH: Des­we­gen gibt es auch kei­ne end­gül­ti­ge Lösung. Die zwei lan­den auch nicht im Bett, son­dern es wer­den Bezie­hungs­mus­ter in unter­schied­li­cher Nähe und Fer­ne dar­ge­stellt. Das gan­ze Buch spie­gelt sich in sich selbst. Und wenn wir jetzt schon soweit sind, kann ich natür­lich auch sagen, dass der Text sel­ber ein Aqua­ri­um ist. Ein­mal sagt Tobi­as, ein Aqua­ri­um ist ein künst­li­cher Raum der lebt. Wenn man sieht, wie Tobi­as erzählt, wie die­se künst­li­che Welt sta­bi­li­siert wird, lässt sich das auch als Ent­ste­hung eines Tex­tes lesen.

SCHAU INS BLAU: Immer wie­der betont Tobi­as, wie fra­gil die­ses Bio­sys­tem Aqua­ri­um ist.

ANGELIKA OVERATH: Ja, auch ein Text ist ein Bio­sys­tem und wenn die Fische schwim­men, wenn die Figu­ren leben, ist das Buch zu Ende. Dann kann, dann muss man es loslassen.

SCHAU INS BLAU: Kurz zu Elis, die als Foto­gra­fin eine ganz mar­kan­te Stel­lung im Roman ein­nimmt. Sie bezeich­net sich sel­ber als „Ver­träg­lich­ma­che­rin”, sie macht das Frem­de mit ihren Foto­gra­fien ver­träg­lich. Wie lässt sich das verstehen?

ANGELIKA OVERATH: Sie wird von Hoch­glanz­ma­ga­zi­nen enga­giert, die natür­lich sehr teu­re Rei­sen bezah­len und sie muss eine gewis­se Erwar­tungs­hal­tung die­ser Maga­zi­ne befrie­di­gen. Sie muss schö­ne Bil­der lie­fern — auch schö­ne Bil­der aus dem Elend. Sie ist die­ser Über­rei­zung müde und sagt, ihre Hoff­nung wäre jetzt eine kur­ze Wei­le des Bil­der­ver­bots, schwar­ze Bil­der, graue Bil­der, eine Zeit­span­ne um wie­der zur Ruhe zu kom­men, um das Sehen noch ein­mal neu zu schu­len. Ich bin viel mit Foto­gra­fen gereist und habe das bei ihnen immer wie­der erlebt. Es ist ein gro­ßes Pro­blem, dass Bil­der schö­ner, schär­fer, bes­ser wer­den müs­sen, auch die Kame­ras wer­den immer bes­ser. Aber letzt­lich ist die­ses Bild der Wirk­lich­keit, wie es die­se Maga­zi­ne ver­mit­teln, oft auch ganz falsch. Elis erzählt eini­ge Geschich­ten über das Blau der Tua­reg, das ein gefälsch­tes Blau ist, weil der Foto­graf die Klei­der ein­fär­ben ließ, um einen gewis­sen Farb­kon­trast zwi­schen Sand, Blau und Him­mel zu errei­chen. Das führt zwar ein wenig vom The­ma ab, aber ich fin­de das Schön­heits­ide­al der Wer­bung hoch­pro­ble­ma­tisch. So sehen wir nicht aus. Wir machen uns einen wahn­sin­ni­gen Stress, wenn wir ver­su­chen so aus­zu­se­hen. Nicht ein­mal Models sehen so aus, son­dern das sind ein­zel­ne Augen­bli­cke, die dann retu­schiert wer­den. Bil­der, die so ent­ste­hen, sind nicht wirk­lich; ihr Anspruch, den sie an uns stel­len, hat etwas von einer Reli­gi­on. Wir müs­sen mit die­sem Glanz leben, uns die­sem Glanz, der uns nicht mög­lich ist, stel­len. Mager­süch­ti­ge Mäd­chen sind nur ein Aspekt die­ses schreck­li­chen Schön­heits­ide­als. Aber genau­so ist es auch mit dem Rei­sen, mit der Land­schaft. Bali ist nie so ein­fach schön wie auf den Bil­dern. Und wir rei­sen dort­hin, haben die­se Bil­der im Kopf und wol­len die­ses schö­ne Bali sehen — wir wer­den es nie errei­chen. Im Grun­de foto­gra­fie­ren wir selbst auch nicht Bali, wir als Tou­ris­ten, son­dern wir foto­gra­fie­ren die Bil­der ab, die wir schon gese­hen haben.

SCHAU INS BLAU: Bezeich­nen­der­wei­se foto­gra­fiert Elis weder das Aqua­ri­um noch Tobi­as. Bei­des bleibt in sei­ner Eigen­stän­dig­keit bestehen.

ANGELIKA OVERATH: Und inso­fern ver­ste­hen sie sich: Sie foto­gra­fiert nicht, weil sie die­ses „schö­nen Foto­gra­fie­rens” müde ist, und er schätzt es, dass sie nicht foto­gra­fiert. Auf einer rein ratio­na­len Ebe­ne reden bei­de anein­an­der vor­bei, aber dar­un­ter liegt ein gro­ßes Ver­ständ­nis von Anfang an. Das hat mir auch gefal­len, dass sie sich nicht ver­ste­hen und doch ver­ste­hen. Das, was Nähe aus­macht, ist nicht immer das Ratio­na­le. Wenn wir mei­nen, wir ver­ste­hen uns, weil wir alles aus­dis­ku­tie­ren kön­nen, dann irren wir uns.

SCHAU INS BLAU: Das bie­tet mir noch die Mög­lich­keit zu einem klei­nen Exkurs. Mich führt die Unter­schei­dung von ratio­na­lem und nicht-ratio­na­lem Kom­mu­ni­zie­ren zu der Fra­ge, wie Sie, die Sie als Jour­na­lis­tin und als lite­ra­ri­sche Autorin arbei­ten, mit der Orches­trie­rung der Sprach­ar­beit umge­hen. Sie wer­den sicher anders mit Spra­che arbei­ten, wenn sie jour­na­lis­tisch tätig sind.

ANGELIKA OVERATH: Nein, es ist weni­ger die Sprach­ar­beit, es ist mehr die Per­spek­ti­ve. Ich kann in einem Roman zum Bei­spiel eine Innen­per­spek­ti­ve ein­neh­men, die ich in einer Repor­ta­ge nicht haben kann. Eine Repor­ta­ge muss fak­tisch nach­prüf­bar sein. Ich hät­te ein Aqua­ri­um, das ich zwar gese­hen habe, aber für den Roman wei­ter erfin­de, nicht in eine Repor­ta­ge bau­en kön­nen, dazu brauch­te ich das Gefäß Roman. Ich wür­de nie und nim­mer sagen, dass ich an mei­nen Repor­ta­gen weni­ger sprach­lich fei­le. Ich gehö­re zu den erzäh­len­den Repor­tern und der ers­te Unter­schied zu einem Roman ist ein­fach die Nach­prüf­bar­keit. Die Fak­ten müs­sen stim­men. Aber ich muss auch in einer Repor­ta­ge fik­tio­na­li­sie­ren und zwar muss ich eine Per­spek­ti­ve erfin­den. Ich muss zum Bei­spiel „erfin­den”, wel­chen mei­ner Inter­view­part­ner ich in die Mit­te stel­le. Es steckt sehr viel, wenn man so will, poe­ti­sche Arbeit in einer Repor­ta­ge. Nur wenn der Eifel­turm in Paris steht, muss er auch in der Repor­ta­ge in Paris ste­hen, wäh­rend ich durch­aus einen Roman schrei­ben kann, in dem der Eifel­turm woan­ders steht, so was ist mög­lich. In der Fik­ti­on ist mir alles erlaubt, alles Sur­rea­le, alle Über­blen­dung, alle Zeit­mi­schung. Und doch ist eine Detail­ge­nau­ig­keit und Musi­ka­li­tät in bei­den Gen­res wich­tig. Ich wür­de nicht sagen, dass in einem Buch mit gesam­mel­ten Repor­ta­gen weni­ger poe­ti­sche Arbeit steckt, es ist nur eine andere.

SCHAU INS BLAU: Darf ich fra­gen, was bei Ihnen per­sön­lich zuerst kam, das Poe­ti­sche der Lite­ra­tur oder das Poe­ti­sche in der Journalistik?

ANGELIKA OVERATH: Ich bin ja Ger­ma­nis­tin, ich hab über Lyrik pro­mo­viert und ich glau­be, wenn man sich mit Gedich­ten beschäf­tigt hat, dann schreibt man auch Repor­ta­gen mit einer wachen Sprach­sen­si­bi­li­tät, man kann nicht mehr hin­ter ein gewis­ses Bewusst­sein zurück. Der Sprung von der Repor­ta­ge zum Roman hat­te dann einen rein bio­gra­phi­schen Grund. Nach dem Tod mei­ner Eltern, nach­dem bei­de Eltern­tei­le gestor­ben waren, hat sich ein Erin­ne­rungs­ta­bu gelöst. Und ich habe gemerkt, dass ich ein ande­res Gen­re brau­che. Da waren auf ein­mal Din­ge, die erzählt wer­den woll­ten, die aber in kei­ne Repor­ta­ge pass­ten, auch in kei­nen Essay. Und so habe ich Nahe Tage geschrie­ben. Und schließ­lich habe ich rea­li­siert, dass es mir Freu­de macht, die­se ande­re Frei­heit zu haben im Erfin­den. Als ich an einen zwei­ten Roman dach­te, fiel mir die­ses Aqua­ri­um im Flug­ha­fen ein, das ich zehn Jah­re vor­her gese­hen hat­te. Ich dach­te, das wäre ein wun­der­ba­rer Raum für eine Geschich­te mit drei Per­so­nen. Die Figur Elis gibt mir natür­lich die Mög­lich­keit, sehr vie­le Din­ge, die ich so oder ähn­lich erlebt habe, die aber in kei­ne Repor­ta­ge pass­ten, jetzt in die­sem Roman unter­zu­brin­gen. Oft geht man auf eine Repor­ta­ge­rei­se für drei, vier Wochen, man hat ein The­ma, man belie­fert dann die­ses eine The­ma und doch bleibt noch ganz viel Stoff übrig. Ich habe auf die­sen Rei­sen Selt­sa­mes erlebt, Absei­ti­ges gese­hen, und das hat ver­mut­lich auf die­sen Roman gewartet.

SCHAU INS BLAU: Ist es so, dass man sich als Jour­na­lis­tin auf eine Rei­se begibt, wäh­rend man als lite­ra­ri­sche Autorin ankommt?

ANGELIKA OVERATH: Nein, man begibt sich auch mit einem Roman auf eine Rei­se. Wenn ich schon ange­kom­men bin, muss ich mir die Arbeit nicht mehr machen. Wenn ich einen Roman anfan­ge, möch­te ich etwas wis­sen. Viel­leicht weiß ich noch gar nicht genau, was ich wis­sen will, aber ich bin auf einer Spur und das ent­wi­ckelt sich mit der Zeit. Ich mer­ke wie ein Wün­schel­ru­ten­su­cher: da schlägt was aus. Ich schrei­be erst mal drauf los und dann wird jeder Satz immer und immer wie­der umge­dreht, Sze­nen wer­den mit­ein­an­der abge­gli­chen. Ich suche schrei­bend den Stoff, ich suche das The­ma. Flug­ha­fen­fi­sche hieß am Anfang Aqua­ri­um und ich hab eine ganz frü­he Idee für den Text in Kla­gen­furt gele­sen, in der noch viel Fami­li­en­ge­schich­te vor­kam, etwa der kriegs­kran­ke Vater von Tobi­as. Die­se Tei­le habe ich alle gestri­chen. Denn ich habe mir gedacht, die Vater-Kind-Pro­ble­ma­tik habe ich in Nahe Tage geschrie­ben und ich woll­te jetzt ein ande­res The­ma. Das habe ich aber erst wäh­rend des Schrei­bens gemerkt.

SCHAU INS BLAU: Frau Ove­r­ath, ich bedan­ke mich ganz herz­lich für das Gespräch.

ANGELIKA OVERATH: Ich dan­ke Ihnen für Ihre Fragen.

Ange­li­ka Ove­r­ath, 1957 in Karls­ru­he gebo­ren, stu­dier­te in Tübin­gen und arbei­tet dann als Repor­te­rin, Lite­ra­tur­kri­ti­ke­rin und Essay­is­tin (vor allem für die NZZ) und als Dozen­tin (vor allem am MAZ, der Schwei­zer Jour­na­lis­ten­schu­le in Luzern). Sie hat meh­re­re Bücher mit Repor­ta­gen und Essays und zwei Roma­ne ver­öf­fent­licht („Nahe Tage“, 2005 und „Flug­ha­fen­fi­sche“, 2009). Ihre Arbei­ten wur­den mit ver­schie­de­nen Sti­pen­di­en und Prei­sen aus­ge­zeich­net, u. a. dem Egon-Erwin-Kisch-Preis für lite­ra­ri­sche Repor­ta­ge (1996) und dem Ernst-Will­ner-Preis beim Inge­borg-Bach­mann Wett­be­werb (2006). Im Herbst 2010 erscheint „Alle Far­ben des Schnees. Sen­ter Tage­buch“. Ange­li­ka Ove­r­ath ist ver­hei­ra­tet mit dem Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Man­fred Koch und lebt zusam­men mit ihm und ihrem jüngs­ten Sohn in Sent, Grau­bün­den (CH).