„Störgeräusche zulassen und sich selbst ins Wort fallen“

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Foto: Gaby Gerster

Ein Gespräch mit dem Autor Rainer Merkel

von Tan­ja Selder 

Im Rah­men der zwei­ten Augs­bur­ger Gesprä­che zu Lite­ra­tur und Enga­ge­ment las Rai­ner Mer­kel aus sei­nem 2018 ver­öf­fent­lich­ten Roman Stadt ohne Gott. In die­sem tref­fen drei Figu­ren aus ver­schie­de­nen Län­dern, mit unter­schied­lichs­ten Hin­ter­grün­den und Hoff­nun­gen in Bei­rut – der Stadt der Extre­me – auf­ein­an­der. Tan­ja Sel­der hat für schau­ins­blau nach­ge­fragt, wie der Autor die Fra­ge nach Enga­ge­ment in der Lite­ra­tur für sich beant­wor­tet sowie nach der Ver­or­tung von Lite­ra­tur zwi­schen Fakt und Fiktion.

schau­ins­blau: Ihr lite­ra­ri­sches Werk ist for­mal viel­fäl­tig – Roma­ne, berich­ten­de Tex­te und Repor­ta­gen. Wel­che Erzählformen hal­ten Sie für die Gegen­wart, um bei­spiels­wei­se aus der ‚Erre­gungs­kul­tur‘ her­aus­zu­ste­chen, für adäquat? Wel­ches Poten­zi­al schrei­ben sie repor­ta­ge­ar­ti­gen sowie klas­sisch fik­tio­na­len Gen­res wie dem Roman beim Erzäh­len einer kri­sen­haf­ten Gegen­wart zu?

Rai­ner Mer­kel: Mit einer Repor­ta­ge kann man schnell sein und auf ein aktu­el­les The­ma direkt Bezug neh­men. Im Vor­feld zu Go Ebo­la Go fand ich die Bericht­erstat­tung über die Ebo­la-Kri­se abso­lut nicht in Ord­nung. Die­se hat­te für mich fast etwas Por­no­gra­fi­sches: Die Men­schen wur­den auf ihren Opfer- und Krank­heits­sta­tus redu­ziert; die Bericht­erstat­tung war fokus­siert auf die Hel­den­ta­ten der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft, wäh­rend viel weni­ger berück­sich­tigt wur­de, was auf loka­ler Ebe­ne geleis­tet wird. Des­halb woll­te ich mir selbst vor Ort ein Bild ver­schaf­fen. Ich war vor­her schon eini­ge Male in Libe­ria und eine Repor­ta­ge war das bes­te Mit­tel. Dabei war für mich aber wich­tig, dass mei­ne Sub­jekt­po­si­ti­on mit­the­ma­ti­siert wird sowie dass der Text mög­lichst trans­pa­rent die Metho­den der Recher­che offenlegt.

Erinnerung als Brennglas

Wenn man einen Roman schreibt, nimmt man eine ande­re Posi­ti­on und ande­re Hal­tun­gen ein. Es sind zwei For­men, die eigent­lich rela­tiv weit von­ein­an­der ent­fernt sind. Für eine Repor­ta­ge ist es bes­ser, wenn man sie unmit­tel­bar nach dem Erle­ben auf­schreibt. Denn wenn man zu lan­ge war­tet, kann man zwar noch auf die Noti­zen zurück­grei­fen, aber der Bezug geht etwas ver­lo­ren. Wenn ich jetzt bei­spiels­wei­se über die schwe­di­sche Jour­na­lis­tin schrei­ben wür­de, mit der ich in Libe­ria für die Arbeit an Go Ebo­la Go unter­wegs war, wür­de das The­ma Angst noch viel mehr in den Vor­der­grund tre­ten. Als ich zum Bei­spiel ein Taschen­tuch aus ihrem Ruck­sack holen muss­te, weil sie kei­ne Hand mehr frei hat­te, da sie das an einer lan­gen Tele­skop­stan­ge befes­tig­te Mikro­fon einem Inter­view­part­ner ins Gesicht hielt. Ich erin­ne­re mich an die Panik, dass wir irgend­et­was falsch machen, irgend­et­was anfas­sen könn­ten. Ich weiß nicht mehr, ob die­se Sze­ne im Text eine gro­ße Rol­le gespielt hat, aber wenn ich das aus der Erin­ne­rung her­aus noch mal auf­schrei­ben wür­de, wür­de dies mehr in den Vor­der­grund rücken.

Die Erin­ne­rung ver­grö­ßert und ver­zerrt Din­ge, was für das Schrei­ben von fik­ti­ven Tex­ten hilf­reich ist – aber nicht für eine Repor­ta­ge, die dann leicht aus der Balan­ce gerät. Beim Roman geht es eher dar­um, Lücken und Leer­stel­len aus­zu­fül­len, die dadurch ent­stan­den sind, dass die Erin­ne­rung unser Den­ken manipuliert.

Texte als erzählte Wirklichkeit

schau­ins­blau: Ist dann eine bestimm­te Erzählform ange­mes­se­ner, um gegen­wär­ti­ge Kri­sen­er­fah­run­gen zu beschreiben?

Rai­ner Mer­kel: Das wür­de ich nicht sagen. Es kann sein, dass ein Roman, der ein bestimm­tes Kri­sen­er­eig­nis the­ma­ti­siert, bes­ser gelingt als die Repor­ta­ge. Bei der Repor­ta­ge fehlt manch­mal auch der Abstand. Dann ist man zu nah dran und es wird unmit­tel­ba­rer und emo­tio­na­ler. Gleich­zei­tig kann sich dabei eine gewis­se Blind­heit für grö­ße­re Zusam­men­hän­ge ein­stel­len und man ver­liert sich schnell in Miko-Wahrnehmungen.

schau­ins­blau: Wel­chen Eigen­wert hat das Ästhe­ti­sche, wenn sich fik­tio­na­les und fak­tua­les Erzäh­len über­schnei­den? Wel­che Rol­le spielt die Fiktionalität?

Rai­ner Mer­kel: Das ist für mich deut­lich von­ein­an­der getrennt. Zwi­schen einem Roman und einer Repor­ta­ge lie­gen Wel­ten – bezo­gen auf den Schreib­pro­zess. Bei Stadt ohne Gott zum Bei­spiel habe ich einen Text ver­ar­bei­tet, den ich ein paar Jah­re zuvor für das Kurs­buch über das schii­ti­sche Aschura-Ritu­al geschrie­ben hatte.

Jede Erzählung ist Konstruktion

Ich hat­te die Idee, im Roman eine Figur an die­sem Aschura­fest teil­neh­men zu las­sen. Es war für mich unge­wohnt, einen schon fer­ti­gen Text noch mal anzu­se­hen, um Tei­le dar­aus für einen Roman zu ver­wen­den; das war für mich bei­na­he eine Kan­ni­ba­li­sie­rung, da ich ver­sucht habe, die­sen Text wie­der zu ‚öff­nen‘ und Dia­lo­ge zu schrei­ben, die nun rein fik­tiv waren. Das war ziem­lich kom­pli­ziert und ich wür­de es nicht noch ein­mal machen, weil bei­de Text­for­men nicht unbe­dingt kom­pa­ti­bel sind. Einen abge­schlos­se­nen Text noch mal zu ‚reani­mie­ren‘, ist heikel.

Ich erin­ne­re mich, dass ich hier­für vor Ort Noti­zen gemacht hat­te, weil die Ver­wen­dung eines Aufnahmegeräts schwie­rig war. Wenn man sich bei einem Gespräch nur Noti­zen macht, kann die Wie­der­ga­be des Dia­logs sowie­so nie hun­dert­pro­zen­tig sein. Am Ende ist das, was man schreibt, immer eine Kon­struk­ti­on, weil man eine Aus­wahl trifft und immer nur Tei­le des Gesprächs wie­der­gibt. Des­we­gen ist es mir wich­tig, das im Text zu ‚mar­kie­ren‘, sodass Lesen­de mer­ken, dass es sich hier­bei um eine sub­jek­ti­ve Wahr­neh­mung han­delt. Damit wird der Objek­ti­vi­täts­an­spruch des Jour­na­lis­mus‘ infra­ge gestellt, aber auch klar gemacht, dass eine Repor­ta­ge auch eine Erzäh­lung ist – und zwar eine ‚erzähl­te Wirk­lich­keit‘ und kein genau­es Abbild der Wirklichkeit.

Literatur als Annäherung an die Wirklichkeit

Als ich bei­spiels­wei­se im Rah­men des libe­ria­ni­schen Wahl­kampfs 2011 in Libe­ria zusam­men mit einem Reu­ter-Jour­na­lis­ten ein Gespräch mit dem ehe­ma­li­gen Rebel­len­füh­rer Prin­ce John­son geführt habe, hat uns des­sen Mit­ar­bei­ter am Ende einen Umschlag gege­ben. Da hat­ten wir unse­re Notiz­bü­cher natür­lich schon längst weg­ge­steckt; wir waren schon im Modus der Ver­ab­schie­dung. Es war aber trotz­dem ein wich­ti­ger Moment. Denn in dem Umschlag befand sich Geld. Das war in Libe­ria damals nicht unge­wöhn­lich, da die loka­len Journalist:innen so wenig ver­die­nen, dass sie sich oft nicht ein­mal die Fahrt­kos­ten leis­ten können.

Die span­nen­de Fra­ge ist aber natür­lich, was der Mit­ar­bei­ter genau gesagt hat. Viel­leicht: „Hier habt ihr einen Umschlag mit Fahr­geld.“ Oder: „Hier, das ist ein Umschlag für euch“. Das macht einen gro­ßen Unter­schied. Wenn man die­se Sze­ne wie­der­gibt, muss dies mög­lichst so pas­sie­ren, wie es ver­mut­lich gedacht war – dass es näm­lich kein Bestechungs­ver­such war, son­dern ein in Libe­ria gar nicht unge­wöhn­li­cher Vor­gang. Aber so genau kann man es eben doch nicht sicher sagen, weil wir das Geld nicht ange­nom­men haben und also nicht wuss­ten, wie hoch der Betrag war: ledig­lich Fahr­geld oder doch ein biss­chen mehr?

Allein aus Soli­da­ri­tät zu den ande­ren libe­ria­ni­schen Journalist:innen, hät­ten wir es viel­leicht aber anneh­men sol­len. Ein Jour­na­list, den ich ken­ne und der für The Demo­crat – eine der damals bekann­tes­ten Zei­tun­gen in Libe­ria – geschrie­ben hat, muss­te die­se Arbeit eigent­lich wie ein Hob­by betrei­ben und sein Geld als Zim­mer­mann und Schrei­ner ver­die­nen. Er hat Rega­le ent­wor­fen, Dächer repa­riert und naja, auch Sär­ge gebaut, wenn es not­wen­dig war.

Literatur soll irritieren 

schau­ins­blau: Wie ver­ste­hen Sie das Ver­hält­nis von Enga­ge­ment und Lite­ra­tur? Kann Enga­ge­ment der Lite­ra­tur im Weg ste­hen, bei­spiels­wei­se wenn der Text zum Instru­ment einer Bot­schaft wird?

Rai­ner Mer­kel: Auf der lite­ra­ri­schen Sei­te ist die Enga­ge­ment-Fra­ge auch eine Fra­ge danach, wel­che Per­spek­ti­ve man ein­nimmt. Bei Das Jahr der Wun­der ging es um eine Agen­tur in der New Eco­no­my Ende der 90er Jah­re. Aber es hat sehr lan­ge gedau­ert, bis ich eine Idee ent­wi­ckelt hat­te, wel­che Funk­ti­on der Text für mich haben könn­te. Ob es auch eine poli­ti­sche Ebe­ne gibt und ob es viel­leicht dar­um gehen könn­te, auf­zu­zei­gen, wie in den neo­li­be­ra­len Arbeits­struk­tu­ren exter­ner Druck inter­na­li­siert wird; wie sich das Indi­vi­du­um selbst hier­ar­chi­siert, um exter­nen Ansprü­chen bes­ser gerecht zu wer­den. Das hat sich erst im Schreib­pro­zess her­aus­kris­tal­li­siert und kann nicht auf dem Reiß­brett geplant wer­den. Wie die Haupt­fi­gur auf die­se Selbst­aus­beu­tungs­eu­pho­rie in der New Eco­no­my reagiert, wird im Text nicht bewer­tet; es bleibt im Raum ste­hen, sodass man sich als Leser:in eine eige­ne Mei­nung bil­den kann.

Emanzipation vom Engagement

Bei Bo war das ähn­lich. Da ging es zunächst auch nicht direkt um die NGO-The­ma­tik. Aus­gangs­punkt war eine Geschich­te über einen blin­den libe­ria­ni­schen Jun­gen. Als dann eine ande­re Per­spek­ti­ve dazu kam, näm­lich die von Ben­ja­min, der sei­nen Vater in Libe­ria besucht, änder­te sich auch das The­ma. Es ging dann zudem um die Fra­ge, was Ben­ja­min aus der Erfah­rung mit sei­nem libe­ria­ni­schen Freund lernt und ob ihn das auch ver­än­dert. Sol­che Sachen lau­fen bei der Recher­che mit; was aber nach­her im Text davon übrig bleibt, weiß man vor­her oft nicht. Die Figu­ren eman­zi­pie­ren sich dabei von sol­chen ‚Enga­ge­ment-Gedan­ken‘. Sie neh­men als Figu­ren kei­ne Rück­sicht dar­auf, was sich der:die Autor:in am Anfang über­legt hat.

Unter­hal­tungs­li­te­ra­tur ist dem­nach die ‚enga­gier­tes­te‘ Lite­ra­tur über­haupt: Ganz vie­le Autor:innen in die­sem Bereich haben den Anspruch, ganz expli­zit zu einem bestimm­ten The­ma zu schrei­ben und die Lite­ra­tur ist für sie dann tat­säch­lich ein Instru­ment. Bei so einem Ansatz müs­sen die Figu­ren ‚mit­ma­chen‘. Sie müs­sen sich unter­ord­nen. Sie sind die Erfül­lungs­ge­hil­fen von Plot und Bot­schaft. Als Leser:in bekommt man das oft nicht mit, weil man sich mit den Figu­ren identifiziert.

Intuitive Literatur untersagt Engagementsabsicht

Ich fin­de es aber inter­es­san­ter, wenn die Figu­ren eigen­stän­di­ger und weni­ger bere­chen­bar sind. Dann ent­steht aus den Figu­ren­in­ter­ak­tio­nen und Erzählbewegungen eine Kom­ple­xi­tät, die man als Autor:in selbst nicht mehr kon­trol­lie­ren und nur noch intui­tiv steu­ern kann. Trotz­dem stel­len Tex­te auch immer eine Zurich­tung der Wirk­lich­keit dar. Sie kön­nen mit­un­ter ‚tota­li­tä­re Züge‘ anneh­men, wenn das erzeug­te Sys­tem zu geschlos­sen ist. Des­we­gen muss man Stör­ge­räu­sche zulas­sen und sich selbst als Meta-Instanz immer wie­der ins Wort fal­len. Allein schon des­we­gen ver­bie­tet sich der Ges­tus des Enga­ge­ments, der Anspruch mora­li­scher Über­le­gen­heit. Denn wenn die Figu­ren nur das tun, was man sich für sie aus­ge­dacht hat, dann feh­len die Irri­ta­ti­on und das Stau­nen, das gute Lite­ra­tur für mich immer ausmacht.

Autor: Rai­ner Mer­kel (2012). Foto: Gaby Gers­ter, www.gaby-gerster.de 

Rai­ner Mer­kel lebt in Ber­lin und wur­de 1964 in Köln gebo­ren, er stu­dier­te Psy­cho­lo­gie und Kunst­ge­schich­te. Häu­fig recher­chiert Mer­kel für Buch- und Zei­tungs­pro­jek­te im Aus­land – u.a. in Libe­ria, im Liba­non und in Isra­el. Zwi­schen 2008 und 2009 arbei­te­te er für die huma­ni­tä­re Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on Cap Ana­mur in der ein­zi­gen psych­ia­tri­schen Kli­nik Libe­ri­as. Neben sei­nen Roma­nen – wie Licht­jah­re ent­fernt, der 2009 auf der Short­list des Deut­schen Buch­prei­ses stand – ver­öf­fent­licht Mer­kel auch Repor­ta­gen; bei­spiels­wei­se über die Ebo­la-Epi­de­mie in Libe­ria, für die er vor Ort bei einer loka­len NGO recher­chier­te. 2013 erhielt er den Erich-Fried-Preis.