Acuns Geschichte

You are currently viewing Acuns Geschichte

von Anna Appel

Puls von 180, sto­cken­der Atem, beklem­men­des Gefühl in der Brust, trü­be Augen, magne­ti­scher Magen – ein schwar­zes Loch. Sei­ne Fin­ger zuck­ten ner­vös, als das gewohn­te Sur­ren aus­blieb. Sei­ne aus­ge­streck­te, fla­che Hand blieb leer. Der Bank­au­to­mat hat­te sei­ne Kar­te ein­ge­zo­gen. Auf dem Dis­play stand 11.24 Uhr.

War­um muss­ten ihn die Zif­fern so hämisch angrin­sen? Eins, eins, Punkt, zwei, vier. Das Fixie­ren auf ein Detail aus sei­ner Umge­bung konn­te sehr beru­hi­gend wir­ken. Waren sei­ne Gedan­ken gera­de wirr oder extrem klar? Und lieb­te sie ihn? Die­se Bauch­schmer­zen! Die lieb­ten und umarm­ten ihn. Acun fühl­te sich wie ein rie­si­ger, kopf­lo­ser Kopf.

Er woll­te sich kurz umbli­cken, um zu über­prü­fen, ob ihn jemand beob­ach­te­te. Eine Zehn­tel­se­kun­de spä­ter über­leg­te er es sich anders, blick­te sich also nicht um, weil er spür­te, dass ihm alles egal war – außer die­ser Frau. Und weil er gelernt hat­te, dass es im Leben wirk­lich nicht dar­auf ankam, wie man nun vor die­ser oder jener Per­son in die­ser oder jener Situa­ti­on dastand.

Kurz dar­auf trat er vor die Auto­ma­tik-Schie­be­tür, ging nach drau­ßen und lief eini­ge Male um den Häu­ser­block — zunächst lang­sam, dann panisch und gehetzt, so als könn­te er sei­ne Gedan­ken ein­ho­len, wenn er nur schnell genug lief. Dann die Ent­täu­schung, die ihn ins Stadt­zen­trum führte.

Wes­halb waren in die­ser Stra­ße drei Dro­ge­rie­märk­te direkt neben­ein­an­der ange­sie­delt? Er reflek­tier­te, dass das ein Gedan­ke jener Sor­te war, die er von frü­her recht gut kann­te. Frü­her — als Lan­ge­wei­le noch eine Opti­on war. Er lief an den Dro­ge­rie­märk­ten vor­bei und bog links ab zum Brun­nen in der Mit­te des gro­ßen Platzes.

Vor dem Brun­nen hock­ten zwei Män­ner. Der eine sah sehr her­un­ter­ge­kom­men aus mit sei­ner zer­fetz­ten Kord­ho­se und dem fet­ti­gen, grau­en Bart, wel­cher den dre­cki­gen Kaf­fee­be­cher in sei­ner Hand bei­na­he streif­te. Der ande­re, ein recht gepfleg­ter Mann um die vier­zig, lächel­te ver­gnügt, eben­falls einen Kaf­fee­be­cher vor sich hal­tend. Der Becher des Her­un­ter­ge­kom­me­nen war halb voll von Mün­zen, der des Gepfleg­ten voll­kom­men leer.

Plötz­lich über­kam Acun ein enor­mes Ver­lan­gen, irgend­et­was zu tun. Er woll­te sich kurz umbli­cken, um zu über­prü­fen, ob ihn jemand beob­ach­te­te. Eine Zehn­tel­se­kun­de spä­ter über­leg­te er es sich anders, blick­te sich also nicht um… Er kram­te einen Beu­tel aus sei­ner Tasche her­vor — einen Beu­tel im Beu­tel, den er ein­fach nicht weg­wer­fen konn­te, obgleich er ganz dre­ckig und zer­schlis­sen war. Viel­leicht weil er Raum schaf­fen konn­te, wo kei­ner zu sein schien. Acun sehn­te sich nach mehr Raum, mehr Krea­ti­vi­tät, mehr Offen­heit, mehr Mut und mehr Hal­tung! Er kann­te Men­schen, die alles dafür taten, pein­li­che Situa­tio­nen im Leben zu ver­mei­den und des­halb vie­les gar nicht erst versuchten.

In unge­fähr zwei Metern Abstand von den bei­den Kaf­fee­be­cher-Män­nern ließ er sich nie­der, lehn­te sich gegen die Brun­nen­mau­er und häng­te den Beu­tel über sei­nen rech­ten Unter­arm. Er trug eine dunk­le Jeans, ein dun­kel­grü­nes Hemd und sei­ne schwar­zen Haa­re waren gepflegt, aber durch­ein­an­der. Sogleich bemerk­te er die ver­stör­ten Bli­cke sei­ner Nach­barn: „Ent­schul­di­gen Sie bit­te, ich möch­te Sie nicht pro­vo­zie­ren. Es spielt kei­ne Rol­le für mich, wie nötig Sie es haben. Ich sit­ze nur hier, weil ich momen­tan kei­ne Kraft habe, irgend­et­was ande­res zu tun.“

Der Her­un­ter­ge­kom­me­ne war taub oder hat­te nicht zuge­hört, wäh­rend der Gepfleg­te kurz nick­te, jedoch kei­ne Mie­ne ver­zog. Ein Pas­sant ließ im Vor­bei­lau­fen ein hek­ti­sches „Geht arbei­ten!“ fal­len. Acun blick­te zu Boden, ein bit­te­res Schmun­zeln auf den Lip­pen. Wie sehr er sei­ne Arbeit doch lieb­te! Er brauch­te etwas Zeit zum Nicht-Nach­den­ken, sah auf und sah sie.

Puls von 180, sto­cken­der Atem, beklem­men­des Gefühl in der Brust, leuch­ten­de Augen… Er war wie erstarrt. Sie trug einen kur­zen, bun­ten Rock. Puls von 190. Ihr Gesicht war zart und ein biss­chen schief und ihre Haa­re glänz­ten nuss­braun im Son­nen­licht. Puls von 200. Sie wirk­te so voll­kom­men und gleich­zei­tig nicht per­fekt, irgend­wie unglaub­lich stark.

„Acun, was tust du hier?“ War sie frei­wil­lig näher­ge­kom­men oder hat­te sein Blick sie ange­saugt? „Acun?“, frag­te sie erneut und man konn­te ihr anse­hen, wie über­rum­pelt sie war, ihn hier anzu­tref­fen. „Alles in Ord­nung mit dir, Acun?“, rief sie nun lau­ter und bestimm­ter und zupf­te dabei ner­vös am bun­ten Stoff ihres Rocks. Puls von 170. „Hal­lo, ich…“ Acun spür­te etwas Har­tes in sei­nem Nacken.

Zwei star­ke Hän­de packen ihn an und zie­hen ihn zurück. Hin­ter ihm die Hän­de — Absto­ßen­des, das ihn anzieht. Vor ihm sie — Anzie­hen­des, das zurück­weicht. Die Dia­lek­tik der Welt? Die star­ken Hän­de boh­ren sich fes­ter in sei­ne Schul­tern, als er nicht reagiert und zie­hen ihn mit sich fort. Ihr Blick ist wie ver­stei­nert: „Was wol­len Sie? Las­sen Sie ihn los!“ Und ihre Stim­me klingt zitt­rig und hart und wun­der­schön und bru­tal. Nun läuft sie hin­ter­her, nach rechts in die Ein­kaufs­stra­ße und an den Dro­ge­rie­märk­ten vor­bei. Und ihm sind die Hän­de gebunden.

Nach unge­fähr zehn Minu­ten machen sie Halt vor einem gro­ßen Back­stein­ge­bäu­de. Die bei­den Män­ner schub­sen Acun und er, unfä­hig, sich mit sei­nen Hän­den abzu­fan­gen, fällt auf die Knie. „Haben Sie hier gear­bei­tet?“, ruft der eine, auf das Back­stein­ge­bäu­de deu­tend. „Hier geschrie­ben?“, brüllt der ande­re. Acun sieht sich um. Sie kau­ert hin­ter ihm auf dem Boden. Ihr Gesicht berührt den Asphalt, gegen den sie wild atmet. „Ja, ich habe hier gear­bei­tet — hier geschrie­ben.“ Ihr Kopf schießt in die Höhe und ihre Bli­cke tref­fen sich für einen viel zu kur­zen und viel zu lan­gen Augenblick.

Acun woll­te sie wie­der­se­hen und er hat­te sie wie­der­ge­se­hen. Beim Bet­teln, so dach­te sie, aber das war ihm egal. Sie hat­te ihn ange­spro­chen, sogar nach ihm geru­fen und ihn dadurch verraten.

Es war 12.04 Uhr. Der Roll­la­den war halb her­un­ter­ge­las­sen, sodass sich das glei­ßen­de Son­nen­licht nur bis zur Schreib­tisch­kan­te hin aus­brei­ten konn­te. Hei­ßer März in Mit­tel­eu­ro­pa. Acun klapp­te sei­nen Lap­top zu und lehn­te sich zurück. Sein Magen fühl­te sich irgend­wie magne­tisch an – wie ein schwar­zes Loch. Nach­dem er sei­ne dun­kel­grü­ne Tasche gepackt hat­te, ver­ließ er das Büro. Die ande­ren Türen, die von dem lan­gen Gang abgin­gen, waren alle ver­schlos­sen. Sei­ne Kol­le­gen hat­ten die Redak­ti­on sicher schon vor ein bis zwei Stun­den ver­las­sen. Die Weni­gen, die es sich noch erlau­ben konn­ten, bei der Arbeit zu erschei­nen. Konn­te er es sich noch erlau­ben? Wür­de er jemals auf­hö­ren? Und war­um war er noch hier? Viel­leicht hoff­te er, dass die Zukunft, sei­ne eige­ne und die sei­ner Kol­le­gen, nicht so ver­lau­fen wür­de wie in sei­ner Geschich­te. Aus die­sem Grund schrieb er noch.

Anna Appel, gebo­ren 1995, stu­diert Thea­ter- und Medi­en­wis­sen­schaft sowie Ger­ma­nis­tik an der Fried­rich-Alex­an­der-Uni­ver­si­tät Erlan­gen-Nürn­berg. Bereits gegen Ende ihrer Schul­zeit begann sie, Gedan­ken zu notie­ren und klei­ne­re Tex­te zu ver­fas­sen. Durch ein thea­ter­wis­sen­schaft­li­ches Pro­jekt­se­mi­nar, Dra­ma­tur­gie-Hos­pi­tan­zen am Thea­ter und die Mit­ar­beit in der Redak­ti­on eines Uni-Blogs, ver­fes­tig­te sich ihr Wunsch, lite­ra­risch tätig zu sein. Mit „Acuns Geschich­te“ bewarb sie sich bei der Baye­ri­schen Aka­de­mie des Schreibens.