Ein Text von Naomi Mebus

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Arvid Tier­ing ist ein kor­rek­ter Mann, bei dem alles sei­nen Platz haben muss. Sorg­fäl­tig hat er die Schrän­ke in sei­ner Woh­nung ein­ge­räumt. Er hat die Glüh­bir­nen gewech­selt, von 400 auf 800 Lumen, damit es auch hell genug ist in den Räu­men. Bei den Nach­barn hat er sich gleich am ers­ten Tag vor­ge­stellt. Net­te Men­schen, mit einem Sinn für Ruhe und Zurück­ge­zo­gen­heit, genau wie er.

Arvid Tier­ing hat ein Pro­blem. Sein Pro­blem ist kreis­rund und misst etwa einen Zen­ti­me­ter im Durch­mes­ser. – Ein dau­men­gro­ßer, schwar­zer Fleck, der sich auf der Wand sei­nem Bett gegen­über befin­det. Die­ser Fleck geht Arvid nicht aus dem Kopf. Er zwingt ihn dazu, stän­dig an die Wand zu star­ren und der Fleck starrt zurück! – mor­gens beim Auf­ste­hen, abends beim zu Bett gehen, sogar nachts kann er ihn spü­ren! Und weil Arvid ein Mann der Tat ist und nie­mand, der sich star­rend zufrie­den gibt, fährt er zum Baumarkt.

Der Bau­markt ist ein wun­der­bar auf­ge­räum­ter Ort! In der Abtei­lung „Far­be, Lacke, Tape­ten“ steht alles schön in Reih und Glied. So ein Eimer wei­ßer Far­be ist eine schö­ne Sache. Selbst wenn er noch geschlos­sen ist, kann man die Rein­heit spü­ren, die ihn erfüllt. Weiß birgt ein künst­le­ri­sches Poten­ti­al: Ein „Wei­ße-Wand-Kunst­werk“. Wän­de sind nicht nur ein Stück Mau­er. Das ver­sucht Arvid dem Mann an der Kas­se zu erklä­ren. Ihre enor­me Wirk­mäch­tig­keit wird unter­schätzt. Dabei steht und fällt mit ihnen alles. Es geht um Pres­ti­ge, um Reprä­sen­ta­ti­on! Der Ver­käu­fer ver­steht Arvid nicht. Er will auch gar nichts ver­ste­hen, son­dern nur, dass Arvid wei­ter­geht, damit er den nächs­ten Kun­den abkas­sie­ren kann. Was für eine Ent­täu­schung! Ein Laden mit so viel Poten­ti­al, und die Ver­käu­fer haben kein Gespür für die immense Wich­tig­keit ihrer Ware.

Im Schlaf­zim­mer will das Strei­chen Arvids Pro­blem nicht lösen. Wenn er sein Ohr an die Wand legt, kann er den Fleck lei­se lachen hören. Natür­lich! Mit solch ein­fa­chen Metho­den wird er den Makel bestimmt nicht los. Das hat er sich schon gedacht, hat dar­um extra ein hoch­de­cken­des Weiß gekauft, Alpi­na Innen­raum­weiß, Euro­pas meist gekauf­te Far­be, aber ver­mut­lich kämpft der Rest Euro­pas nicht mit der Bedro­hung eines solch hart­nä­cki­gen Fle­ckes, wie er auf Arvid Tier­ings Wand sitzt. Arvid pin­selt noch ein­mal, Arvid rollt, Arvid trägt die Far­be zen­ti­me­ter­dick auf. Es hilft nichts. Für die­sen Fleck reicht decken­des Weiß nicht aus, er braucht einen Spe­zi­al­lack oder viel­leicht einen Hoch­druck­rei­ni­ger. Der Fleck ist guter Din­ge. Der Fleck lacht.

Zurück im Bau­markt geht Arvid zu dem­sel­ben Ver­käu­fer. „Ich will eine Rück­erstat­tung“, ruft er. Knallt den Farb­ei­mer auf den Tre­sen, erläu­tert wort­reich sein Dilem­ma. Der Mann schüt­telt unwil­lig den Kopf. „Ich kann Ihnen kei­nen fast lee­ren Eimer Far­be zurück­er­stat­ten.“ Er hät­te es wis­sen müs­sen! Es ist ein Grund­satz­pro­blem: Die­ser Mann ver­steht den Wert einer wei­ßen Wand nicht. Er ver­steht nicht, dass es in Arvids Leben Wän­de geben muss, die sei­ne Pri­vat­sphä­re respek­tie­ren. Wän­de, die ihn nicht anstar­ren oder aus­la­chen, wenn er abends in sei­nen Punk­te­py­ja­ma schlüpft. Er schau­dert. Jetzt nur nicht den Fleck gewin­nen las­sen! Er will die Geld-Zurück-Garan­tie, die im Bau­markt immer so heiß bewor­ben wird. Hier geht es ums Prin­zip! Man hat ihm Hoff­nung auf ein neu­es, ein fle­cken­lo­ses Leben gemacht. Hier wer­den Ver­spre­chen gege­ben und nicht gehal­ten! Hier wird mit Bil­dern gewor­ben, die es in Wirk­lich­keit nicht gibt.

Am Ende hat man ihm nichts zurück­er­stat­tet, und Arvid beginnt an der Strahl­kraft der Innen­räu­me Euro­pas zu zwei­feln. Als er am Abend in sein Schlaf­zim­mer tritt, grinst der Fleck ihn schon von Wei­tem an. So geht das nicht! Er schafft das nicht! Er möch­te in Ruhe sei­nen Pyja­ma anzie­hen, sich end­lich wie­der ein­mal in Ruhe in der Nase boh­ren und sei­ne Zehen­nä­gel nach dem Schnei­den unters Bett keh­ren. Aber an der Wand sitzt der Fleck. Er starrt ihn an, ver­folgt jeden Hand­griff und ver­ur­teilt ihn für jedes win­zi­ge Staub­korn auf dem Boden. Arvid kann den Fleck lachen hören ‑laut! Er has­tet in die Küche, aber sogar dort ist das Lachen zu hören. Es dringt durch alle Wän­de und lässt das Haus erzit­tern. Kle­be­band! Bes­ser eine bekleb­te, als eine befleck­te Wand. Sorg­fäl­tig bedeckt er die dunk­le Stel­le und streicht sicher­heits­hal­ber noch ein­mal mit der rest­li­chen Far­be dar­über. Dop­pelt hält bes­ser! Er atmet tief durch. Gera­de hat er sich ins Bett gelegt und die Augen geschlos­sen, da hört er den Fleck lei­se spre­chen: „So schnell glaubst du mich los­wer­den zu kön­nen?“ Nein, nein! Die Ohren zuhal­ten, die Decke über den Kopf zie­hen, so tun, als sei er nicht zu Hau­se. Es hilft nichts. Der Fleck sitzt an gewohn­ter Stel­le und starrt ihn an. Er durch­schaut alles: Das Kle­be­band, die Woh­nung und am aller­schlimms­ten Arvid selbst.

Arvid liegt im Bett, der Fleck starrt ihn an. Ein Gedan­ke quält ihn: Wenn er ein kor­rek­ter Mensch ist, müss­te er doch auch kor­rek­te Wän­de haben. Schon wie­der lacht der Fleck. Er kann Arvids Gedan­ken lesen: „Kor­rekt? Seit wann bist du denn kor­rekt?“, ruft er tri­um­phie­rend. „Ich ken­ne all dei­ne Macken. Ich weiß vom Punk­te­py­ja­ma, vom Nase­boh­ren und den Zehen­nä­geln. Ich weiß, dass du ver­gisst, dei­ne Mut­ter anzu­ru­fen und dann lügst, du seist zu beschäf­tigt mit der Arbeit. Ich weiß vom Dating-Por­tal, von dei­nen Jugend­fo­tos, der Ent­täu­schung, wenn du die Frau­en nicht ins Bett bekommst, … ich…“ Stopp! Es ist uner­träg­lich, ein­fach unzu­mut­bar. Kei­ner kann so leben, sich die­sem stän­dig star­ren­den Blick aus­set­zen. Die­ser Fleck muss weg! Arvid rap­pelt sich auf und wirft die Bett­de­cke zur Sei­te. „Wir bei­de haben kei­nen Platz in die­ser Woh­nung!“, schreit er in Rich­tung Wand. „Dann geh doch, geh doch“, singt der Fleck fröh­lich. Im Punk­te­py­ja­ma stürmt Arvid die Kel­ler­trep­pe hin­un­ter. Unmög­lich jetzt noch Rück­sicht auf die Nach­barn zu neh­men. Das ist ein Not­fall! Sein Ziel ist Schwei­gen. Ihm bleibt nur noch eins: Den Fleck ver­nich­ten, bevor der Fleck ihn ver­nich­tet. Ein Kampf, auf Leben und Tod.

Als er mit dem Vor­schlag­ham­mer vor ihm steht, ist dem Fleck das Lachen plötz­lich ver­gan­gen. Er weiß was jetzt kommt und will, dass Arvid ihn begna­digt. Er schluchzt laut auf, ver­sucht es mit Augen­zwin­kern und trau­ri­gen Bli­cken. Jetzt kom­men die Ver­spre­chun­gen: „Ich tu’s auch nie wie­der!“ Aber das wird ihm nicht hel­fen. Jedes Bit­ten kommt zu spät, Arvid lässt sich nicht erwei­chen. Mit dem Ham­mer zielt er auf die Stel­le, an der sich der Übel­tä­ter wie eine Zecke in die Wand krallt.

Nao­mi Marie Mebus, gebo­ren 1996, abso­li­ver­te nach ihrem Abitur einen ein­jäh­ri­gen Frei­wil­li­gen­dienst an einer Musik­schu­le in Ecua­dor. Seit Okto­ber 2015 stu­diert sie Euro­päi­sche Kul­tur­ge­schich­te und Deutsch als Zweit- und Fremd­sprach in Augs­burg. Ihre ers­ten Schreib­ver­su­che unter­nahm sie bereits in der Grund­schu­le, doch erst seit ihrer Auf­nah­me bei der Baye­ri­schen Aka­de­mie des Schrei­bens beschäf­tigt sie sich inten­siv mit ihrem lite­ra­ri­schen Schreiben.