Unvergleichliche Vergleiche

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Juli Zehs bilderreiche Sprache

Kaum eine ande­re Autorin ihrer Gene­ra­ti­on ist so umstrit­ten wie Juli Zeh. Der Zank­ap­fel ist ihre ‘bil­der­rei­che Spra­che’. Hym­ni­sche Lob­prei­sun­gen und hys­te­ri­sche Ver­ris­se wech­seln ein­an­der ab in der Reak­ti­on auf ihre Roma­ne. Letzt­lich hal­ten sie ein­an­der wohl die Waa­ge. Ihr Augen­merk rich­ten die Rezen­sen­ten haupt­säch­lich auf zwei­er­lei: Span­nung und Sprach­stil. Ers­te­res geste­hen sie Zehs Roma­nen unein­ge­schränkt zu, hin­sicht­lich des Stils schei­den sich jedoch die Geis­ter. Als “eine ganz unge­wöhn­lich begab­te Schrift­stel­le­rin” bezeich­net sie Ulrich Grei­ner in sei­ner Rezen­si­on zu ihrem zwei­ten Roman Spiel­trieb (2004), der ihn eben­so über­zeugt wie Zehs Erst­ling Adler und Engel (2001): “Es ist erstaun­lich, es ist bewun­derns­wert, wie die gera­de mal drei­ßig Jah­re alte Schrift­stel­le­rin auf sämt­li­chen Pfer­den einer durch­trai­nier­ten Spra­che und eines hoch gebil­de­ten Scharf­sinns ihre Geschich­te über 500 Sei­ten durchs Ziel jagt, eine Geschich­te, wie sie unge­müt­li­cher nicht sein kann.” ((Ulrich Grei­ner, “Das Zeit­al­ter der Fische”, Rezen­si­on zu Juli Zehs Roman Spiel­trieb, erschie­nen in Die Zeit am 21.10.2004 und auf Zeit Online [Stand: 13.3.2008]. Es lohnt sich, die­se Rezen­si­on auch wegen Grei­ners klu­gen ein­füh­ren­den Bemer­kun­gen zum The­ma des Romans, auf das in mei­nem Auf­satz nicht ein­ge­gan­gen wer­den kann, zu lesen.)) So anste­ckend ist ihre viel­the­ma­ti­sier­te ‘meta­phern­rei­che Spra­che’, dass sich der Rezen­sent selbst zum bild­haf­ten Aus­druck hin­rei­ßen lässt. Sei­ne (völ­lig kri­tik­lo­se) ‘Kri­tik’ imi­tiert Zehs Kunst — das gilt nicht nur für die­sen Kri­ti­ker. Auf den Zeh hier attes­tier­ten Scharf­sinn wird spä­ter noch ein­ge­gan­gen, spielt die­ser doch gera­de beim Ersin­nen von Ver­glei­chen und Meta­phern eine wich­ti­ge Rol­le. Was den einen zu recht beein­druckt, ist für ande­re zu viel des Guten. Den­noch ver­an­lasst es auch Ste­phan Maus, in des­sen Augen Adler und Engel “ein per­fekt gebau­ter, span­nungs­ge­la­de­ner Schmö­ker” ist, der das “obses­si­ve Ter­ti­um Com­pa­ra­tio­nis” gar nicht nötig habe, selbst imi­ta­tiv dem Kom­pa­ra­tiv zu ver­fal­len: “Wenn das Wört­chen ‘wie’ nicht wäre, wür­den Adler und Engel abstür­zen wie, wie, wie… Ika­rus? Ver­glü­hen­de Meteo­ri­ten? Beim nächs­ten Roman soll­te die ver­gleichs­wü­ti­ge Juli Zeh die rhe­to­ri­sche Effekt­pe­da­le viel­leicht um ein, zwei Zusatz­mo­du­le erwei­tern.” ((Ste­phan Maus, “Im Rah­men des Lehr­plans”, Rezen­si­on zu Juli Zehs Roman Adler und Engel, erschie­nen in der Frank­fur­ter Rund­schau am 8.9.2001 und auf Lyrikkwelt.de [Stand: 13.3.2008].)) So kon­ven­tio­nell wie die Ver­glei­che des Kri­ti­kers sind die­je­ni­gen von Zeh eben gera­de nicht. Und auch nicht so unbe­dacht gewählt. Maus hat die Aus­wir­kun­gen des Meteo­ri­ten unter­schätzt: Denn, abge­se­hen von dem Leuch­ten, das er erzeugt, schlägt er mäch­tig ein und hin­ter­lässt einen tie­fen Kra­ter. An Effekt­po­ten­zi­al man­gelt es ihm jeden­falls nicht. Wäh­rend Maus genau genom­men gar nicht weni­ger, son­dern noch mehr, aber verschieden­artiges rhe­to­ri­sches Ornat for­dert, hat Zeh nach Mei­nung von Mat­thi­as Rüb jedes Maß über­schrit­ten. Die viel­ge­lob­ten Sprach­fer­tig­kei­ten der Autorin hält er für begrenzt: “Der Erzähl­ha­bi­tus kommt zwar ober­cool daher. Doch in Wahr­heit ist die von Meta­phern gera­de­zu über­wu­cher­te Spra­che unge­lenk bis pein­lich.” ((Mat­thi­as Rüb, “Ver­koks­te Road­show”, Rezen­si­on zu Juli Zehs Roman Adler und Engel, erschie­nen in der Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung am 09.10.2001 und auf Buecher.de [Stand: 13.3.2008].)) Als Bei­spiel für einen von zu vie­len unori­gi­nel­len Ver­glei­chen zitiert er den fol­gen­den: “Von drau­ßen preßt die Nacht ihre glat­te schwar­ze Haut gegen die Fens­ter­schei­be.” ((Die im Fol­gen­den dis­ku­tier­ten Bei­spie­le stam­men aus: Adler und Engel, [Frank­furt a.M. 2001] Mün­chen 2003 (fort­an zitiert als Adler); Die Stil­le ist ein Geräusch, [Frank­furt a.M. 2002] Mün­chen 2003 (fort­an zitiert als Stil­le); Spiel­trieb, [Frank­furt a.M. 2004] Mün­chen 2006 (fort­an zitiert als Spiel).)) (Adler 67) Rübs Kri­tik weiß sich nicht prä­zi­ser aus­zu­drü­cken, als Zehs Stil als “ver­schärft expres­siv” anzu­pran­gern — ein Eti­kett, das eben­so neu­tral oder posi­tiv kon­no­tiert sein könn­te. Zur Begrün­dung sei­nes über­aus posi­ti­ven Urteils führt der oben zitier­te Ulrich Grei­ner in sei­ner Rezen­si­on mit­un­ter jene Wor­te aus Spiel­trieb an: “Ada zog den Blick aus sei­nem [Alevs] Gesicht wie ein Mes­ser aus einem Stück But­ter, […].” (Spiel 130) Die viel­leicht pro­mi­nen­tes­te Kri­tik an der­art ‘ent­le­ge­nen Ver­glei­chen’ stammt von Nietz­sche: “Wenn die gewag­ten Ver­glei­chun­gen nicht Bewei­se vom Mut­wil­len des Schrift­stel­lers sind, so sind sie Bewei­se sei­ner ermü­de­ten Phan­ta­sie. In jedem Fal­le aber sind sie Bewei­se sei­nes schlech­ten Geschma­ckes.” ((Fried­rich Nietz­sche, “Gewag­te Ver­glei­chun­gen”, in: Mensch­li­ches, All­zu­mensch­li­ches. Ein Buch für freie Geis­ter, Bd. II, Zwei­te Abtei­lung, Der Wan­de­rer und sein Schat­ten,139.)) Was ist es, was die Kri­ti­ker an den Ver­glei­chen in Zehs Pro­sa so sehr reizt, sei es zum Lob oder zum Ver­riss? Zwei­fels­oh­ne las­sen sich Ge- und Miss­fal­len nicht allein durch Maß bzw. Maß­lo­sig­keit in der Ver­wen­dung der rhe­to­ri­schen Figur erklä­ren. Es ist die spe­zi­fi­sche Art ihres Ver­glei­chens, oder, offe­ner for­mu­liert, ihres bild­li­chen Spre­chens, die für Auf­se­hen sorgt. Die bei­den bis­her zitier­ten Bei­spie­le geben Sin­nes­wahr­neh­mun­gen wie­der, das eine Mal wird der Erzähl­in­stanz bewusst, dass es drau­ßen längst Nacht gewor­den ist, das ande­re Mal beob­ach­tet sie den Blick­kon­takt bei einer signi­fi­kan­ten Begeg­nung zwei­er Figu­ren. Ein­mal wird ein all­täg­li­cher atmo­sphä­ri­scher Zustand per­so­ni­fi­ziert bzw. anthro­po­mor­phi­siert und dadurch ein sub­jek­ti­ver Ein­druck ver­mit­telt, ein ande­res Mal wird ein Hand­lungs­vor­gang (das Abwen­den eines Bli­ckes), der rea­li­ter allen­falls den Bruch­teil einer Sekun­de dau­ert, durch die ‘wie’-Konstruktion mit einem ande­ren all­täg­li­chen, allen ver­trau­ten Vor­gang ver­gli­chen, den wohl sonst nie­mand als ter­ti­um com­pa­ra­tio­nis gewählt hät­te. Obwohl man dies­be­züg­lich wohl gemein­hin von einem ‘ent­le­ge­nen Ver­gleich’ spre­chen wür­de, erfüllt er sei­nen Zweck, die­ses Abwen­den des Bli­ckes näher zu charakterisieren.

“Am Hang ballen sich Schafe zusammen und sehen aus wie schmutzige Wolken” — Vergleich und Metapher

Die rhe­to­ri­schen Figu­ren, die Kri­ti­ker in Rezen­sio­nen zu Zehs Roma­nen glei­cher­ma­ßen häu­fig und stets undif­fe­ren­ziert als ‘Meta­phern’ und ‘Ver­glei­che’ bezeich­nen, ver­die­nen eine genaue­re Betrach­tung — weil sie jene Ele­men­te sind, die für ihren ‘Stil’ ver­ant­wort­lich gemacht wer­den. Ver­gleich und Meta­pher sind Sprach­bil­der glei­chen Ursprungs, doch kei­nes­wegs ein und das­sel­be. Ein Ver­gleich ist das sprach­li­che Neben­ein­an­der-Stel­len oder Ver­knüp­fen zwei­er min­des­tens in einem Punkt ähn­li­cher Ele­men­te aus getrenn­ten Sphä­ren, wobei trotz Unter­schie­den auch Ähn­lich­kei­ten erkenn­bar wer­den sol­len. ((Vgl. G. Schenk/A. Krau­se, “Ver­gleich”, in: His­to­ri­sches Wör­ter­buch der Phi­lo­so­phie, hg. v. Joa­chim Rit­ter u.a., Bd. 11, Basel 2001, S. 675–679; Fritz Peter Knapp, “Ver­gleich”, in:
Real­le­xi­kon der deut­schen Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, S. 755–757, hier 755; sowie Hein­rich Laus­berg, “simi­le (§§400–406)”, in: Ele­men­te der lite­ra­ri­schen Rhe­to­rik, 10. Aufl. Mün­chen 1990, S. 132.)) Er besteht aus den ver­gli­che­nen Ele­men­ten (
com­pa­ra­ta) und einem Ver­gleichs­be­zug, dem ter­ti­um com­pa­ra­tio­nis. Ver­gli­chen wer­den Eigen­schaf­ten, Zustän­de, Vor­gän­ge und Hand­lun­gen, indem die so genann­te ‘Grund­vor­stel­lung’ und die ‘Ver­gleichs­vor­stel­lung’ syn­tak­tisch expli­zit ent­we­der durch Ver­gleichs­par­ti­kel (‘wie’ oder ‘als’) oder durch ein Ver­bum des Schei­nens bzw. Glei­chens ver­bun­den wer­den. Um dies mit einem Bei­spiel von Juli Zeh zu illus­trie­ren: “Im Ein­gang ruht eine wei­ße Hun­de­da­me mit zwei brau­nen Fle­cken im Gesicht, als trü­ge sie eine gro­ße Son­nen­bril­le aus den sech­zi­ger Jah­ren.” (Stil­le 204) Der Ver­gleichs­be­reich kann, wie hier, meh­re­re, oft hypo­the­ti­sche Sät­ze umfas­sen oder sich auf ein Wort beschrän­ken. Die Grund­in­ten­ti­on des Ver­gleichs ist, so schon in der grie­chi­schen Gram­ma­tik, die Dar­stel­lung einer unbe­kann­ten Sache mit Hil­fe einer bekann­ten. ((Nach Cice­ros
Rhe­to­ri­ca ad Her­en­ni­um ist der Ver­gleich “eine Rede, die auf irgend­ei­ne Sache von einer ande­ren etwas Ver­gleich­ba­res über­trägt” (“Simil­tu­do est ora­tio tra­du­cens ad rem quam­piam ali­quid ex re dis­pa­ri simi­le”) IV,45.59.)) Umkom­pli­ziert ist die Unter­schei­dung von Ver­gleich und Meta­pher, wenn man letz­te­re als ver­kürz­ten Ver­gleich ansieht, in dem das zu Ver­glei­chen­de (die Grund­vor­stel­lung oder das
ver­bum pro­pri­um) nicht mehr erwähnt, son­dern sub­sti­tu­iert wird, ((Vgl. Hein­rich Laus­berg, “meta­pho­ra (§§ 228–231)”, in: Ele­men­te der lite­ra­ri­schen Rhe­to­rik, 10. Aufl. Mün­chen 1990, S.78.)) wie hier in Zehs Die Stil­le ist ein Geräusch: “Das Gebrüll einer Motor­sä­ge schnei­det schon seit Stun­den mei­nen Schlaf in Schei­ben.” (250) Die Refe­renz die­ser Form der unei­gent­li­chen Rede muss über den Kon­text und die Spre­cher-Inten­ti­on erst erschlos­sen wer­den. Meta­pho­ri­scher und expli­zit kom­pa­ra­ti­ver Aus­druck kön­nen frei­lich auch mit­ein­an­der kom­bi­niert auf­tre­ten: “Am Hang bal­len sich Scha­fe zusam­men und sehen aus wie schmut­zi­ge Wol­ken.” (
Stil­le 63) Gra­du­ell kann man dif­fe­ren­zie­ren zwi­schen dem par­ti­el­len Ver­gleich (‘Die wol­li­gen Kör­per der Scha­fe gli­chen schmut­zi­gen Wol­ken’) und dem tota­len Ver­gleich (‘Die Scha­fe waren Wol­ken’) sowie der iden­ti­fi­zie­ren­den (‘die Scha­fe, schmut­zi­ge Wol­ken, …’) und sub­sti­tu­ie­ren­den Meta­pher (‘Schmut­zi­ge Wol­ken stan­den im Hang…’), wobei der Meta­phern­be­griff meist auf den sub­sti­tu­ie­ren­den ein­ge­schränkt ist. Das Real­le­xi­kon unter­schei­det zwi­schen unei­gent­li­chen, bild­haf­ten Ver­glei­chen wie den oben ange­führ­ten und bild­lo­sen Ver­glei­chen, die bei­spiels­wei­se lau­ten könn­ten: ‘Ein Schaf ist wie das ande­re’ oder ‘die Hün­din hat weni­ger brau­ne Fle­cken im Gesicht als ihr Wel­pe’. Besag­te Unter­schei­dung war in der latei­ni­schen Gram­ma­tik ange­legt durch die Dif­fe­ren­zie­rung des Ober­be­griffs
com­pa­ra­bi­le bzw. simi­le in die Unter­ar­ten col­la­tio (com­pa­ra­tio), exemp­lum und
ima­go. Der bild­haf­te Ver­gleich ver­dan­ke “sei­ne sti­lis­ti­sche Funk­ti­on gera­de der essen­ti­el­len Ver­schie­den­heit der nicht anein­an­der­gren­zen­den Vor­stel­lungs­sphä­ren.” ((Fritz Peter Knapp, “Ver­gleich”, in: Real­le­xi­kon der deut­schen Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, Bd. III, Wei­mar 2003, S. 755–757, hier 755.)) In Kri­ti­ken zu Zehs Roma­nen wird ange­sichts der Ver­wen­dung von Meta­phern und Ver­glei­chen oft von ‘bild­haf­ter Spra­che’ gespro­chen: Dies ist gän­gig — schon Aris­to­te­les ver­wen­de­te den Begriff ‘Bild’ (eikón) für den Ver­gleich ((Vgl. Aris­to­te­les, Rhe­to­rik, 1406b 20–22; 1407a 14–15; 1410b16. Vgl. auch Hen­drik Birus, “Meta­pher” in Real­le­xi­kon der deut­schen Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, Bd. II, Wei­mar 2000, S. 572.)) -, aber nicht unpro­ble­ma­tisch, wird der Bild­be­griff dabei doch selbst meta­pho­risch ver­wen­det. In der anti­ken Rhe­to­rik sind die Meta­pher als eine der Tro­pen sowie auch der Ver­gleich als eine der figu­rae fes­te Bestand­tei­le des
Orna­tus, die aller­dings gern in den Dienst der Beweis­füh­rung gestellt wer­den, näm­lich als Mit­tel der ampli­fi­ca­tio, also um einem Argu­ment Gewicht zu ver­lei­hen. Der Ver­gleich ist ein logi­scher Akt und zielt auf Erkennt­nis. Für einen gelun­ge­nen Ver­gleich sind Witz und Scharf­sinn nötig: um eben nicht com­pa­ra­ta auf­grund offen­sicht­li­cher Gemein­sam­kei­ten zu wäh­len, son­dern ent­fern­tes­te Ähn­lich­kei­ten zu ent­de­cken. Gelun­ge­ne Ver­glei­che beför­dern also nicht nur die Erkennt­nis über die com­pa­ra­ta, son­dern bele­ben die Ein­bil­dungs­kraft und die­nen der Belus­ti­gung — mit ande­ren Wor­ten: sie unter­hal­ten. Von Inter­es­se ist nun, ob es sich bei den Ver­glei­chen und Meta­phern in Juli Zehs Roma­nen um über­flüs­si­gen Schmuck han­delt, ob sie tat­säch­lich stil­bil­dend sind und wel­che Funk­ti­on sie in ihrem poe­ti­schen Pro­gramm erfüllen.

Das Spektrum der Sprachbilder in Zehs Prosa

Zehs “Meta­phern­er­güs­se” ((Mat­thi­as Rüb, “Ver­koks­te Road­show”, Rezen­si­on zu Juli Zehs Roman
Adler und Engel, erschie­nen in der Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung am 09.10.2001 und
auf Buecher.de [Stand: 13.3.2008].)) las­sen sich nicht sinn­voll erfas­sen und beur­tei­len, solan­ge man, alle ihre bis­lang erschie­ne­nen Bücher zusam­men­ge­nom­men, rund 2000 Sei­ten Text über­bli­cken will, wor­an man zwangs­läu­fig schei­tert. Es lohnt des­halb, die Viel­falt ver­suchs­wei­se zu ord­nen: nach dem jewei­li­gen ‘Gegen­stand’ (Mensch — Land­schaft und Natur­phä­no­me­ne — Abs­trak­ta), zu des­sen Cha­rak­te­ri­sie­rung jeweils ein Ver­gleich gesucht wird; nach dem Ver­gleichs­be­reich und schließ­lich nach Art und Funk­ti­on des Ver­gleichs. An reprä­sen­ta­ti­ven Bei­spie­len man­gelt es nicht. Eine fal­sche Vor­stel­lung bekä­me man aller­dings von Zehs Roma­nen — dies muss vor­ab gesagt sein -, wenn man sich die Ver­glei­che so dicht anein­an­der­ge­reiht vor­stellt, wie hier prä­sen­tiert. Tat­säch­lich sind sie luf­ti­ger in den Text ein­ge­webt. Mei­ne Col­la­ge ver­mit­telt einen ver­zerr­ten Ein­druck der Tex­te, da ich die ein­zel­nen Bil­der aus ihrem Kon­text her­aus­lö­se und Bezü­ge zu ande­ren her­stel­le, um ihre Spe­zi­fik eben­so wie ihre unsicht­ba­re Ver­net­zung zu zeigen.

Merkwürdige Menschen, filigrane Figuren

Par­ti­el­le oder tota­le Ver­glei­che, die mit einem ein­zel­nen Wort aus­kom­men und auf einen nahe­lie­gen­den Ver­gleichs­be­reich zurück­grei­fen, sind Juli Zeh zu sim­pel — soviel sei vorweg­genommen. Begin­nen wir mit par­ti­el­len Ver­glei­chen, die ein­zel­ne phy­si­sche und psy­chi­sche Eigen­schaf­ten sowie Hand­lun­gen der Prot­ago­nis­ten beschrei­ben und damit im Dienst der Figurencharakteri­sierung ste­hen. Der ers­te Satz des Romans
Adler und Engel lau­tet pro­gram­ma­tisch: “Sogar durch das Holz der Tür erken­ne ich ihre Stim­me, die­sen halb ein­ge­schnapp­ten Ton­fall, der immer klingt, als hät­te man ihr gera­de einen Her­zens­wunsch abge­schla­gen.” (
Adler 9) Nun wis­sen wir genau, wie man sich ihren Ton­fall vor­stel­len muss. Anstatt ihn mit einem gän­gi­gen Adjek­tiv wie ‘belei­digt’ oder ‘ent­täuscht’ zu kenn­zeich­nen, wird eine bekann­te Situa­ti­on sug­ge­riert. Wie hier die Stim­me, so wird an ande­rer Stel­le die zuneh­men­de Sprach­lo­sig­keit einer Figur aus der Per­spek­ti­ve einer ande­ren wahr­ge­nom­men: “Seit Wochen tropf­ten die Wör­ter nur noch ein­zeln aus ihr her­aus, und Smu­tek stand vor die­sem Schau­spiel wie einer, der duschen will und den Rohr­bruch im Kel­ler noch nicht bemerkt hat.” (
Spiel 299) Auch die­se Situa­ti­on kön­nen wir uns bes­tens vor­stel­len. Den­noch wür­de kaum einer den­sel­ben Ver­gleich wäh­len; der Vergleichs­bereich ist ver­traut und wirkt trotz­dem ent­le­gen. Zwei wei­te­re Bei­spie­le funk­tio­nie­ren auf ähn­li­che Wei­se. Auch sie beschrei­ben par­ti­ell die Prot­ago­nis­ten. Max wur­de am Tele­fon Zeu­ge des Selbst­mords sei­ner (ehe­ma­li­gen) Freun­din: Er muss­te mit­an­hö­ren, wie sich die­se eine Kugel in den Kopf jag­te. Abge­se­hen von einem Trau­ma hat er einen Trom­mel­fell­riss: “[…] mei­ne lin­ke Hand press­te ich gegen das lin­ke Ohr, von dem ich wuss­te, dass dar­in die Fet­zen mei­nes geplatz­ten Trom­mel­fells her­um­flat­ter­ten wie Vor­hän­ge an einem offe­nen Fens­ter.” (
Adler 13) Kann man die Ver­let­zung noch anschau­li­cher beschrei­ben und gleich­zei­tig die Abge­brüht­heit des Spre­chers demons­trie­ren? Er nähert sich dem vor Erschöp­fung kran­ken Mäd­chen (sei­ner zukünf­ti­gen Freun­din): “Ich muss mein […] Ohr vor ihre Lip­pen hal­ten, um sie zu ver­ste­hen. Dabei steigt mir ihr Atem in die Nase, er riecht wie das Blu­men­was­ser in einer Vase, aus der man gera­de die schlei­mi­gen Sten­gel eines drei Wochen alten Strau­ßes gezo­gen hat.” (
Adler 280) Dies­mal kein ent­le­ge­ner Ver­gleich, doch hät­ten ihn die meis­ten Autoren wohl auf zwei Wör­ter (‘[er riecht wie]
abge­stan­de­nes Blu­men­was­ser’) beschränkt und damit übli­cher Rede­kon­ven­ti­on ent­spro­chen. Juli Zeh aber wählt die aus­führ­li­che­re, kon­kre­te­re Vor­gangs­be­schrei­bung, die eine grö­ße­re Wir­kung auf das Nach­emp­fin­den des Lesers hat, zumal sie an der Ästhe­tik des Ekels par­ti­zi­piert. Zwei ande­re par­ti­el­le Ver­glei­che, die den Kör­per des Mäd­chens bzw. ein phy­si­sches Phä­no­men beschrei­ben, ver­las­sen den all­täg­li­chen situa­ti­ven Rah­men. So lau­tet die Selbst­be­ob­ach­tung des Mäd­chens: “Mir fällt plötz­lich auf, wie stark ich abge­nom­men habe, mei­ne Rip­pen wer­fen Schat­ten wie Berg­käm­me kurz vor Son­nen­un­ter­gang, mein Bauch ist kon­kav, die Knie wie eine Ansamm­lung von Kie­sel­stei­nen, die Waden Kabel­strän­ge.” (
Adler 184) Auch die­se Ket­te von par­ti­el­len Ver­glei­chen invol­viert bekann­te Ele­men­te, aus­ge­wählt auf­grund ihrer opti­schen Ähn­lich­keit zum Ver­gli­che­nen, doch sind die Zuord­nung der
com­pa­ra­ta und die Rei­hung unge­wöhn­lich. Die mensch­li­chen For­men eines ein­zi­gen Kör­pers wer­den zunächst mit einem Natur­phä­no­men, dann mit anor­ga­ni­schem sowie schließ­lich mit künst­li­chem Mate­ri­al kor­re­liert. Auf­grund der Ver­mi­schung hete­ro­ge­ner Ver­gleichs­be­rei­che wirkt das Ensem­ble merk­wür­dig inko­hä­rent — ein Effekt, der nicht the­ma­ti­siert, aber ver­mut­lich beab­sich­tigt ist, sieht man ihn im Kon­text von Ver­glei­chen, die von einem insta­bi­len Sub­jekt­ver­ständ­nis zeu­gen. Wie­der­um auf ande­re Wei­se unge­wöhn­lich ist eine Beschrei­bung des Mäd­chens, als es Nasen­blu­ten hat: “Das Taschen­tuch hing ihr aus der Nase und sah aus wie der aus­ge­ris­se­ne Flü­gel einer wei­ßen Tau­be. Wenn sie nick­te, war es, als wink­te sie mir damit zu.” (
Adler 314) Eher sel­ten sieht man im All­tag einen aus­ge­ris­se­nen Flü­gel einer wei­ßen Tau­be. Die Erzäh­ler­fi­gur ver­fügt offen­bar über gro­ße visu­el­le Ima­gi­na­ti­ons­kraft, zumal sie das Bild dyna­mi­siert und dem Mäd­chen dadurch eine bestimm­te Moti­va­ti­on unter­stellt. Die Absur­di­tät des Bil­des mag spon­tan Mit­leid bewir­ken oder ein Lächeln aus­lö­sen. Wer die­sen Ver­gleich nicht ‘schief’ fin­det, nennt ihn viel­leicht ‘poe­tisch’. Jeden­falls han­delt es sich um einen höchst sub­jek­ti­ven Ein­druck. Vom Wis­sen um die Wir­kungs­kraft ihrer Bil­der zeugt die Tat­sa­che, dass Zeh ihre ori­gi­nel­len Ver­glei­che gezielt plat­ziert, so am Ende eines Kapi­tels, das mit dem Ende eines Tages zusam­men­fällt: “Ihr hel­ler Kopf lag ein­ge­sun­ken in den Kis­sen wie ein gro­ßes Strau­ßen-Ei in sei­nem Nest.” (
Spiel 373) Oder, eben­so stra­te­gisch plat­ziert, zu Beginn eines Kapi­tels, wo eine Grup­pe von Men­schen in all­zu bekann­ter Situa­ti­on mit Tie­ren ver­gli­chen wird: “Am Ende der zwei­wö­chi­gen Oster­pau­se tauch­ten alle Betei­lig­ten in den Schul­all­tag wie Fische, die man in letz­ter Sekun­de vom Land ins Was­ser zurück­ge­wor­fen hat.” (
Spiel 416)

Gesichter — glanzlos, grinsend und greise

Beson­ders augen­fäl­lig sind die Beschrei­bun­gen von Gesich­tern und damit auch von Mimik in Zehs Roma­nen. Cla­ras Gesicht “ist nicht glatt und unschul­dig, son­dern ver­braucht und schlecht auf­ge­hängt zwi­schen den Ohren.” (
Adler 322) Max schil­dert das Mäd­chen fol­gen­der­ma­ßen: “Sie schiebt ihr Gesicht vor mir her, ihre Augen sind merk­wür­dig, ohne bestimm­te Blick­rich­tung, wie hell­blaue Milch­glas­scher­ben. Mög­li­cher­wei­se hat sie dahin­ter den Blick abge­wen­det und schaut durch die Ohren her­aus, in eine ganz ande­re Rich­tung.” (
Adler 166) Die Erzähl­in­stanz muss uns nicht expli­zit mit­tei­len, dass die­ses und ande­re Gesich­ter aus­drucks­los, unbe­tei­ligt und mas­ken­haft wir­ken. Die Beson­der­heit der Schil­de­rung liegt nicht dar­in, dass die Leb­lo­sig­keit des Blicks durch die Asso­zia­ti­on mit Milch­glas sug­ge­riert wird. Es ist der Fol­ge­satz, der die Eigen­heit der Vor­stel­lungs­kraft Zehs offen­bart: Sie gesteht dem ein­zel­nen Ding beson­de­re Fle­xi­bi­li­tät und Auto­no­mie zu, indem sie den Ober­flä­chen­ein­druck hin­ter­fragt und dahin­ter ver­spielt ein Eigen­le­ben ver­mu­tet. An ande­rer Stel­le wird die Erzäh­le­rin — um es mit ihrer Meta­pho­rik zu beschrei­ben — von einem Grin­sen ange­fal­len, das sich nicht ver­trei­ben lässt: “Ich spü­re, wie sich mei­ne Mie­ne aus­ein­an­der zieht, es fühlt sich an, als wür­de mir eine dün­ne Schicht flüs­si­gen, schnell erstar­ren­den Wach­ses übers Gesicht gegos­sen. Das Grin­sen krie­ge ich nicht mehr weg, es ist wie ein­ge­mei­ßelt. Genau so ver­las­se ich das Wohn­zim­mer und ver­su­che, mein Grin­sen von mir fern zu hal­ten wie man einen stin­ken­den Lap­pen am aus­ge­streck­ten Arm vor sich her trägt. Es grinst auf mei­nem Gesicht, ich habe nichts damit zu tun.” (
Adler 164) Hier wird die Ver­selb­stän­di­gung der Mimik und die bemüh­te Distan­zie­rung des Men­schen davon über­deut­lich gemacht durch drei anein­an­der­ge­knüpf­te Ver­glei­che, die jeweils ver­schie­de­ne Bil­der anbie­ten, um den einen Grund­ge­dan­ken zu ver­mit­teln. Einen eben­so freu­di­gen Gesichts­aus­druck eines alten Man­nes kom­men­tiert sie schließ­lich wie folgt: “In sei­nem Gesicht fließt das Lächeln in dafür vor­ge­se­he­ne Bah­nen und muss sich nicht wie im Gesicht jun­ger Men­schen einen immer neu­en Weg bah­nen.” (
Adler 260) Wie die ande­ren scheint die­se Beschrei­bun­gen nur die Ober­flä­che zu fokus­sie­ren, hat aber Tief­gang, impli­ziert sie doch unauf­dring­lich viel mehr, näm­lich dass der Alte im Gegen­satz zum Jun­gen weiß, wor­über er lachen kann und wor­über nicht: Er lässt sich nicht mehr über­ra­schen und ver­un­si­chern, sein Lachen ist ein siche­res, ange­wöhn­tes. Um den Prot­ago­nis­ten aus
Adler und Engel in sei­ner Tota­li­tät zu beschrei­ben, heißt es: “Er ist ein komi­scher Typ, wie falsch zusam­men­ge­setzt aus Puz­zle­tei­len, die jemand unge­dul­dig inein­an­der ver­hakt und gepresst hat, bis das letz­te Stück ver­braucht war, ohne dar­auf zu ach­ten, wohin sie eigent­lich gehö­ren.” (
Adler 425) Prin­zi­pi­el­le Zwei­fel dar­an, dass jede Per­son bzw. Roman­fi­gur ohne Wei­te­res cha­rak­te­ri­sier­bar ist, gehen aus einer Äuße­rung über Jes­sie her­vor: “Man konn­te sie nicht ken­nen, wie man ande­re Men­schen kennt oder […] einen Hund. Höchs­tens so, wie man einen Schwarm Fische ken­nen kann.” (
Adler 433) Ein sol­ches Men­schen­bild beinhal­tet zwangs­läu­fig eine gewis­se Skep­sis gegen­über simp­len, ein­di­men­sio­na­len Ver­glei­chen. Außer­dem prägt es die Figu­ren­cha­rak­te­ri­sie­rung auf eine Wei­se, die nur ein wei­te­rer Auf­satz erör­tern könn­te. Hier sei ledig­lich fest­ge­hal­ten, dass die Figu­ren vor allem in ihrer Wir­kung auf ande­re, das heißt, aus Figu­ren­per­spek­ti­ve beschrie­ben wer­den. So berich­tet der Prot­ago­nist Max ange­sichts der über­wäl­ti­gen­den Prä­senz des Mäd­chens: “Gan­ze Flut­wel­len von Ener­gie gehen in kon­zen­tri­schen Krei­sen von Hund und Mäd­chen aus, ich füh­le mich wie ein Wein­kor­ken, der schau­kelnd an die Peri­phe­rie getrie­ben wird.” (
Adler 225) Eine Her­aus­for­de­rung an den Leser sind sol­che ‘Bil­der’ auch des­halb, weil sie unvoll­stän­dig sind: Nir­gends steht, ob man sich ein vol­les Wein­glas mit Kor­ken oder einen Kübel vor­stel­len soll, auf des­sen Flüs­sig­keits­spie­gel ein Kor­ken treibt — allein die zen­tri­fu­ga­le Bewe­gung zählt. Häu­fig ver­gleicht Zeh den Men­schen mit unbe­leb­ten Gegen­stän­den oder All­tags­phä­no­me­nen. Ihre Ver­glei­che mögen ent­le­gen wir­ken, sind sie es aber wirk­lich? Zei­gen sie uns nicht viel­mehr die Nähe einer schein­bar frem­den Sache zum Ver­trau­ten? Zeh macht damit auf ein All­tags­de­tail auf­merk­sam, dem wir zuvor kaum Auf­merk­sam­keit geschenkt haben. Den ‘Bil­dern des Men­schen’ könn­te man hier noch Ver­glei­che, die schwer beschreib­ba­re Gefüh­le und Seins­zu­stän­de der Figu­ren näher brin­gen sol­len, hin­zu­fü­gen; sie fin­den jedoch erst spä­ter im Rah­men der ‘Abs­trak­ta’ Erwähnung.

Anthropomorphisierte Stadt- und Natur-Landschaften

Im Anschluss an die vor­wie­gend aus Adler und Engel ent­nom­me­nen Bil­der des Men­schen soll nun des­sen Lebens­raum betrach­tet wer­den. Stadt- und Natur-Land­schaf­ten mit­samt allen ihren (an-)organischen Ele­men­ten bil­den den zwei­ten gro­ßen Bereich, für den Zeh Ver­glei­che und Meta­phern ersinnt. Beson­ders dicht gedrängt fin­det man sie in der Beschrei­bung ihrer Rei­se durch Bos­ni­en mit dem Titel Die Stil­le ist ein Geräusch. “Wie ein Nadel­kis­sen sieht die Stadt aus mit ihren vie­len Mina­ret­ten” (Stil­le 238) — so lau­tet ein ers­ter tota­ler Ver­gleich einer mus­li­misch gepräg­ten Stadt mit einem unbe­leb­ten Alltagsgegen­stand. Er gehört zu jenen auf opti­scher Asso­zia­ti­on beru­hen­den Ver­glei­chen, wel­che die Loka­li­sie­rung des Spre­chers — näm­lich in eini­ger Ent­fer­nung, noch außer­halb der Stadt — und damit die Rekon­struk­ti­on der Per­spek­ti­ve erlau­ben. Über eine ande­re Stadt heißt es aus ähn­li­cher Per­spek­ti­ve: “Ka?tel kniet im Was­ser, mit­tel­al­ter­li­che schma­le Häu­ser drü­cken Wan­ge an Wan­ge, mit dem Rücken an die Fes­tungs­mau­er gelehnt.” (
Stil­le 200) Der­art beschau­lich bleibt es jedoch nie län­ger als weni­ge Zei­len. Zer­stört wird das Mit­tel­al­ter­flair durch diver­se Nah­auf­nah­men: “Strom­lei­tun­gen stei­gen hoch­bei­nig über alles hin­weg.” (
Stil­le 37) Sobald die Rei­sen­de in der Stadt ankommt, erkennt sie: “Das Par­la­ments­hoch­haus, im Ste­hen gestor­ben, von allen Sei­ten in Fet­zen geschos­sen, es zeigt sei­ne zer­fled­der­ten Inne­rei­en. Ich scheue mich hin­zu­se­hen, man starrt auch einen Behin­der­ten nicht an.” (
Stil­le 59) ((Zur Erin­ne­rung: Inko­hä­ren­zen in der Zusam­men­schau die­ser Stadt­be­schrei­bun­gen erklä­ren sich dadurch, dass hier Aus­schnit­te aus Beschrei­bun­gen diver­ser Städ­te zusam­men­ge­fügt wur­den, um die Bil­der zu ver­glei­chen.)) Die Per­so­ni­fi­ka­ti­on und damit die Anthro­po­mor­phi­sie­rung von Stadt und Land­schaft ist Zehs meist­ver­wen­de­tes Stil­mit­tel, das einem impli­zi­ten Ver­gleich ent­spricht. In der Regel ‘ver­mensch­licht’ bzw. ani­miert sie ein­zel­ne Ele­men­te still­schwei­gend; so expli­zit wie im zuletzt zitier­ten Satz wird sie sel­ten. Alter­na­tiv zum Ver­gleich des Anor­ga­ni­schen mit dem Men­schen fin­den sich auch Asso­zia­tio­nen mit Tie­ren, dies­mal in
Spiel­trieb: “Fett­lei­big kau­er­te der Alt­bau samt Sei­ten­flü­geln auf der dunk­len Asphalt­flä­che und sah aus wie ein Alba­tros, der sich vor dem Abhe­ben zusam­men­ge­duckt hat und dabei ein­ge­schla­fen ist.” (
Spiel 54) Auf­fäl­lig ist, dass der Mensch in der anthro­po­mor­phi­sier­ten Stadt­land­schaft — ins­be­son­de­re im frem­den Land Bos­ni­en — sei­ne Auto­ri­tät und Wil­lens­frei­heit ver­liert: “Eine kopf­stein­ge­pflas­ter­te Stra­ße führt selbst­be­wusst den Berg hin­auf, ich fol­ge wil­len­los.” (
Stil­le 234) Daher lau­tet das Fazit der Rei­sen­den: “Ich füh­le mich, als wäre das Land durch mich gereist und kehr­te nach Hau­se zurück, wäh­rend ich übrig­blei­be, mit hän­gen­den Armen. Bereist.” (
Stil­le 263) Hier die­nen Ihr die Ver­glei­che also zur Ver­mitt­lung von schwer beschreib­ba­ren Gefüh­len. Ähn­lich wie die Stadt, wer­den auch Natur­land­schaf­ten und ‑phä­no­me­ne zum Zweck genaue­rer Cha­rak­te­ri­sie­rung per­so­ni­fi­ziert bzw. anthro­po­mor­phi­siert, hier zum Bei­spiel allein durch die Wahl der Ver­ben: “Schnell fällt die Dun­kel­heit, die Bäu­me rücken zusam­men, eilig rob­ben die Wol­ken über den schwar­zen Him­mel Rich­tung Nor­den.” Um das Her­ein­bre­chen der Nacht mime­tisch zu ver­mit­teln, erfährt die Beschrei­bung eine Beschleu­ni­gung. Ein Wech­sel der Per­spek­ti­ve weckt stets neue, ori­gi­nel­le Asso­zia­tio­nen im Betrach­ter: “Die alten Bäu­me ragen hoch auf und sehen in ihrer Schwär­ze aus wie die dicken Bei­ne einer Ele­phan­ten­her­de, deren Bauch­un­ter­sei­ten den Nacht­him­mel bil­den.” (
Adler 42) Die­ses Bild asso­zi­iert man mit dem typi­schen Kin­der­blick, zumal die Bäu­me bzw. Ele­fan­ten­bei­ne aus der Zwer­gen­per­spek­ti­ve betrach­tet wer­den. Unter all den auf opti­schen Ein­drü­cken basie­ren­den Ver­glei­chen sind sol­che, die sich auf akus­ti­sche Wahr­neh­mun­gen bezie­hen, in der Min­der­heit. Einer sei den­noch wie­der­ge­ge­ben: Der hef­ti­ge Don­ner klingt “als wäre der gan­ze Him­mel aus Holz und wür­de von einer rie­si­gen Axt getrof­fen.” (
Adler 107) Um die Iso­to­pie des nächt­li­chen Wal­des abzu­schlie­ßen, sei ein letz­tes Zitat ange­führt, das den Ver­gleich von Baum und Mensch wie­der nur impli­ziert, anstatt ihn syn­tak­tisch aus­zu­füh­ren, aber viel Ein­blick in die gewollt kind­lich-nai­ve Vor­stel­lungs­welt der Autorin gibt: “Falls der Wald sich zum Schla­fen hin­legt, ist er jeden­falls als ers­tes wie­der auf den Bei­nen und steht im obe­ren Drit­tel der Berg­hän­ge stramm.” (
Stil­le 74) Auch die Jah­res­zei­ten und ihr jeweils spe­zi­fi­sches Wet­ter macht Zeh durch Ver­glei­che und Meta­phern leben­dig. Nach­dem die Rei­sen­de aus dem Nor­den nach ihrer ers­ten Nacht in Mostar erwacht ist, tritt sie vors Hotel auf die Stra­ße: “Die Hit­ze war­tet vor der Tür, als hät­te sie die gan­ze Nacht dort geses­sen. Sie beißt mich mit spit­zen Zäh­nen, und das so früh am Tage.” (
Stil­le 51) Effek­tiv wird die durch den Kli­ma­wech­sel ver­stärk­te Emp­fin­dung ver­mit­telt — wer kennt es nicht, das Gefühl, gegen eine Wand aus war­mer Luft zu lau­fen, wie es der ers­te Satz sug­ge­riert? Kon­ven­tio­nell wäre es gewe­sen, von eben die­ser Wand zu spre­chen. Zehs Schil­de­rung ist ver­spiel­ter und zugleich prä­zi­ser. Dass sie die
com­pa­ra­ta wohl­über­legt wählt, zeigt die Gegen­über­stel­lung mit einer ande­ren meta­pho­ri­schen Beschrei­bung: “Die Son­ne brüll­te wie ein zahn­lo­ser Tiger vom Him­mel, schoss Licht ohne Wär­me in die Stra­ßen der Stadt, blen­de­te win­ter­trü­be Augen, hol­te Staub und zer­knüll­te Taschen­tü­cher unter den Heiz­kör­pern her­vor, ver­höhn­te die Nackt­heit kah­ler Bäu­me und Büsche, ent­deck­te Fett­fin­ger­spu­ren auf Wind­schutz­schei­ben und bewarf die Fens­ter der obe­ren Stock­wer­ke mit explo­die­ren­den Blit­zen.” (
Spiel 359) Hier geht es um ande­re Tem­pe­ra­tu­ren, statt spitz­zäh­nig ist die­se Son­ne zahn­los, dafür ihr Licht aber umso gna­den­lo­ser: Statt der spür­ba­ren Som­mer­hit­ze wird die Win­ter­son­ne geschil­dert, und zwar als domi­nant visu­ell wahr­ge­nom­me­nes Phä­no­men. Der Blick schweift vom Innen­raum durchs Fens­ter nach Drau­ßen und infor­miert
en pas­sant über die Umge­bung, wäh­rend es in jener Pas­sa­ge doch eigent­lich nur um die Wet­ter­la­ge geht. Ist die­ses Sur­plus an
com­pa­ra­ta als manie­ris­ti­sche Über­wu­che­rung zu kri­ti­sie­ren oder als Anschau­lich­keit im bes­ten Sin­ne zu loben? Im Kon­trast zur glei­ßen­den Son­ne, die ‘ent­deckt’, zei­tigt hef­ti­ger Nie­der­schlag ande­re Wir­kung: “Der Regen lässt den Men­schen Buckel wach­sen und nimmt ihnen die Häl­se. Es wird ruck­ar­tig dunk­ler und dunk­ler, als wür­de die Son­ne in Stö­ßen sin­ken.” (
Adler 438) Wie beim vor­he­ri­gen Bei­spiel wird auch hier auf jeg­li­che Erklä­rung der Situa­ti­on ver­zich­tet, weil sie als bekannt vor­aus­ge­setzt wird. Den­noch wirkt der beschrie­be­ne Ein­druck sub­jek­tiv, was noch mehr für die Äuße­rung einer Figur nach Ende des Regens gilt: “Es hat gereg­net, sag­te Jes­sie am Tele­phon, und die Nackt­schne­cken lie­gen hier über­all im Hof ver­teilt, wie her­aus­ge­schnit­te­ne Zun­gen.” (
Adler 192) Schlie­ßen wir die Jah­res­zei­ten-Bil­der mit einem Ver­gleich, den so man­cher Kri­ti­ker viel­leicht nicht nur als ent­le­gen, son­dern als ‘schief’ bezeich­nen wür­de: “Es war Anfang Okto­ber, der Som­mer hat­te sei­ne glü­hen­de Umklam­me­rung gelöst, war abge­fal­len von der Stadt wie eine voll­ge­so­ge­ne Zecke und lang­sam über den Hori­zont gen Süden davon­ge­kro­chen.” (Spiel 156) Im Anschluss an Wet­ter und Jah­res­zei­ten wür­de es sich anbie­ten, im Sin­ne einer zuneh­men­den Aus­wei­tung des Gegen­stands vom Men­schen über sei­ne Umge­bung bis zur Atmo­sphä­re, nun Zehs Beschrei­bun­gen der Him­mels­kör­per zu fokus­sie­ren. Dies geschieht jedoch erst im Zusam­men­hang mit der abschlie­ßen­den Fra­ge, inwie­fern Zehs Bil­der ‘kit­schig’ wir­ken. Statt­des­sen betrach­ten wir den schwie­rigs­ten Gegen­stands­be­reich, das Abs­trak­te, das Zeh mit­hil­fe ihrer Ver­glei­che auf ein­zig­ar­ti­ge Wei­se konkretisiert.

Abstraktes wird konkret

Immer wie­der reflek­tiert die Prot­ago­nis­tin in Adler und Engel das Phä­no­men Zeit, genau­er das mensch­li­che, bis­wei­len ihr indi­vi­du­el­les Zeit­emp­fin­den. Einen der weni­gen Orte, mit dem sie ein ange­neh­mes Lebens­ge­fühl ver­bin­det, cha­rak­te­ri­siert sie wie folgt: “Dort ver­ge­hen die Stun­den spur­los, man fühlt sich in der Zeit wie ein Kör­per, der in exakt kör­per­tem­pe­ra­tur­war­mes Was­ser ein­ge­legt ist.” (Adler 273) Die Wor­te evo­zie­ren das Gefühl von Zei­tent­ho­ben­heit. Das gegen­tei­li­ge, eben­so schwer beschreib­ba­re Unwohl­sein kom­mu­ni­ziert die Figur dem­entspre­chend so: “Die Zeit ist manch­mal wie ein zu enges Klei­dungs­stück, ich kann mich schlecht in ihr bewe­gen.” (Adler 434) Lässt ihr hier die Zeit, mit ande­ren Wor­ten, zu wenig Raum, ist dort wie­der­um das Gegen­teil der Fall. Die Welt scheint bei­na­he zum Still­stand zu kom­men “[…] wäh­rend ich in der Hän­ge­mat­te lie­ge und durch blo­ße Wil­lens­kraft dafür sor­ge, dass die Zeit nicht ste­hen bleibt, dass eine Sekun­de schwer­fäl­lig die nächs­te über die Kan­te schubst und der Tag Schritt­chen für Schritt­chen nach Wes­ten davon­kriecht.” (Adler 225) Auf anschau­li­che Wei­se sieht sie der Zeit beim lang­sa­men Ver­rin­nen zu. Ein Stil­pu­rist wür­de viel­leicht die Nase rümp­fen, weil sie dabei zwei Bil­der mit­ein­an­der kom­bi­niert und zu einem ver­schmilzt. Anders geht sie beim Ver­such vor, des Gefühl der Schläf­rig­keit und den Schlaf zu beschrei­ben und von­ein­an­der abzu­gren­zen: “Schläf­rig­keit ist ein Geruch, nach dem eige­nen Schei­tel, ganz leicht nach Haus­staub und erhitz­ten Glüh­bir­nen, nach Dun­kel­heit, Buch­sei­ten und Rauh­fa­ser­ta­pe­te. […] Der Schlaf hin­ge­gen ist eine Far­be, schwarz­ran­dig, aber nicht schwarz, in die wir hin­ter geschlos­se­nen Lidern star­ren, nach­dem die Augen umge­kippt sind, um die Kopf von innen zu betrach­ten.” (Spiel 329) Dank ihrer defi­ni­to­ri­schen Qua­li­tät ist die­se Kon­kre­ti­sie­rung des Abs­trak­ten iso­lier­bar wie ein Aphorismus.

Synthese und Multiperspektive

Die bis­her vor­ge­stell­ten Ver­glei­che genü­gen längst für ein Resü­mee ihrer wesent­li­chen Merk­ma­le. Prin­zi­pi­ell fin­det Zeh für alles Ver­glei­che und zieht alles zum Ver­gleich her­an. Iso­liert man Zehs ‘sprach­li­che Bil­der’ aus dem Text­ge­we­be, so hält man jedoch eini­ge rote Fäden in der Hand, die über die Gren­zen der ein­zel­nen Roma­ne hin­weg als unsicht­ba­re Iso­to­pien zusam­men hän­gen. Beson­ders häu­fig sucht sie nach Ver­glei­chen für die phy­si­schen Eigen­schaf­ten ihrer Figu­ren und deren Gefühls­la­gen sowie für den städ­ti­schen oder land­schaft­li­chen Lebens­raum des Men­schen mit­samt sämt­li­chen Natur­phä­no­me­nen. All dies cha­rak­te­ri­siert sie sodann ent­we­der durch eine weni­ge Wor­te umfas­sen­de Skiz­ze einer aus dem All­tag bekann­ten Situa­ti­on oder durch Asso­zia­ti­on mit dem jeweils Ande­ren, das heißt, sie ver­gleicht den Mensch mit dem Unbe­leb­ten und ani­miert und per­so­ni­fi­ziert die­ses wie­der­um. Auf­fäl­lig ist, dass ihre Ver­glei­che, die oft in einem gezielt nai­ven Hin­ter­fra­gen der bekann­ten Ober­flä­chen­struk­tu­ren grün­den, jedem Gegen­stand Auto­no­mie zuge­ste­hen, ja oft ver­spielt des­sen Ver­selb­stän­di­gung vor­füh­ren. Bis­wei­len schei­nen sich nicht nur die Gegen­stän­de, son­dern auch die Ver­glei­che zu ver­selb­stän­di­gen, wenn näm­lich eine Beob­ach­tung mit meh­re­ren Bil­dern asso­zi­iert wird bzw. jede Asso­zia­ti­on wei­te­re her­vor­ruft, was der Vor­stel­lungs­kraft und Syn­the­se­fä­hig­keit des Lesers gro­ße Fle­xi­bi­li­tät abver­langt. Der Gewinn ist ein erfri­schen­der Per­spek­ti­ven­wech­sel, oft sogar eine Mul­ti­per­spek­ti­ve, auf den Gegen­stand. Zeh ver­mag Mensch und Natur zu beschrei­ben, als hät­te sie schon alles gese­hen und trotz­dem nicht ver­lernt, sich zu wun­dern. Selbst schwer beschreib­ba­re Gefühls- und Seins­zu­stän­de über­setzt sie in anschau­li­che Bil­der. Die Beob­ach­tung, dass sie dabei die visu­el­le Wahr­neh­mung ins­ge­samt ein­deu­tig pri­vi­le­giert, ver­dient eine genaue­re Betrachtung.

Der Vergleich als Seh-Hilfe und Imaginations-Krücke

In zahl­rei­chen Ver­glei­chen Zehs wird das Sehen als die­je­ni­ge Wahr­neh­mung, die Asso­zia­tio­nen aus­löst, dis­kret the­ma­ti­siert. In eini­gen steht es sogar im Mit­tel­punkt, näm­lich wenn die Art und Wei­se des Betrach­tens beschrie­ben wird, so nicht nur an der bereits zitier­ten Stel­le (“Ada zog den Blick aus sei­nem Gesicht wie ein Mes­ser aus einem Stück But­ter.” Spiel 130) Im sel­ben Kon­text heißt es eini­ge Zei­len spä­ter, als sie ihn im Gespräch erneut ansieht: “Als sie den Kopf wie­der senk­te, blieb ihr Blick an Olafs Stirn hän­gen wie ein altes, schlecht haf­ten­des Stück Kle­be­band.” (Spiel 131) Das Sehen wird als bewuss­te Akti­on vor­ge­führt, so auch hier, dies­mal in frei­er Natur: “Sie gibt ihrem Blick Aus­lauf über die Fel­der, auf denen Son­nen­blu­men ihre schwarz gewor­de­nen Köp­fe der Erde zuwen­den, als wür­den sie wie alte Men­schen gebeugt den Boden betrach­ten, unter dem sie bald zu lie­gen kom­men wer­den. (Adler 335) Jeder Betrach­tung liegt der Wunsch nach Erkennt­nis zugrun­de, impli­ziert die­se meta­re­fle­xi­ve Pas­sa­ge, die den Vor­gang des Ver­glei­chens nach­voll­zieh­bar macht. Über­dies ist es auch die Betrach­tung, wel­che die Vor­stel­lungs­kraft erst in Gang bringt, wie im fol­gen­den Satz deut­lich wird, des­sen Kon­text mühe­los ima­gi­niert wer­den kann: “Ich star­re in mei­nen Kaf­fee­be­cher, als könn­te es sich bei dem glat­ten schwar­zen Flüs­sig­keits­spie­gel um ein Flucht­loch han­deln, durch das ich weg­tau­chen kann.” (Adler 182) Juli Zeh ist ein Augen­mensch, ihre Ver­glei­che und Meta­phern sind ‘Seh-Hil­fen’, ‘Ima­gi­na­ti­ons-Krü­cken’ und ‘Bild­an­wei­sun­gen’. In ihrem Buch über Bos­ni­en reflek­tiert sie selbst ihr Beob­ach­ten und ihr Memo­rie­ren von Moment­auf­nah­men, das Vor­aus­set­zung für die Ent­ste­hung ihrer Tex­te ist: “Manch­mal bil­den Kopf und Augen zusam­men eine Kame­ra, und man kann sicher sein, die auf­ge­nom­me­nen Bil­der nicht zu ver­ges­sen.” (Stil­le 256) Eine ihrer Figu­ren erklärt ihr poe­ti­sches Pro­gramm: “die Wahr­heit liegt immer an der Ober­flä­che.” (Stil­le 236) Eben die­se Fokus­sie­rung der Ober­flä­che kri­ti­siert der koso­vo-alba­ni­sche Schrift­stel­ler Beque Cufai in sei­ner Rezen­si­on zum sel­ben Buch, indem er kon­sta­tiert, Zeh habe ihr Buch mit schnel­ler Hand geschrie­ben und alles, was ihr vor die Augen gekom­men sei, sofort fest­ge­hal­ten, ohne dabei die Ursa­chen zu benen­nen: “Sie sieht nur, was sie sieht.” ((Beque Cufai, “Nicht ohne mei­nen Hund”, Rezen­si­on zu Juli Zehs Die Stil­le ist ein Geräusch, aus dem Alba­ni­schen von Joa­chim Röhm, erschie­nen in der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung am 14.09.2002 und auf Buecher.de [Stand: 13.3.2008].)) Je nach Beto­nung des Sat­zes ste­cken dar­in zwei Vor­wür­fe, zum einen, dass sie nur das Sicht­ba­re zur Kennt­nis neh­me, zum ande­ren, dass ihre Per­spek­ti­ve sehr sub­jek­tiv sei. ((Mat­thi­as Rüb for­mu­liert dies­be­züg­lich eine inter­es­san­te, wenn­gleich mei­nes Erach­tens auf Juli Zeh nicht zutref­fen­de The­se: “Der Roman ‘Adler und Engel’ ist, mit einem Wort, spie­ßig. Ein Spie­ßer ist jemand, der die Welt in ihren viel­fäl­ti­gen Aus­ge­stal­tun­gen immer nur auf sich selbst bezieht und jede Wahr­neh­mung in die engen Gren­zen sei­nes beschränk­ten Hori­zon­tes zwängt.” In: “Ver­koks­te Road­show”, Rezen­si­on zu Juli Zehs Roman Adler und Engel, erschie­nen in der Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung am 09.10.2001 und auf Buecher.de [Stand: 13.3.2008].)) In der Tat erhebt Zeh Anspruch auf eine sub­jek­ti­ve Wahr­neh­mung und eine indi­vi­du­el­le Aus­drucks­wei­se. Expli­zit tut sie dies im besag­ten Bos­ni­en-Buch mit einer neben­bei geäu­ßer­ten Bemer­kung, die man als Recht­fer­ti­gung ihrer spe­zi­el­len ‘Bil­der’ ver­ste­hen kann: “Wäre ich Pho­to­graph gewor­den, bräch­te ich den Men­schen genau jene Bil­der mit, die sie erwar­ten.” (Stil­le 238) Als Schrift­stel­ler hin­ge­gen fühlt sie sich nicht ver­pflich­tet, dies zu tun. Wie also wir­ken ihre Bil­der? Auch dies­be­züg­lich ist die Mei­nung der Feuil­le­ton-Kri­ti­ker gespal­ten, ihre Urtei­le lau­ten “poe­tisch” vs. “kit­schig”.

Kunst oder Kitsch?

Adler und Engel besit­ze, so der Kri­ti­ker Maus, “den wich­tig­tue­ri­schen Ges­tus einer Pro­sa, die […] eigent­lich als Poe­sie begrif­fen wer­den möch­te. […] Die schnell vor­an­schrei­ten­de Hand­lung umspült lyri­sche Inseln, die Zeh mit ihrem bil­der­rei­chen Stil in den Erzähl­strom setzt. […] Trotz aller lyri­schen Qua­li­tät poe­telt es manch­mal gar sehr in der Bil­der­welt des Ich-Erzäh­lers Max. Etwas zu oft greift er nach den Ster­nen, dem Mond und der Son­ne, wodurch sich der Text zu astro­lo­gi­scher Dimen­si­on bläht, die ihn gera­de­wegs in die ver­hee­ren­de Umlauf­bahn des Kitsch­pla­ne­ten kata­pul­tiert.” ((Ste­phan Maus, “Im Rah­men des Lehr­plans”, Rezen­si­on zu Juli Zehs Roman Adler und Engel, erschie­nen in der Frank­fur­ter Rund­schau am 8.9.2001 und
auf Lyrikwelt.de [Stand: 13.3.2008]. Im schar­fen Gegen­satz zu Maus hält Ilma Rakusa Zehs bild­haf­te Spra­che für äußerst “poe­tisch”. Sie kon­sta­tiert: “Juli Zeh weiß, was Poe­sie ohne Pathos ist”. Es gelin­ge ihr, das “ent­zau­ber­te Bos­ni­en moment­wei­se in einen pre­kä­ren Zustand poe­ti­scher Gna­de über­zu­füh­ren”. Ilma Rakusa in ihrer Rezen­si­on zu Juli Zehs Die Stil­le ist ein Geräusch, erschie­nen in der Neu­en Zür­cher Zei­tung am 17.09.2002.)) (Am Ran­de bemerkt: Auch in die­ser Äuße­rung ver­sucht der Kri­ti­ker offen­kun­dig, mit Zehs Meta­pho­rik zu kon­kur­rie­ren.) Über­prüft man die­se pro­vo­ka­ti­ve Behaup­tung, so fin­det man fol­gen­de Ver­glei­che: Der Mond “steht blass und schmal wie ein abge­schnit­te­ner Dau­men­na­gel am Him­mel.” (Adler 42) und, nach wei­te­ren 350 Sei­ten, in denen genug Zeit ver­stri­chen ist, um ihn ein ande­res Aus­se­hen anneh­men zu las­sen: “Der Mond steht wie eine hal­be Zitro­nen­schei­be im dunk­len Him­mel und die Ster­ne fun­keln dazu wie Koh­len­säu­re­bla­sen in einer Cola.” (Adler 375) Bei­de Ver­glei­che sind unge­wöhn­lich und viel­leicht ent­le­gen, daher jedoch nicht kit­schig, ver­steht man dar­un­ter ein unori­gi­nel­les, sen­ti­men­ta­les Kli­schee, oder anders: den miss­lun­ge­nen Ver­such, das Schö­ne zu beschrei­ben. Natur, Land­schaft und Gestir­ne sind bekannt­lich belieb­te Gegen­stän­de von Poe­sie. Zehs Blick zum Him­mel strebt jedoch weni­ger nach Ver­klä­rung als nach Ent­zau­be­rung. So kon­sta­tiert sie tro­cken bei einer Über­nach­tung im Frei­en: “Die Ster­ne ver­meh­ren sich schnell wie eine Bak­te­ri­en­kul­tur.” (Stil­le 191) Beson­ders anschau­lich wird die Des­il­lu­sio­nie­rung der Betrach­te­rin, als ihr Blick im Rah­men der Beschrei­bung eines Fried­ho­fes auf die Gras­flä­che zwi­schen den Grä­bern fällt: “Dabei sehe ich, dass auf qua­drat­me­ter­gro­ßen Wie­sen­stü­cken jeder ein­zel­ne Halm dicht mit kalk­wei­ßen, erb­sen­gro­ßen Schne­cken­häu­sern besetzt ist, als hät­te jemand ver­sucht, das gan­ze Land mit Per­len zu besti­cken, und hier damit begon­nen. An man­chen Stel­len klum­pen sie wie Frosch­laich zusam­men. Nicht eine Schne­cke lebt. Mir wird schwind­lig […]” (Stil­le 182) Zeh ent­deckt etwas Schö­nes, doch der Ver­such, in des­sen Ober­flä­chen­be­trach­tung das Gute zu erken­nen, endet mit Ent­täu­schung, die zur Gewohn­heit wird. Sie selbst erklärt, dass sie “im Schö­nen immer Häss­li­ches arg­wöh­ne und aus Trotz im Häss­li­chen das Schö­ne suchen” müs­se (Stil­le 228). Dies tut sie aller­dings nicht ver­zwei­felt: Im Zusam­men­spiel mit ihrem Scharf­sinn unter­läuft ihr unge­rühr­ter Blick jeg­li­che Ten­denz zum Kitsch. Poe­tisch sind vie­le ihrer Meta­phern und Ver­glei­che trotz­dem. Sie sind Teil deskrip­ti­ver Pas­sa­gen bzw. sind selbst ver­kürz­te Beschrei­bun­gen. Die Beschrei­bung, als “die Kunst, […] mit Wor­ten einen bild­li­chen Ein­druck beim Zuhö­rer bzw. Leser her­vor­zu­ru­fen,” ((Albert Hal­sall, “Beschrei­bung”, übers. v. Lisa Gon­dos, in: Gert Ueding (Hg.), His­to­ri­sches Wör­ter­buch der Rhe­to­rik, Bd. 1, Tübin­gen 1992, S. 1495–1510, hier S. 1495.)) besitzt durch ihre gro­ße Evo­ka­ti­ons­kraft prin­zi­pi­ell poe­ti­sches Poten­zi­al. Die durch Zehs Beschrei­bun­gen im Leser aus­ge­lös­ten Vor­stel­lungen sind domi­nant visu­ell, mit­un­ter aber auch arti­ku­la­to­risch, akus­tisch und bis­wei­len sogar syn­äs­the­tisch. Zwar ver­lang­sa­men oder arre­tie­ren die zei­tent­ho­ben- kon­tem­pla­ti­ven deskrip­ti­ven Pas­sa­gen zwangs­läu­fig den nar­ra­tiv-suk­zes­si­ven Hand­lungs­fort­gang, doch berei­chern sie ihn dafür durch eine Anschau­lich­keit, wel­che die Gesamt­wir­kung stark stei­gert. Zehs Meta­phern und Ver­glei­che sind zwar auch, aber nicht nur Rede­schmuck, denn ihre Ver­an­schau­li­chung hat kogni­ti­ve Funk­ti­on: Trotz ihrer kom­pri­mier­ten Form geben sie Ein­bli­cke in kom­ple­xe, längst nicht auf den ers­ten Blick erkenn­ba­re Ana­lo­gie­ver­hält­nis­se. Zehs Haupt­mo­ti­va­ti­on ist jedoch nicht die Beleh­rung, son­dern eine Lust an Asso­zia­ti­on und Kor­re­la­ti­on, eine Freu­de an Ver­gleich und unei­gent­li­cher Rede, wie sie Hegel in sei­ner Ästhe­tik ein­leuch­tend erklärt: als “das Bedürf­nis und die Macht des Geis­tes und Gemüths […], die sich nicht mit dem Ein­fa­chen, Gewohn­ten, Schlich­ten befrie­di­gen, son­dern sich dar­über stel­len, um zu Ande­rem fort­zu­ge­hen, bei Ver­schie­de­nem zu ver­wei­len und Zwei­fa­ches in Eins zu fügen”. Als Grün­de hier­für nennt er meh­re­re, näm­lich die “Ver­stär­kung” der Vor­stel­lun­gen, die “Erhe­bung” über alles Äußer­li­che, die “schwel­ge­ri­sche Lust der Phan­ta­sie” und den “Witz der sub­jek­ti­ven Will­kür”. ((Georg Wil­helm Fried­rich Hegel, “Meta­pher, Bild, Gleich­nis”, in: ders. Vor­le­sun­gen über die Ästhe­tik, hg. v. Fried­rich Bas­sen­ge, 2 Bde., Berlin/Weimar 1965, 1, 390–395. Vgl. die Zusam­men­fas­sung der län­ge­ren Pas­sa­ge aus Hegels Ästhe­tik von Hen­drik Birus (“Meta­pher”, Real­le­xi­kon der deut­schen Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, Bd. II, Wei­mar 2000, S. 574.))) Ihre Lust an der Asso­zia­ti­on, an der Aus­wei­tung und Varia­ti­on von Kom­pa­ra­ti­ven und Meta­phern reflek­tiert Zeh schließ­lich selbst in einem Denk­mus­ter und Poe­sis offen­ba­ren­den Ver­gleich: “Die Schup­pen­tür klingt wie ein gan­zer Früh­lings­wald vol­ler Vögel. Drei Wochen hat nie­mand sie in den Angeln bewegt, jetzt mache ich sie nur zum Spaß ein paar Mal auf und zu und lau­sche dem Gezwit­scher, wobei ich hell­grü­nes Gras vor mir sehe und leicht beweg­te Was­ser­flä­chen im Son­nen­licht, aus tau­send Sil­ber­plätt­chen zusam­men­ge­setzt.” (Adler 347) Ein ver­gleich­ba­res Erleb­nis hat der Leser, wenn er Zehs Bücher aufschlägt.