Der Verdacht, dass nicht die Geister in einer ganz falschen Welt leben, sondern wir

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Ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler und Autor Adolf Muschg

von Agnes Bidmon

Was pas­siert, wenn die Wahr­neh­mung von Raum und Zeit sich auf­löst, wenn Per­spek­ti­ven sich ver­schie­ben und Ver­gan­gen­heit und Zukunft unun­ter­scheid­bar wer­den, wenn also dem Men­schen das Koor­di­na­ten­sys­tem sei­ner Exis­tenz abhan­den kommt? Wenn sich zwi­schen ver­meint­li­cher Rea­li­tät und Fik­ti­on nicht mehr unter­schei­den lässt, und sich all das mit­ten in einer Schwei­zer Klein­stadt zuträgt? Dar­über und über das, was dahin­ter – oder eben davor, dar­über oder dar­un­ter – steckt, sprach Schau ins Blau mit dem Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und Autor Adolf Muschg.

SCHAU INS BLAU: Sie sind ja sowohl als Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler als auch als Autor tätig. Wie hat Sie die­se Dua­li­tät geprägt und auf wel­che Art und Wei­se wirkt sich die­se Form der Annä­he­rung an die Gegen­stän­de sowohl von der ana­ly­ti­schen als auch von der intui­ti­ven Sei­te in Ihren Tex­ten aus?

ADOLF MUSCHG: Die Wur­zel liegt ganz bestimmt in dem, was ich in mei­nem Eltern­haus erlebt habe. Ich hat­te einen Vater, der Leh­rer war und – gemäß dem klas­si­schen Kli­schee – in sei­nen Fei­er­abend­stun­den geschrie­ben hat. Das waren Bau­ern­ge­schich­ten, für mei­nen heu­ti­gen Geschmack etwas zu schwarz-weiß, gut und böse, da er beken­nen­der Christ war, aber die Kom­bi­na­ti­on Leh­ren und Schrei­ben wur­de mir dadurch früh ein­ge­prägt. Ich selbst habe es dann bis zum Hoch­schul­leh­rer gebracht, aber ich hat­te nie das Gefühl, dass die bei­den Tätig­kei­ten sich in die Que­re kom­men. Und heu­te, wo ich auf eini­ge Jahr­zehn­te bei­der Tätig­kei­ten zurück­bli­cken kann, wür­de ich sagen, in bei­den Eigen­schaf­ten erzählt man Geschich­ten. Ande­re Kul­tu­ren machen den Unter­schied auch gar nicht in der Schär­fe, die in der deut­schen Tra­di­ti­on liegt und wo ein Pro­fes­so­ren­ro­man das schlimms­te war, was man einem Werk nach­sa­gen konn­te. Im Fran­zö­si­schen ist es selbst­ver­ständ­lich, dass Roland Bar­thes oder Lacan an der Uni­ver­si­tät leh­ren und auch gute Schrift­stel­ler sind. Der tie­fe­re Grund oder die Begrün­dung und Recht­fer­ti­gung dafür hat damit zu tun, dass man beim Schrei­ben sozu­sa­gen der Fik­ti­on ent­bun­den ist, man kön­ne eine Metho­de kon­stru­ie­ren, mit der sich das, was einen beschäf­tigt, wirk­lich ein­fan­gen lässt. Es sind viel­mehr heu­ris­ti­sche Ver­su­che, sich in Zei­chen­form einer Rea­li­tät zu bemäch­ti­gen, die sowie­so grö­ßer ist als wir. Das wirk­lich span­nen­de am Schrei­ben ist, dass man beim Schrei­ben ent­deckt, wie wenig man weiß. Das ist eine ganz unso­kra­ti­sche Erfahrung.

SCHAU INS BLAU: Damit sind bereits eini­ge Schlag­wor­te gefal­len, die dem Leser auch in Ihrem aktu­el­len Buch Sax (2010) begeg­nen, wie etwa die Rol­le und Funk­ti­on von Reli­gi­on, das Ver­hält­nis zwi­schen Rea­li­tät und Fik­ti­on sowie die Fra­ge nach der gene­rel­len Annä­he­rungs­mög­lich­keit des Men­schen an eine unfass­ba­re Rea­li­tät. In Ihrem Roman wer­den also nicht nur unheim­lich vie­le Dis­kur­se auf­ge­grif­fen, son­dern zudem ein nahe­zu über­zeit­li­cher Bogen geschla­gen, indem der Beginn des Romans in der wei­ten Ver­gan­gen­heit und das Ende in der Zukunft liegt. Somit drängt sich die Fra­ge auf, ob ‚Sax’ ein nar­ra­ti­ves Gegen­mo­dell zu dem von Lyo­tard pro­pa­gier­ten Satz ent­wirft, dass mit der Post­mo­der­ne das „Ende der gro­ßen Erzäh­lun­gen“ einhergehe?

ADOLF MUSCHG: Für jeden von uns fängt in der Bio­gra­phie die Welt noch ein­mal an. Wir haben die Chan­ce, sowohl die Odys­see als auch die Ili­as und das Kama­su­tra und vie­les mehr noch ein­mal zu durch­le­ben. Inso­fern ist auch das Bekann­te für jeden indi­vi­du­ell wie­der neu und anders. Man kann also genau­so gut sagen, dass es mög­lich ist, dass über­haupt noch nie etwas beschrie­ben wor­den ist, wie es etwa im Mal­te Lau­rids Brig­ge heißt. Wir befin­den uns somit zugleich in einem Zustand einer voll­kom­me­nen Lee­re und einer voll­kom­me­nen Red­un­danz. Ich möch­te mich gar nicht theo­re­tisch dar­über äußern, ob es noch mög­lich ist, die­ses oder jenes zu tun oder ob es nicht mehr mög­lich ist. In die­sem Dis­kurs lau­ert etwas enorm Dog­ma­ti­sches, das ich nicht gern habe und das auch mei­nem eige­nen Bedürf­nis des Lese­ver­gnü­gens wider­spricht. Erlaubt ist, was gelingt, sagt Frisch ein­mal.
Sax ist tat­säch­lich eine Art Enzy­klo­pä­die der Dis­kur­se, es sind kei­ne ganz neu­en Dis­kur­se, man kann sie reli­gi­ons­ge­schicht­lich, kul­tur­ge­schicht­lich usw. ver­or­ten. Aber in ihrem Zusam­men­spiel, wie sie in uns als Per­so­nen im Lauf eines Lebens zusam­men­kom­men und Wider­sprü­che sowie Inter­fe­ren­zen erzeu­gen, bil­den sie für mich eine Art Dis­kurs-Bil­der­tep­pich, bei dem ich man­ches nicht habe ver­nä­hen und zusam­men­fli­cken können.

SCHAU INS BLAU: Bei der Lek­tü­re Ihres Buches beschleicht den Leser das Gefühl, dass einem die roten Fäden der Dis­kur­se zuneh­mend ent­glei­ten, dass die Wahr­neh­mungs­mög­lich­keit von Zeit und Rea­li­tät immer flüch­ti­ger wird und schließ­lich gänz­lich aus­ein­an­der­fällt. Bezeich­nen­der­wei­se insze­nie­ren Sie die­se zuneh­men­de Auf­lö­sung ja im Medi­um der Lite­ra­tur, einem Medi­um, das nicht nur vor­aus­setzt, dass sich der Leser Zeit nimmt und in den Text hin­ein­ver­senkt, viel­mehr the­ma­ti­sie­ren Sie in Ihrem Text auch immer wie­der die Lite­ra­tur selbst als ein Medi­um, das sozu­sa­gen Schnei­sen durch die linea­re Zeit- und Rea­li­täts­wahr­neh­mung schlägt, wie etwa die ‚Manes­si­sche Lie­der­hand­schrift’ oder der ‚Füh­rer der Unschlüssigen’.

ADOLF MUSCHG: Ich suche ein Wort, in dem ich die­se Brü­cke schla­gen kann, und das Wort, das mir dazu ein­fällt, ist ‚Schein’. In der ästhe­ti­schen Debat­te spielt der Schein eine ganz wesent­li­che Rol­le, wenn auch eine nicht unan­ge­foch­te­ne, denn er bringt ja aus dem from­men Mit­tel­al­ter auch die Nach­re­de des Unei­gent­li­chen und Unwah­ren mit. Wenn wir aber zum Bei­spiel an die klas­si­sche Ästhe­tik den­ken, hat Schil­ler den Schein gewis­ser­ma­ßen als die dem Dich­ter auf­ge­ge­be­ne Form des Rea­li­täts­um­gangs gerecht­fer­tigt. Goe­the hat in Die Natür­li­che Toch­ter ein ver­söhn­li­ches Modell von Schein und Rea­li­tät vor­ge­schla­gen und bei Nietz­sche gibt es dann die fri­vo­le, stei­le Dis­kus­si­on des Scheins, indem er schreibt, dass der Schein im Grun­de das Glän­zends­te ist, was der Zivi­li­sa­ti­on gelingt. Und wenn ich jetzt noch ein­mal eine ande­re seman­ti­sche Dimen­si­on beschrei­te, dann den­ke ich etwa an den Hin­du­is­mus, wo es ganz selbst­ver­ständ­lich ist, dass das, was uns als Rea­li­tät begeg­net, illu­sio­när ist. Das ist die Grund­la­ge der Exis­tenz, das ist ‚Maya’. Und solan­ge wir uns in die­sem Gestrüpp des Scheins bewe­gen, lei­den wir und fal­len gewis­ser­ma­ßen auf unse­re eige­nen Illu­sio­nen her­ein. Und dar­um wäre die Befrei­ung von die­sem Lei­den das höchs­te der Zie­le, man arbei­tet sozu­sa­gen die eige­ne Täusch­bar­keit über meh­re­re Leben ab, bis man das Kar­ma los wird und ins so genann­te ‚Nichts’ ein­geht. Dafür haben wir natür­lich gar kei­ne Kate­go­rien – mehr, muss man sagen, denn die mit­tel­al­ter­li­che Mys­tik hat­te sie noch. So lan­ge ich schrei­be habe ich also schein­bar noch vie­le Wie­der­ge­bur­ten vor mir und ich ver­su­che mir die­ses Kar­ma ganz offen­sicht­lich auch ein wenig zu ver­meh­ren, um nicht so bald beim ‚Muk­ti’ zu lan­den. Wenn man also kein Kan­ti­a­ner und kein Meta­phy­si­ker ist, stößt man eigent­lich über­all – nicht nur in der Dich­tung – auf den Schein­cha­rak­ter der Rea­li­tät, ohne dass man sie damit abwer­tet oder sie dadurch unver­bind­lich wer­den muss.

SCHAU INS BLAU: Eine der zahl­rei­chen gegen­läu­fi­gen Bewe­gun­gen in Ihrem Text ist ja das per­ma­nen­te Fort­schrei­ten der Zeit bei einer gleich­zei­tig gefühl­ten Zeit­lo­sig­keit, einem Still­stand, und somit letzt­lich die Umset­zung des nietz­schea­ni­schen Gedan­kens der ewi­gen Wie­der­kehr des Glei­chen. Schließ­lich gibt es ja nicht nur unend­lich vie­le Wie­der­gän­ger in die­sem Buch, auch die kol­lek­ti­ve Geschich­te und die Ideo­lo­gien wie­der­ho­len sich eigent­lich in allem oder sind im gesam­ten Ver­lauf des Tex­tes als Gespens­ter anwe­send, vom Kom­mu­nis­mus über den Tota­li­ta­ris­mus bis hin zur über­bor­den­den und nicht mehr beherrsch­ba­ren Media­li­tät. Wel­ches Geschichts­ver­ständ­nis liegt Ihrem Roman also zugrunde?

ADOLF MUSCHG: Wenn man es abs­trakt sagt, steht im Zen­trum des Romans eine bestimm­te Befra­gung von Raum und Zeit. Der Roman spielt mit einer Rei­he von Raum­mo­del­len und das­sel­be gilt für die Zeit. Das berühm­te String-Uni­ver­sum, wenn ich mir dar­un­ter über­haupt etwas vor­stel­len kann, bedeu­tet ja, dass ich von der kei­nes­wegs zwang­haft offen­bar nur in eine Rich­tung ablau­fen­den Zeit irgend­wo einen Quer­schlag sozu­sa­gen in eine his­to­risch ganz ande­re Zeit schla­gen kann, ohne dass das als Sci­ence- oder Histo­ry-Fic­tion erscheint, da uns die­se Trenn­wand ein­fach undurch­dring­li­cher erscheint als sie mög­li­cher­wei­se ist. Und es gab ja im Lau­fe der Geis­tes­ge­schich­te schon immer ernst­haf­te Über­le­gun­gen, die sich mit solch meta­phy­si­schen Din­gen beschäf­tigt haben, wenn man zum Bei­spiel an die roman­ti­sche Medi­zin denkt. Das ist dann natür­lich alles abge­räumt wor­den von der so genann­ten moder­nen Wis­sen­schaft, der posi­ti­ven Medi­zin, wobei es auch da ein Wei­ter­spu­ken gibt bei Freud und bei Jung, da ist in der Wal­pur­gis­nacht der Spuk eigent­lich wie­der voll aus­ge­bro­chen. Die Zeit läuft also nicht ein­fach nach einem Mus­ter ab, son­dern sie ist ein unglaub­lich eigen­tüm­li­ches Medi­um. Die Zeit ist ein Medi­um – wie­der­um ein spi­ri­tis­ti­scher Begriff übri­gens –, das wahr­schein­lich für ganz ande­re und wei­te­re Din­ge lei­tend ist, als wir uns vor­stel­len kön­nen. Damit zu spie­len, dass man dann auch sozu­sa­gen in sei­ne Vor­zeit durch­bricht, was die rei­ne Chro­no­gra­phie oder die Dimen­sio­nen der Evo­lu­ti­ons­ge­schich­te angeht, ist span­nend. Ich kann es an einem ande­ren Bei­spiel illus­trie­ren: Die Astro­no­mie spielt im Text ja eine Rol­le, und dass die Astro­no­mie, je mehr wir ins Mons­trö­se und Gro­ße gera­ten, dass das unend­lich Gro­ße immer mehr dem unend­lich Klei­nen zu glei­chen beginnt und dass wir in bei­den Rich­tun­gen an kein Ende kom­men, weder durch das Tele­skop noch durch das Mikro­skop, das ist für mich eine ganz fun­da­men­ta­le Infra­ge­stel­lung eigent­lich aller unse­rer Prä­mis­sen. Es ist, als hät­ten wir unse­re kul­tu­rel­le Ver­mes­sung irgend­wo an ganz fal­schen Daten auf­ge­macht, und dar­aus speist sich der Ver­dacht, dass nicht die Geis­ter in der fal­schen Welt leben, son­dern wir.

SCHAU INS BLAU: Die­ser Ver­dacht nimmt ja auch in Ihrem Text eine ganz zen­tra­le Stel­le ein, wenn man an den phi­lo­so­phi­schen Exkurs denkt, den der nick-name „Cas­par“ ali­as Die­bold ins Netz gestellt hat und der die­se Über­le­gun­gen noch ein­mal aufgreift.

ADOLF MUSCHG: Ja, genau, eben­so wie die Fra­ge der Per­spek­ti­ve. Wenn man bei­spiels­wei­se das Umschlag­bild des Buches betrach­tet, brau­chen Sie ja nur die­se berühm­te glän­zen­de Sil­ber­röh­re, d.h. die­se spie­geln­de Folie dar­auf zu set­zen, dann sehen Sie die­se ver­zerr­te Manns­fi­gur kom­pakt. Das ging mit der Erfin­dung der Form, der Ver­bind­lich-Erklä­rung der Per­spek­ti­ve ein­her, denn die mit­tel­al­ter­li­chen Maler haben das ja nicht etwa nicht gekonnt, son­dern es hat sie nicht inter­es­siert, sie hat­ten ande­re Gewich­te im Bild. Als dann die Per­spek­ti­ve erfun­den wur­de, war auch das Spiel mit der Per­spek­ti­ve in der Welt. Wenn Tin­to­ret­to z.B. eine Kup­pel aus­mal­te und mit Illu­si­on arbei­te­te, dann muss­te er sich sol­che Tech­ni­ken aneig­nen, es ist schlich­tes Hand­werk. Und das macht einen natür­lich – ob inten­diert oder nicht – dar­auf auf­merk­sam, wie per­spek­ti­visch unse­re Welt­bil­der sind. Alle, nicht nur die­je­ni­gen des Malers oder des­je­ni­gen, der bewusst damit spielt. Neh­men wir das Bei­spiel der Stern­war­te aus dem Buch: die­se Stern­war­te ist ja von innen viel geräu­mi­ger als sie von außen sein kann. Hier spie­gelt sich eine zugleich nai­ve Erfah­rung, die jeder von uns kennt: die Stu­be, in der wir alle auf­ge­wach­sen sind, war von innen gese­hen eine Welt und von außen betrach­tet wird es dann ein immer klei­ne­res Haus im Lauf des Lebens. Inso­fern ist das eine ganz exis­ten­ti­el­le Erfah­rung. Die­se Rela­ti­vi­tät der Per­spek­ti­ve in die Rela­ti­on einer Geschich­te zu über­tra­gen ist eine sehr abs­trak­te For­mel für das, was ich da ver­sucht habe. Wie erzählt man in einem raum­zeit­li­chen Nicht-Kon­ti­nu­um so eine Geschichte?

SCHAU INS BLAU: Ein ganz ande­res sehr zen­tra­les The­ma des Buches ist der Kon­nex von Geschlech­ter­be­zie­hung, Macht, Sexua­li­tät und Gewalt, die man über­ein­an­der aus­übt und die dann auch zu einer Unmög­lich­keit von gelin­gen­den Lie­bes­be­zie­hun­gen führt. Inwie­fern war das ein reiz­vol­les The­ma gera­de für Sie als einem Autor, der aus­neh­mend vie­le Lie­bes­ge­schich­ten geschrie­ben hat?

ADOLF MUSCHG: Ich glau­be ja, allen Leben­den macht zu schaf­fen und den Toten hat es auch zu schaf­fen gemacht, dass es „den“ Men­schen nicht gibt. Er ist geschlecht­lich defi­niert und wie stark die Geschlech­ter wie­der­um bio­lo­gisch defi­niert sind, das ist eine zwar fun­da­men­ta­le, aber zugleich auch nie­mals zu ent­schei­den­de Fra­ge – wie viel dar­an ist kul­tu­rell, eben per­spek­ti­visch? Wenn ich also in eine Mäd­chen­per­spek­ti­ve gebo­ren wer­de etwa um 1810, kommt es enorm auf die sozia­le Schicht an, was für Aus­sich­ten ich habe und wie ich mei­ne Aus­sich­ten auch selbst beschrän­ke, um nicht in Kon­flik­te zu gera­ten. Das ist heu­te ein biss­chen anders, wo das Spek­trum des mög­li­chen Lebens­an­ge­bo­tes grö­ßer aus­sieht, aber im Grun­de dann auch die Angst, es wahr­zu­neh­men, ent­spre­chend grö­ßer gewor­den ist. Manch­mal leben wir tat­säch­lich die ‚Fik­ti­on Mensch’ und sie ist trag­fä­hig, als gäbe es die Geschlech­ter­dif­fe­renz nicht, ein ande­res Mal quält uns die Dif­fe­renz, ein ande­res Mal spie­len wir mit ihr usw. Also es ist ein gutes Motiv, um an ihm zu zei­gen, wie – Gott sie Dank oder auch lei­der – unglaub­lich wenig defi­niert unse­re Zivi­li­sa­ti­on ist und wie sie eigent­lich für jede Gene­ra­ti­on oder auch Per­son sie eigent­lich einer Neu­de­fi­ni­ti­on bedarf und dass die­se Defi­ni­tio­nen sich, wenn das Leben die Chan­ce hat, sich auch inner­lich zu ent­wi­ckeln, enorm ver­än­dern wer­den. Man weiß so wenig, dass man eigent­lich alles immer wie­der neu in Fra­ge­form erzäh­len möch­te und sich bei Autoren und auch sich sel­ber die nöti­ge Gewis­sen­haf­tig­keit und den Man­gel an Fri­vo­li­tät wünscht, die zu die­sem The­ma gehö­ren – aber ande­rer­seits ist es oft auch nur die Fri­vo­li­tät, die einen rettet.

SCHAU INS BLAU: Auch die Ver­bin­dung und Ver­knüp­fung von Sexua­li­tät und Reli­gi­on spielt ja in die­sen The­men­kom­plex mit hin­ein. Zum einen gibt es eine Sakra­li­sie­rung von Sexua­li­tät, wenn Jac­ques in der geborg­ten Kut­te sei­nes Freun­des Hubert mit den phil­ip­pi­ni­schen Frau­en jeden Diens­tag ritua­li­siert sei­ne sexu­el­len Phan­ta­sien aus­lebt und am Ende auch in die­ser Kut­te stirbt – oder eben auch nicht stirbt, wer weiß das schon genau. Zum ande­ren durch­zieht das Motiv der Tri­ni­tät zahl­rei­che Bezie­hungs­kon­stel­la­tio­nen im Roman. Wel­che Rol­le spie­len in die­sem sehr meta­phy­si­schen Buch also die­se Tabu­brü­che einer­seits und die reli­giö­sen Anspie­lun­gen und Zita­te andererseits?

ADOLF MUSCHG: Die Tri­ni­tät ist ja eine sehr inter­es­san­te Ant­wort auf Ihre Fra­ge. Im Gegen­satz etwa zu den rein mono­the­is­ti­schen Reli­gio­nen wie dem Juden­tum etwa oder dem Islam hat man die­se Drei­ei­nig­keit erfun­den. Es wur­de also eine Pro­zess­haf­tig­keit in Gott ver­legt, die die Kon­stel­la­ti­on Vater, Sohn und Hei­li­ger Geist zum Spiel­ma­te­ri­al macht, beweg­lich macht und in Bewe­gung zeigt. Das heißt offen­sicht­lich, dass man in der rei­nen Got­tes­phan­ta­sie unver­ein­ba­re Din­ge ver­ein­ba­ren muss, und auch die Sexua­li­tät kann man aus dem gött­li­chen Zen­trum nicht völ­lig aus­klam­mern, sie kommt dann sozu­sa­gen unter allen mög­li­chen Lar­ven wie­der her­ein. Man hat den Hei­li­gen Geist ja oft weib­lich dar­ge­stellt und sei­ne Stell­ver­tre­tung über­nimmt die Mut­ter Got­tes. Bei den Katho­li­ken wird sie so fast wie­der zur ‚magna mater’, da ist der Mari­en­kult wich­ti­ger als der Jesus­kult.
Der Tabu­bruch ist somit also schon in der Not­wen­dig­keit der Sache ange­legt. Ich muss mir Gott offen­bar tri­ni­ta­risch, also drei­ei­nig, vor­stel­len, woge­gen sich ja eini­ge Kon­zil­vä­ter und ande­re ener­gisch gewehrt haben. Für mich ist es ein Ver­such, die theo­lo­gisch sehr unbe­que­me Wahr­heit dar­zu­stel­len, dass die wich­tigs­ten Din­ge polar und also stets dem Ande­ren ent­ge­gen­ge­setzt sind. Dass, um es extrem zu sagen, Gott und der Teu­fel, oder, um es neu­tra­ler zu for­mu­lie­ren, schwarz und weiß zusam­men­ge­dacht wer­den müs­sen wie Leben und Tod, ist ein für alle monis­ti­schen Reli­gio­nen ket­ze­ri­scher Gedan­ke. Die­se Dyna­mik in Gott selbst zu ver­le­gen, eine müh­sam gebän­dig­te und domes­ti­zier­te Dyna­mik, kommt für mich in dem Begriff der Tri­ni­tät zum Aus­druck. Im Grun­de ist es ja mons­trös, was da pas­siert: Gott wird Mensch, darf dann aber nicht wirk­lich sünd­haft sein, und schließ­lich opfert Gott sei­nen Sohn und tut das für unse­re Sün­den. Kier­ke­gaard hat daher auch immer das Skan­da­lö­se des Chris­ten­tums stär­ker her­vor­ge­ho­ben als das Andäch­ti­ge. Jedes Ele­ment die­ses Pro­zes­ses ist natür­lich Nach­fra­gen unter­wor­fen und die Ortho­do­xie ver­sucht, genau die­se Fra­gen immer zu unter­bin­den und die Lite­ra­tur kann nicht anders, glau­be ich, als sie zu stel­len. Man will in der Reli­gi­on nicht all­zu viel Bewe­gung, jeden­falls die Insti­tu­ti­on will sie nicht, und vor allem nicht im Zen­trum. Und in Sax gera­ten gewis­ser­ma­ßen all die­se Kon­struk­te ins Rutschen.

SCHAU INS BLAU: Das kul­mi­niert in der Sze­ne, in der Hubert Acher­mann gegen Ende auf Adria­na trifft, die ja wie­der­um in einem tri­ni­ta­ri­schen Kon­strukt mit Gre­gor und Die­bold situ­iert ist. Zudem spie­len hier­bei dann auch noch ein­mal die Lite­ra­tur und die Ima­gi­na­ti­ons­kraft selbst eine ganz ent­schei­den­de Rol­le, indem es heißt, dass das eige­ne Leben den Text schreibt und der Text das eige­ne Leben. Somit über­nimmt die­ses Zusam­men­spiel von Lite­ra­tur, Reli­gio­si­tät und Sexua­li­tät eine unheim­lich iden­ti­täts­bil­den­de und zugleich auch iden­ti­täts­zer­stö­ren­de Funk­ti­on, denn die­se Sze­ne ist auf eine sehr sur­rea­le, ent­rück­te Wei­se ja eine sehr grau­sa­me Szene.

ADOLF MUSCHG: Manch­mal hilft es wirk­lich nur, sich in die fins­te­ren Ecken sei­ner See­le zu bege­ben und die schlimms­te der vor­stell­ba­ren Mög­lich­kei­ten aus­zu­drü­cken. Die Sze­ne, die Sie gera­de beschrei­ben, ist so eine Sze­ne, bei der ich das Gefühl habe, ich bin auch an die für mich selbst erträg­li­che Gren­ze gegan­gen und ich glau­be, das gehört zum Test­fall Schrei­ben. Ob es dann klug ist, das so ste­hen zu las­sen, ist eine ande­re Fra­ge. Ich habe gelernt, dass man in die­sem Fall natür­lich mit sehr viel weni­ger sehr viel mehr hät­te brin­gen kön­nen. Ich hät­te mich nur auf eine so genann­te Geschich­te kon­zen­trie­ren müs­sen. Aber das war jetzt ein­fach ein­mal der wahn­sin­ni­ge Ver­such der Umset­zung der Theo­rie des jun­gen Lukács, dass der Roman eigent­lich die Pflicht hat, die gan­ze Welt zu zei­gen. Und die gan­ze Welt zei­gen heißt zei­gen, dass sie nicht ganz ist.

SCHAU INS BLAU: Lie­ber Herr Muschg, wir dan­ken Ihnen ganz herz­lich für die­ses Gespräch.

Adolf Muschg wur­de 1934 als Sohn von Adolf Muschg seni­or (1872–1946) und sei­ner zwei­ten Frau in Zol­li­kon, Kan­ton Zürich/Schweiz gebo­ren. Er stu­dier­te Ger­ma­nis­tik, Anglis­tik sowie Phi­lo­so­phie in Zürich und Cam­bridge und pro­mo­vier­te über Ernst Bar­lach. Von 1959 bis 1962 unter­rich­te­te er als Gym­na­si­al­leh­rer in Zürich, dann folg­ten ver­schie­de­ne Stel­len als Hoch­schul­leh­rer, unter ande­rem in Deutsch­land, Japan und den USA. Von 1970 bis 1999 war er Pro­fes­sor für deut­sche Spra­che und Lite­ra­tur an der Eid­ge­nös­si­schen Tech­ni­schen Hoch­schu­le Zürich. Adolf Muschg ist seit 1976 Prä­si­dent der Aka­de­mie der Küns­te Ber­lin, Mit­glied der Deut­schen Aka­de­mie für Spra­che und Dich­tung Darm­stadt sowie der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten und der Lite­ra­tur Mainz. Für sei­ne Tex­te erhielt Muschg zahl­rei­che Prei­se und Aus­zeich­nun­gen wie den Gro­ßen Lite­ra­tur­preis der Stadt Zürich (1984), die Erich Fried Ehrung für sein Lebens­werk (1994), den Büch­ner Preis der Deut­schen Aka­de­mie für Spra­che und Dich­tung (1994), den Grim­mels­hau­sen Preis (2001) und noch vie­le mehr. Zu sei­nen zahl­rei­chen Ver­öf­fent­li­chun­gen zäh­len Essays, Erzähl­bän­de und Roma­ne, dar­un­ter u.a. Gegen­zau­ber (1981), Leib und Leben (1982), Empö­rung durch Land­schaf­ten (1988), Gehen kann ich allein und ande­re Lie­bes­ge­schich­ten (2005), Eikan, du bis spät (2005), Kin­der­hoch­zeit (2009) und Sax (2010). Adolf Muschg lebt in Män­nedorf bei Zürich.