„2312”

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von Juli­an Schumertl

Im Jah­re 2312 hat die Mensch­heit bei­nah unser gesam­tes Son­nen­sys­tem bevöl­kert. Der Mars ist zu einem sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Ide­al­pla­ne­ten gewor­den. Sowohl die Venus, als auch der Saturn sind besie­delt, Mer­kur ist eine Art Schatz­kam­mer für Kunst­wer­ke. Vie­le der Split­ter­wel­ten und Mon­de ent­wi­ckel­ten eben­falls eige­ne Gesell­schafts­sys­te­me und Wirt­schafts­for­men. Aste­ro­iden wer­den zu Ter­ra­ri­en umfunk­tio­niert, die ent­we­der als umher­flie­gen­de Far­men oder als Lebens- und Neu­züch­tungs­räu­me für bedroh­te Tier­ar­ten genutzt werden.Nur auf der Erde ist viel beim Alten geblie­ben oder hat sich ver­schlim­mert. Die Strei­tig­kei­ten der Natio­nal­staa­ten bestehen wei­ter­hin, die Bevöl­ke­rung explo­diert nahe­zu. Die Umwelt ist bei­na­he zer­stört, vie­le Tier­ar­ten auf der Erde ganz aus­ge­stor­ben. Ohne die Ver­sor­gung aus dem All mit Nah­rungs­mit­teln und ande­ren Roh­stof­fen wür­de die Erd­be­völ­ke­rung viel Not leiden. 

Wer bei 2312 Welt­raum­schlach­ten in kolos­sa­len Aus­ma­ßen und thril­ler­ar­tig auf­be­rei­te­te Action erwar­tet, wird wohl ent­täuscht wer­den. Es geht Kim Stan­ley Robin­son auch nicht dar­um, The­men wie Sex und Gewalt im Über­maß in sei­nem Buch zu plat­zie­ren, um sei­ne Leser­zahl zu maxi­mie­ren. Er erschafft viel­mehr ein gigan­ti­sches Uni­ver­sum inner­halb unse­res Son­nen­sys­tems, in dem die han­deln­den Figu­ren den­noch nicht klein wir­ken, son­dern sich in das gro­ße Gan­ze ein­fü­gen. Es geht um die viel­fäl­tigs­ten The­men wie Gen­der­ori­en­tie­rung (Die Zwei­ge­schlech­tig­keit ist in 2312 eine Nor­ma­li­tät), Ent­wick­lung von Gesell­schaf­ten, Künst­li­che Intel­li­genz, aber auch Poli­tik und Macht in einem Raum, der so weit­läu­fig und kom­plex ist, dass er vie­len der Erden­be­woh­ner auch zu groß erscheint und sie vom Gesche­hen im Welt­raum wenig Notiz neh­men. So wol­len sie auch die gera­de­zu traum­haf­te Tech­nik des Ter­ra­formings nicht anneh­men, das die Raum­er per­fek­tio­niert haben und mit der auch die Erde wie­der in einen Zustand gebracht wer­den könn­te, die ihrem ursprüng­li­chen zumin­dest ähnelt.

Die Geschich­te beginnt mit einem Son­nen­auf­gang auf Mer­kur, dem die gyan­dro­mor­phe Hel­din des Buches, Swan, bei­wohnt. Mit aller Wort­ge­walt schil­dert Robin­son die­ses beein­dru­cken­de Natur­spek­ta­kel, sodass man selbst sei­ne sie­ben Sachen packen möch­te, um die­ses Wun­der zu erle­ben. Die­se – und vie­le wei­te­re – Augen­bli­cke des Buches sind es, die 2312 so lesens­wert machen. Denn eins ist sicher: Wenn Robin­son einen Son­nen­auf­gang auf dem Mer­kur beschreibt, dann mit einer Poe­sie, die das Kön­nen der meis­ten sei­ner Gen­re-Kol­le­gen übertrifft.

Der Tod Alex‘, der Groß­mutter Swans, die eine berühm­te Diplo­ma­tin im poli­ti­schen Netz des Son­nen­sys­tems ist, lässt Swan mit den zwei ande­ren Haupt­fi­gu­ren des Romans in Kon­takt kom­men: Wahr­am, ein krö­ten­ähn­lich aus­se­hen­der Diplo­mat vom Titan und Genet­te, ein klein­ge­wach­se­ner Inspek­tor einer inter­stel­la­ren Poli­zei­be­hör­de. Zusam­men mit ihnen fin­det Swan Hin­wei­se auf eine Bedro­hung für die Mensch­heit, die in den Wei­ten des Rau­mes lau­ert und auch nicht vor Mas­sen­mord zurück­schreckt. Bei den Ermitt­lun­gen zu die­ser Bedro­hung agie­ren Swan, Wahr­am und Genet­te mal zusam­men, mal getrennt, doch die Geschich­te bleibt dabei immer inter­es­sant und so vor­aus­seh­bar wie der Fall eines Würfels.

Zwi­schen­durch gibt Robin­son in Gestalt von soge­nann­ten „Lis­tens“ rät­sel­haf­te Ein­drü­cke wie­der, die wohl von den Cha­rak­te­ren selbst stam­men und dem Leser enor­men Spiel­raum zur Inter­pre­ta­ti­on las­sen. Auch die Unter­bre­chun­gen der Geschich­te durch die „Aus­zü­ge“ sind alles ande­re als unin­ter­es­sant, so wer­den in ihnen doch Aus­schnit­te aus den ver­schie­dens­ten fik­tiv-zukünf­ti­gen Enzy­klo­pä­dien prä­sen­tiert, die das Bild von Robin­sons Zukunfts­vi­si­on mit Ein­bli­cken in den Sinn des Zwit­ter­le­bens für die Lang­le­big­keit oder Abris­sen der kul­tur­ge­sell­schaft­li­chen Ent­wick­lun­gen seit unse­rer Zeit abrun­den. Zu guter Letzt gibt es da noch die „Quan­tum-Walks“, die dem Leser Ein­bli­cke in das Den­ken eines Quan­ten­com­pu­ters geben, was eine wirk­lich außer­ge­wöhn­li­che Lese­er­fah­rung zur Fol­ge hat.

So ist 2312 nicht nur Kri­mi, Zukunfts­pan­ora­ma oder Ent­wick­lungs­ro­man, son­dern viel­mehr alles zusam­men, eine Bün­de­lung an The­men und Gen­res, die so kom­plex ist, wie das dar­in beschrie­be­ne Son­nen­sys­tem. Es bedarf nicht wenig, um in einem so viel­fäl­ti­gen Gen­re wie dem Sci-Fi ein Meis­ter­werk zu schaf­fen, doch 2312 darf die­sen Titel stolz tra­gen, da Robin­son es schafft, in nur knapp 600 Sei­ten unse­re heu­ti­gen, oft mit Scheu­klap­pen behaf­te­ten Sicht­wei­sen und Per­spek­ti­ven auf heik­le The­men wie Modi­fi­ka­ti­on des mensch­li­chen Kör­pers (in Swans Fall zum Bei­spiel durch das Ein­set­zen von Ler­chen­ge­hirn in ihr eige­nes, durch das sie wie die­ser Vogel pfei­fen kann) oder auch Ter­ra­forming radi­kal auf den Kopf zu stel­len und dabei nicht zu ver­ges­sen, was der eigent­li­che Sinn eines Romans ist: Eine star­ke Geschich­te zu erzählen.

2312
Autor: Kim Stan­ley Robin­son
Umfang: 589 Sei­ten
Erschei­nungs­ter­min: 11. März 2013 (in deut­scher Spra­che)
Ver­lag: Hey­ne Verlag