Hundstage

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von Julia Wehrmann


Sie nahm Anlauf und tauch­te kopf­über ins Was­ser. Es war eis­kalt. Für einen Augen­blick hör­te sie nichts als ihren eige­nen Herz­schlag und das Gur­geln des Flus­ses. Sie mach­te ein paar kräf­ti­ge Züge, bevor ihre Lun­ge zu bren­nen begann. Als sie die Ober­flä­che durch­brach, war sie geblen­det. Das Was­ser um sie her­um glit­zer­te in der Son­ne. Abge­se­hen von den Fabrik­schlo­ten und dem Wehr ein gutes Stück fluss­auf­wärts erin­ner­te es sie ein biss­chen an das Meer vor der fran­zö­si­schen Küs­te, wo sie frü­her die Som­mer mit ihren Eltern ver­bracht hatte.

Lukas saß am Ufer. Vom Was­ser aus war er kaum mehr als ein dunk­ler Fleck auf wei­ßen Kie­sel­stei­nen. Er hat­te ein klei­nes Feu­er gemacht. In einer Hand hielt er einen Stock. Fun­ken sto­ben, wenn er damit in der Glut sto­cher­te. In der ande­ren hat­te er ein Buch, mit dem er den win­zi­gen Flam­men Luft zufä­chel­te. Dunk­le Rauch­schwa­den stie­gen aus dem Treib­holz­hau­fen auf und zogen auf den Fluss hinaus.

Wäh­rend sie ihn vom Was­ser aus betrach­te­te, fühl­te sie sich, als wäre sie wie­der fünf­zehn. Damals hat­te sie ihre Pau­sen damit ver­bracht, ihn über den Schul­hof hin­weg zu beob­ach­ten. Sie hat­te ihn beob­ach­tet wie ein Tier im Zoo. Wie eine uner­forsch­te Spe­zi­es, die der Wis­sen­schaft Rät­sel auf­gab. Die ihr Rät­sel auf­gab. Er stand immer mit den ande­ren Älte­ren in der Rau­cher­ecke. Wenn ihre Freun­din­nen frag­ten, wen sie anstarr­te, nann­te sie jedes Mal einen ande­ren Namen. Nur nie­mals sei­nen. Sie hät­ten nicht ver­stan­den, was sie an Lukas fand. Er war anders als die, für die sich all die ande­ren Mäd­chen inter­es­sier­ten. Sie inter­es­sier­ten sich für die, die um jeden Preis ver­such­ten auf­zu­fal­len. Für die, die zu laut waren und zu grob, zu durch­schau­bar, zu lang­wei­lig. Lukas war anders. Er war beson­ders. Er war per­fekt. Lukas ver­such­te nicht auf­zu­fal­len. Im Gegen­teil: Ihm schien das bana­le Schul­hof­le­ben um sich her­um egal zu sein. Sie schien ihm egal zu sein, noch mehr als alles ande­re. Natür­lich war sie das. Sie war nur irgend­ein Mädchen.

Lukas sah erst auf, als sie schon fast vor ihm stand. Sein Blick wan­der­te an ihr empor. Sie glaub­te fast, ihn auf der Haut zu spü­ren. Sei­ne Augen blie­ben an einem Was­ser­trop­fen hän­gen, der sich aus ihrem Haar gelöst hat­te und lang­sam ihren Kör­per hin­ab­rann. Sie war es gewohnt, so ange­se­hen zu wer­den. Von Frem­den im Club, von Freun­den im Frei­bad. Allen gefiel, was sie sahen. Ihr gefie­len die Bli­cke. Sie freu­te sich dar­über, fühl­te sich bestä­tigt, aber es bedeu­te­te ihr nichts. Kei­ner die­ser Typen, die sie alle mit Leich­tig­keit haben könn­te, wenn sie woll­te, inter­es­sier­te sie. Wenn er sie so ansah, war das mehr wert, als die Bli­cke aller ande­ren. Dar­auf hat­te sie so lan­ge gewar­tet. Alle ihre Schul­hof­tag­träu­me hat­ten sich dar­um gedreht. Dass er ein­mal den Kopf wand­te und sie ansah.

Sie ließ sich neben Lukas nie­der, wand­te sich ihm zu. Sie konn­te die Som­mer­spros­sen auf sei­nem Nasen­rü­cken zäh­len, so nah war sie ihm. Damals auf dem Schul­hof hat­te sie nicht gewusst, dass er wel­che hat­te. Sie hat­te sich nicht träu­men las­sen, dass sie ihm jemals wirk­lich nah genug kom­men wür­de, um es her­aus­zu­fin­den. Sie hat­te es sich aus­ge­malt, natür­lich, aber sie hat­te nicht dar­an geglaubt. Nach­dem er eines Tages ein­fach weg gewe­sen war, hat­te sie nicht ein­mal damit gerech­net, ihn jemals wie­der­zu­se­hen. Dann war sie ihm an einem hei­ßen Mai­nach­mit­tag genau an der Stel­le, an der sie nun saßen, begeg­net. Das war jetzt mehr als drei Mona­te her. Betrun­ken von der Hit­ze und der ers­ten Grill­par­ty des Jah­res war sie ihm in die Arme gelau­fen. Sie hat­te ihn sofort wie­der­erkannt. Er war vor einem klei­nen Zelt geses­sen. Es war dun­kel­grün und ver­schmolz fast mit den Sträu­chern zwi­schen denen es stand. Dane­ben war eine Schnur gespannt. Ein paar Klei­dungs­stü­cke flat­ter­ten dar­an wie klei­ne Fähn­chen. Eine Sze­ne, wie aus einem Abenteuerroman.

»Du kommst mir irgend­wie bekannt vor«, hat­te er gesagt. Er blin­zel­te von unten zu ihr her­auf. An einem dün­nen Stock hat­te er einen klei­nen Fisch auf­ge­spießt. Er briet ihn über dem offe­nen Feu­er. Es roch köstlich.

»Du mir auch«, hat­te sie geant­wor­tet und sich neben ihn gesetzt. Sie wuss­te, das war ihre Chan­ce. Und sie wür­de sie nut­zen. Sie hat­te sie genutzt.

»Ich ster­be vor Hun­ger.« Sie schlang ihr nas­ses Haar zu einem Kno­ten auf ihrem Kopf.

Lukas lächel­te. Wenn Lukas lächel­te, tauch­ten die­se klei­nen Grüb­chen auf sei­nen Wan­gen auf. Wenn er lächel­te, hat­te sie das Gefühl, einen Blick auf den wirk­li­chen Lukas zu erha­schen. Da war noch so viel, das sie bis­her nicht zu Gesicht bekom­men hat­te. Da waren noch gan­ze Wel­ten, deren Exis­tenz sie nicht ein­mal ahn­te. Wel­ten, aus denen er sie aus­sperr­te. Manch­mal brann­te sie dar­auf, einen Blick hin­ter die Mau­ern zu wer­fen. Manch­mal woll­te sie wis­sen, was er dach­te, was er fühl­te in jeder ein­zel­nen Minu­te. Was er tat, wenn sie nicht da war; wenn sie nach ein paar gemein­sa­men Stun­den zurück­ging. Zurück zu ihren Klau­sur­vor­be­rei­tun­gen, zu ihren Sport­stun­den, zu ihren Eltern. Zurück in ihre Rea­li­tät. Wie es kam, dass er in die­sem Zelt am Fluss leb­te, immer noch, mit nicht viel mehr als einem Ruck­sack vol­ler Hab­se­lig­kei­ten. Manch­mal frag­te sie ihn danach. Manch­mal ant­wor­te­te er. Aber sei­ne Ant­wor­ten waren immer nur schö­ne Wor­te. Das wuss­te sie und das wuss­te er. Des­halb frag­te sie meis­tens nicht. Meis­tens woll­te sie es nicht wis­sen. Zu viel zu wis­sen wür­de alles ändern. Es wür­de das ändern, was sie jetzt hat­ten. Aber das, was sie jetzt hat­ten, war gut so. Es gab nur das Hier und Jetzt, nur sie bei­de und die­sen nie­mals enden­den Som­mer. Lager­feu­er­ro­man­tik und Frei­heit unter dem end­los blau­en Him­mel. Alles ande­re spiel­te kei­ne Rol­le. 

Lukas leg­te das Buch zur Sei­te. Jack Lon­don. Es lag immer neben ihm, wenn er dort am Ufer saß, auf­ge­klappt, mit den zer­fled­der­ten Sei­ten nach unten. Manch­mal las er dar­in, aber meis­tens lag es ein­fach nur da. Er muss­te es bereits aus­wen­dig kön­nen. Sie selbst glaubt schon, es aus­wen­dig zu kön­nen, dabei hat­te sie es noch nie ange­rührt. Sie sah es immer nur dort liegen.

Lukas hat­te Kar­tof­feln im Feu­er gegart. Die­ses Mal waren sie kaum grö­ßer als Wal­nüs­se. Er hol­te sie umständ­lich mit sei­nem Stock aus der Glut. »Die müss­ten schon durch sein. Aber schau sie dir lie­ber noch mal an, wenn du sie geschält hast. Ein paar von denen hat­ten schon Trie­be. Ich hab sie abge­bro­chen, aber kei­ne Ahnung wie tief die schon nach innen gin­gen. Schneid ein­fach alles ab, was komisch aussieht.«

Sie rühr­te die Kar­tof­feln nicht an. »Ich hab ein paar Sachen von Zuhau­se mit­ge­bracht«, sag­te sie. Sie kram­te in ihrer Ten­nis­ta­sche. Seit Mona­ten ver­ließ sie das Haus kaum ohne ihre Ten­nis­ta­sche. Nur zum Ten­nis ging sie nie. Aber das wuss­te nie­mand. Außer Lukas. »Ist aber nicht beson­ders viel. Mei­ne Mut­ter hat ver­ges­sen ein­kau­fen zu gehen.«

Ihre Hän­de streif­ten sich, als sie ihm das Glas reich­te. Sei­ne Fin­ger waren lang und schmal wie die eines Kla­vier­spie­lers. Das war ihr schon oft auf­ge­fal­len, doch sie hat­te ihn noch nie gefragt, ob er es kön­ne. Klavierspielen.

»Dei­ne Eltern hat­ten nur noch Würst­chen und Scho­ko­la­de auf Vor­rat?« Sie sah ihm an, dass er ihr nicht glaub­te. Sie sah es an der Art und Wei­se, wie er die Stirn run­zel­te, wie sich die Haut über sei­nen Kie­fer­mus­keln spann­te. Er glaub­te, sie brach­te ihm immer nur das mit, was ihre Eltern nicht ver­mis­sen wür­de: eine Packung Kek­se, ein Glas Essig­gur­ken, ein paar Stü­cke übrig­ge­blie­be­ne Piz­za. Er hat­te recht. Sie pack­te stets die Din­ge ein, die schon eine Wei­le unbe­ach­tet im Kühl­schrank oder in der Spei­se­kam­mer her­um­stan­den. Es war nie beson­ders viel. Sie woll­te nicht das Ver­schwin­den von Lebens­mit­teln recht­fer­ti­gen müs­sen. Sie woll­te Lukas nicht recht­fer­ti­gen müs­sen. Lukas und ihr All­tag, das waren zwei Uni­ver­sen, die nur unab­hän­gig von­ein­an­der exis­tie­ren konn­ten. Trä­fen sie auf­ein­an­der, wür­de min­des­tens eines beim Zusam­men­stoß zer­fal­len. Sie fürch­te­te, dass das Lukas‘ Uni­ver­sum sein wür­de. Lukas‘ und ihres. Das konn­te sie nicht ris­kie­ren. Des­halb durf­te es sich auf kei­nen Fall aus­deh­nen. Es muss­te genau hier am Fluss blei­ben, klein und kom­pakt, wie eine Sei­fen­bla­se, ohne Berüh­rungs­punk­te mit all dem da drau­ßen. In Sicherheit.

Lukas leg­te die Tafel Scho­ko­la­de und das Glas mit den Würst­chen zur Sei­te. »Dan­ke«, sag­te er. Sein Lächeln war schon lan­ge wie­der ver­blasst. Statt­des­sen war die­ser Ernst in sein Gesicht zurück­ge­kehrt. Die­se Fins­ter­nis, die ihn älter aus­se­hen ließ als er wirk­lich war und so, als trü­ge er Din­ge mit sich her­um, von denen nie­mand wuss­te. Und von denen nie jemand erfah­ren sollte.

Irgend­wo wei­ter fluss­auf­wärts lief Musik. Viel­leicht waren es Freun­de von ihr, die dort bil­li­ges Fleisch grill­ten, Shi­sha rauch­ten und Cola-Rum aus Plas­tik­fla­schen tran­ken. So wie jedes Wochen­en­de. Das war ihr Som­mer, ihre Frei­heit – nur eine hal­be Stun­de mit dem Rad von der Stadt und doch so weit weg vom All­tag. Viel­leicht wür­de sie auf ein Bier vor­bei­schau­en, bevor sie nach Hau­se ging. Viel­leicht aber auch nicht. Der blo­ße Gedan­ke an das end­lo­se In-der-Son­ne-dösen, das Schä­kern im Was­ser, das Krei­schen der ande­ren Mäd­chen lang­weil­te sie. Das war nicht mehr ihre Welt. Lukas war ihre Welt. Sie hat­te ein ganz neu­es Level erreicht.

Lukas hat­te eine Kar­tof­fel mit einer Blech­ga­bel auf­ge­spießt. Mit sei­nem Taschen­mes­ser häu­te­te er sie, Stück für Stück. Die Scha­len­fet­zen warf er ins Feu­er, wo sie lang­sam ver­glimm­ten. Als er die ers­te Kar­tof­fel geges­sen hat­te, wie­der­hol­te er die Pro­ze­dur mit der nächs­ten. Sie sah ihm dabei zu. Er ach­te­te nicht dar­auf, ob die Kar­tof­feln komisch aus­sa­hen. Er aß sie ein­fach. Sie selbst aß nicht. Das Grum­meln in ihrem Bauch hat­te sich schon lan­ge wie­der gelegt. Für alte Kar­tof­feln war sie nicht hung­rig genug. Das war sie nie. Auch wenn sie manch­mal so tat. Lukas fiel nicht auf, ob sie so tat oder nicht, ob sie aß oder nicht. Das tat es nie. Oder er zeig­te es nie. Aber das war ihr nur recht. Sie wür­de sich auf dem Nach­hau­se­weg irgend­wo etwas holen. Viel­leicht asiatisch.

Lukas sah auf den Fluss hin­aus. Sie folg­te sei­nem Blick. Er beob­ach­te­te ein klei­nes Stück Treib­holz, das gemäch­lich an ihnen vor­bei­zog wie ein win­zi­ges Boot. Über dem trä­ge dahin­flie­ßen­den Was­ser erstreck­te sich der wol­ken­los blaue August­him­mel. Ein leich­ter Wind mach­te die nach­mit­täg­li­che Hit­ze erträg­lich. Es war ein Tag wie aus dem Bil­der­buch. Ein Som­mer wie aus dem Bil­der­buch. Doch Lukas schien all das nicht wirk­lich zu sehen. Er sah irgend­et­was ande­res. Er sah etwas, das sie nicht sah. Und das sie viel­leicht auch gar nicht sehen woll­te. »Immer wenn ich hier sit­ze, mit dir, und auf‘s Was­ser schaue, wünsch­te ich, ich könn­te die Zeit anhal­ten«, sag­te sie. »Ich wünsch­te, ich müss­te nie wie­der zurück. Ich wünsch­te, wir könn­ten ein­fach für immer hier blei­ben. Die Son­ne genie­ßen, das Was­ser, das Leben. So stel­le ich mir das Para­dies vor.«

Lukas leg­te sei­ne Gabel zur Sei­te, ganz lang­sam und sorg­fäl­tig, mit den Zin­ken nach unten. Dann wand­te er den Kopf und sah sie an. Er sah sie lan­ge an. Er hat­te schö­ne Augen. Braun mit einem Stich ins Grü­ne. Wie ein Teich im Wald. Einer, von dem nie­mand wuss­te, wie tief er war. Nur, dass es weit hin­un­ter­ging. Je län­ger er sie ansah, des­to mehr ver­schwamm alles um ihn her­um, alles was nicht Lukas war. Sie droh­te in sei­nen Augen zu ver­sin­ken. Wie immer, wenn sich ihre Bli­cke tra­fen. Schließ­lich schüt­tel­te er den Kopf. Die­ses Kopf­schüt­teln ließ ihre Bla­se plat­zen. Noch bevor er ein Wort über sei­ne Lip­pen gekom­men war. »Ich kann es kaum erwar­ten, von hier weg­zu­kom­men«, sag­te er.

Julia Wehr­mann wur­de 1994 in Ober­bay­ern gebo­ren und ist dort auch auf­ge­wach­sen. Nach dem Abitur leis­te­te sie ein Frei­wil­li­ges Sozia­les Jahr in einer Werk­stät­te für Men­schen mit geis­ti­ger Behin­de­rung. Mit die­ser Ein­rich­tung steht sie noch immer in engem Kon­takt: In ihrer Frei­zeit beglei­tet sie Aus­flü­ge und Urlaubs­fahr­ten. Vor kur­zem schloss sie ihr Bache­lor­stu­di­um der Kul­tur- und Poli­tik­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät Regens­burg ab. Ihre Kurz­ge­schich­te ent­stand im Rah­men eines Semi­nars der Baye­ri­schen Aka­de­mie des Schreibens.