PolyPlayer und Anderswelten

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Eine Rezension

Ein jugend­li­cher Com­pu­ter­freak ist bru­tal ermor­det wor­den. Mit zer­trüm­mer­tem Schä­del wird er in einem Ber­li­ner Sze­ne­club auf­ge­fun­den. Den anfangs sim­pel schei­nen­den Fall über­nimmt Rüdi­ger Kra­mer, ein erfah­re­ner Ermitt­ler, der bald her­aus­fin­det, dass das längst in die Jah­re gekom­me­ne Com­pu­ter­spiel
Poly­Play den Schlüs­sel zur Auf­klä­rung dar­stellt. Offen­bar hat­te Micha­el Abusch, das Mord­op­fer, eben­so ver­bor­ge­ne wie bri­san­te Levels ent­deckt und war so, für wen auch immer, zu einer erns­ten Gefahr gewor­den. Kra­mer stat­tet also der Her­stel­ler­fir­ma in Köln einen Besuch ab und lässt sich den Com­pu­ter­spiel­klas­si­ker in allen Details erklä­ren. So beginnt
Poly­Play, der 2002 erschie­ne­ne Roman des Tübin­ger Autors Mar­cus Ham­mer­schmitt. Ein Kri­mi­nal­ro­man wie vie­le ande­re, könn­te man mei­nen. Ein so genann­tes Whod­u­nit, eine Sub­gat­tung des Kri­mis, bei der die Ermitt­lung eines Täters im Zen­trum der Hand­lung steht, der meist erst am Schluss dem Leser offen­bart wird. Als ers­te Whod­u­nit-Sto­ry gilt übri­gens Edgar Allan Poes
Mor­de in der Rue Mor­gue, geschrie­ben 1841. Tra­di­tio­nel­le Kri­mi­kost also. Doch weit gefehlt, denn Kra­mer ist Ober­leut­nant der Volks­po­li­zei, und der Mord ereig­net sich am 3. April 2000 in der wie­der­ver­ei­nig­ten DDR. Nach und nach erfährt der Leser, dass die kapi­ta­lis­ti­schen Län­der des Wes­tens Ende der 80er Jah­re alle­samt einer gigan­ti­schen Welt­wirt­schafts­kri­se erle­gen sind. Der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land war gar kei­ne ande­re Wahl geblie­ben, als sich der DDR anzu­schlie­ßen. Deren öko­no­mi­scher Erfolg basiert übri­gens auf einem neu­en Ver­fah­ren zur Ener­gie­ge­win­nung, dem Mül­ler-Loh­mann-Pro­zess, ein Export­schla­ger auf Welt­ni­veau. Außen­po­li­tisch ver­tre­ten wird die Super-DDR des Jah­res 2000 seit 1990 von Josch­ka Fischer, einem der weni­gen West-Poli­ti­ker, der im gesamt­deut­schen, behut­sam refor­mier­ten Sozia­lis­mus sei­ne Kar­rie­re fort­set­zen konn­te. Ein
Mer­ce­des heißt nun
Wart­burg L (L wie Luxus), das all­seits belieb­te Anti­de­pres­si­vum
Pro­zac ist unter dem neu­en Namen
Auf
Zack erhält­lich. So kuri­os das klin­gen mag, die DDR des Jah­res 2000 ist in sich stim­mig und plau­si­bel. Oder etwa doch nicht? In Ober­leut­nant Kra­mer kei­men jeden­falls Zwei­fel auf, je inten­si­ver er sich um die Auf­klä­rung des Fal­les bemüht. Die STASI und Mar­kus Wolf pfu­schen ihm ins Hand­werk, hyper­mo­der­ne Com­pu­ter ver­schwin­den spur­los, geheim­nis­vol­le Per­so­nen tau­chen auf, unglaub­li­che Zufäl­le häu­fen sich, ein Kol­le­ge begeht Selbst­mord, sei­ne Frau betrügt ihn. Zuneh­mend gerät Kra­mers Welt aus allen Fugen, las­sen merk­wür­di­ge Ereig­nis­se den rou­ti­nier­ten Ermitt­ler an sich und an der bis­lang ver­bürg­ten Wirk­lich­keit zwei­feln. Schließ­lich wird ihm der Fall ent­zo­gen, und er lan­det in einer her­un­ter­ge­kom­me­nen Pen­si­on. Erst als sich die Rea­li­tät um ihn her­um buch­stäb­lich auf­löst, wird ihm klar, wer und was er eigent­lich ist: Eine Figur in einem Spiel, des­sen Hand­lungs­ort der Cyber­space ist. Am Ende, genau­er gesagt, nach dem Ende, muss er wie­der zurück in die­ses bizar­re Spiel, des­sen Regeln er nun kennt. Kra­mer ist ein lite­ra­ri­scher Ver­wand­ter von Dou­glas Hall, der Haupt­fi­gur in dem 1964 erschie­ne­nen Roman
Simularcon‑3 des Ame­ri­ka­ners Dani­el Fran­cis Galouye (1920 — 76), von Rai­ner Wer­ner Fass­bin­der 1973 unter dem Titel
Welt am Draht erst­mals ver­filmt. Wie Hall muss Kra­mer erken­nen, dass die Welt, in der er lebt, nur eine vir­tu­el­le ist, eine Simu­la­ti­on. Erneut könn­te man mei­nen, gän­gi­ge Kost vor sich zu haben, dies­mal aus der Gat­tung Sci­ence Fic­tion. Cyber­space-Sto­rys sind wahr­lich nichts Neu­es; ihre Wur­zeln rei­chen zurück bis ins 19. Jahr­hun­dert, und in den 80er Jah­ren erleb­te der Cyber­punk dank Wil­liam Ford Gib­son und Bruce Ster­ling einen wah­ren Boom, ganz zu schwei­gen vom Film
Matrix, der 1999 Mil­lio­nen in die Kinos lock­te. Doch wie­der ist das Urteil zu früh gefällt, denn Ham­mer­schmitt spielt nicht nur mit ver­schie­de­nen Rea­li­täts­ebe­nen, er spielt zugleich auch mit der Erwar­tungs­hal­tung des Lesers, der glaubt, die ver­trau­ten Mus­ter zu ken­nen. Nimmt man noch die Alter­na­te Histo­ry mit hin­zu, eine wei­te­re Sub­gat­tung der Sci­ence Fic­tion, die Sir John Squi­res 1931 mit der Antho­lo­gie
If It Had Hap­pen­ed Other­wi­se begrün­de­te, so stellt Ham­mer­schmitts Roman eine Syn­the­se aus gleich drei Sub­gen­res dar. Bekannt­lich gelin­gen der­ar­ti­ge Expe­ri­men­te nur sel­ten, doch in
Poly­Play füh­ren Whod­u­nit, Cyber­punk und Alter­na­te Histo­ry kein lite­ra­ri­sches Eigen­le­ben, son­dern ver­schmel­zen tat­säch­lich zu einem neu­en Gan­zen. Der unge­wöhn­li­che Reiz des Romans basiert daher nicht zuletzt dar­auf, dass sich die Hand­lung aus den gat­tungs­spe­zi­fi­schen Merk­ma­len aller drei Gen­res gleich­zei­tig speist. Und wie es sich für einen Whod­u­nit gehört, wird am Ende auch ein Täter ermit­telt, doch das Resul­tat sei­ner Ermitt­lun­gen ist für Ober­leut­nant Kra­mer ein Schock und für den Leser eine fas­zi­nie­ren­de Über­ra­schung, da er nun erst die Spie­ler des oben genann­ten Com­pu­ter­spiels ken­nen lernt. Dabei gelingt Ham­mer­schmitt sogar noch eine Stei­ge­rung gegen­über ver­gleich­ba­ren Roma­nen, etwa Chris­ti­an von Dit­furths alter­na­tiv­his­to­ri­schem Roman
Die Mau­er steht am Rhein. Deutsch­land nach dem Sieg des Sozia­lis­mus (1999). Auch in
Der 21. Juli (2001),
Der Con­sul (2003) und
Der Luxem­burg-Kom­plott (2005) ent­wirft der Sohn Hoimar von Dit­furths Alter­na­ti­ven zur deut­schen Geschich­te. Ham­mer­schmitt und von Dit­furth sind nicht die ein­zi­gen deutsch­spra­chi­gen Autoren, die auf die­se Vari­an­te der Sci­ence Fic­tion set­zen. Auch Oli­ver Hen­kel, Kars­ten Kru­schel, Karl­heinz Stein­mül­ler oder Iris Mon­ke durch­strei­fen mög­li­che Par­al­lel­uni­ver­sen nach jenen Exem­pla­ren, in denen Atten­ta­te auf Hit­ler erfolg­reich oder die DDR sieg­reich waren. Risi­ko­freu­di­ge His­to­ri­ker und Hit­ler-Tage­buch-Ent­de­cker wagen gele­gent­lich das Pos­tu­lat, die deut­sche Geschich­te müs­se neu geschrie­ben wer­den. Die genann­ten Autoren tun es ein­fach. Zur Sci­ence Fic­tion wer­den die alter­na­tiv­his­to­ri­schen Ent­wür­fe übri­gens gerech­net, da sie oft als tech­nisch gene­rier­te Uto­pien, Zeit­rei­sen oder Rei­sen in Par­al­lel­wel­ten ange­legt sind. Eini­ge Quan­ten­phy­si­ker, allen vor­an David Deutsch, hal­ten Par­al­lel­uni­ver­sen für eine phy­si­ka­li­sche Rea­li­tät und Ele­ment eines neu­en Welt­bil­des. Für den in Oxford leh­ren­den Bri­ten sind alter­na­ti­ve His­to­ri­en weit­aus weni­ger fan­tas­tisch, als sie dem Leser gemein­hin erschei­nen, son­dern schlicht Vari­an­ten des Bestehen­den, noch dazu sehr wahr­schein­li­che. Weni­ger wahr­schein­lich sind Uni­ver­sen, in denen etwa Grou­cho Marx mit den Stim­men sämt­li­cher Dele­gier­ter zum Prä­si­den­ten der USA gewählt wird oder Hel­mut Kohl die Namen der Spen­der preis­gibt. Unmög­lich sind sie jedoch nicht, denn wis­sen­schaft­lich betrach­tet, unter­lie­gen alle Par­al­lel­wel­ten nur einer Prä­mis­se: ?Die Natur­ge­set­ze gel­ten in allen Uni­ver­sen.” Folgt man Deutsch, ist die tra­dier­te Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen Wirk­lich­keit und Mög­lich­keit, phy­si­ka­lisch betrach­tet, eben­so eine Illu­si­on wie die Zeit. ?Die Welt ist bizarr”, ver­si­chert der Phy­si­ker sei­nen noch zwei­feln­den Kol­le­gen, und stellt bereits Gedan­ke­spie­le an, wie man den par­al­lel exis­tie­ren­den Wel­ten einen Besuch abstat­ten könn­te. Die genann­ten Autoren haben die­sen Weg längst gefunden.

Anderswelten aus dem Netz

Sci­ence Fic­tion ist bekannt­lich ein Pro­dukt der Moder­ne, das roman­ti­sche und natur­wis­sen­schaft­lich-tech­ni­sche, uto­pi­sche und unter­hal­tungs-lite­ra­ri­sche Ten­den­zen in sich ver­eint. Auch im deutsch­spra­chi­gen Raum ver­fügt sie über eine beacht­li­che, von Ger­ma­nis­ten nicht sel­ten über­se­he­ne Tra­di­ti­on, die im 19. Jahr­hun­dert von Autoren wie Juli­us von Voss und Kurd Laß­witz begrün­det wur­de. In der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts ver­hal­fen ihr Albert Dai­ber, Gus­tav Mey­rink, Hans Domi­nik oder Bern­hard Kel­ler­mann zu gro­ßer Popu­la­ri­tät, wäh­rend in der zwei­ten Hälf­te Her­bert W. Fran­ke, Carl Ame­ry oder Johan­na und Gün­ter Braun mög­li­che Zukünf­te lite­ra­risch aus­lo­te­ten. In den letz­ten Jah­ren hat sich eine neue Gene­ra­ti­on von Autoren eta­bliert, die sich in einer geän­der­ten Lite­ra­tur- und Ver­lags­land­schaft bewegt. Waren es frü­her in ers­ter Linie gro­ße Ver­la­ge wie Suhr­kamp, Gold­mann oder Hey­ne, die den Autoren der hybri­den, letzt­end­lich unde­fi­nier­ba­ren Gat­tung ein Podi­um boten, so trifft man heu­te neben den immer weni­ger enga­gier­ten gro­ßen auf eine gan­ze Rei­he klei­ner und kleins­ter Ver­la­ge, wie etwa den Ber­li­ner Shayol-Ver­lag oder den Ham­bur­ger Argu­ment-Ver­lag. Wer jen­seits red­un­dan­ter Mus­ter nach lite­ra­ri­schen Aben­teu­ern sucht, wird ver­stärkt hier fün­dig, trifft auf Micha­el Mar­rak, Mar­cus Ham­mer­schmitt, Tobi­as O. Meiss­ner, Andre­as Gru­ber und ande­re Autoren, deren Aus­flü­ge in denk­ba­re Zukunfts­wel­ten inhalt­lich und ästhe­tisch posi­tiv über­ra­schen. Lei­der reicht heu­te ein schnel­ler Blick ins Sci­ence-Fic­tion-Regal einer Buch­hand­lung zumeist nicht mehr aus, um auf die­se und ande­re Schrift­stel­ler zu sto­ßen, da die Pro­duk­te der klei­nen Ver­la­ge den Weg in den Buch­han­del kaum mehr fin­den. Ohne­hin reprä­sen­tiert das übli­che Ange­bot einer durch­schnitt­li­chen Buch­hand­lung schon lan­ge nicht mehr die wirk­li­chen Ten­den­zen und Qua­li­tä­ten der Sci­ence Fic­tion. Fast immer domi­nie­ren kon­ser­va­ti­ve ame­ri­ka­ni­sche Autoren die Rega­le, die noch immer Ali­ens mit Laser­schwer­tern mis­sio­nie­ren und prä­mo­dern erzäh­lend die Welt zusam­men­hal­ten. Hier ist man mit dem Inter­net bes­ser bedient: Dort fin­det man Zugang zu einer leben­di­gen Sze­ne, Fan­dom genannt, die sich, zum Teil mit viel Enthu­si­as­mus, der Gat­tung ver­schrie­ben hat. Ob Neu­erschei­nun­gen, Rezen­sio­nen, Roman­aus­zü­ge, Anti­qua­ri­ats- und Tagungs­an­ge­bo­te, das Netz hält alles bereit. Vom tra­di­tio­nel­len Buch­han­del, der dem inter­es­sier­ten Leser kaum noch etwas zu bie­ten hat, hat sich die Fan­ge­mein­de weit­ge­hend los­ge­sagt. Selbst ALIEN CONTACT, die viel­leicht wich­tigs­te Zeit­schrift der Sze­ne, erscheint aus­schließ­lich online, Sto­rys und Inter­views inklu­si­ve (
www.epilog.de). Wer der Gat­tung län­ge­re Zeit den Rücken gekehrt hat und nun bei­spiel­wei­se Micha­el Mar­raks
Lord Gam­ma (2000), Alban Niko­lai Herbs­tens
Tethis. Anders­welt (1998) oder Tobi­as O. Meiss­ners
Star­fi­sh
Rules (1997) liest, wird erstaunt sein, auf welch hohem lite­ra­ri­schem Niveau die Autoren ihre Zukünf­te ent­wer­fen. Post­mo­der­ne Zita­te, sur­rea­le Exkur­se und hin­ter­grün­di­ge Iro­nie zäh­len eben­so zu den Aus­drucks­mit­teln wie expe­ri­men­tel­le For­men und das augen­zwin­kern­de Spiel mit den abge­nutz­ten Gen­re­mus­tern. Her­kömm­li­che Gat­tungs­spe­zi­fi­ka oder Gren­zen spie­len weder für Mar­rak noch für Herbst eine Rol­le. Ihre Tex­te sind eine Mix­tur aus klas­si­scher Sci­ence Fic­tion, Gro­tes­ke, Far­ce, Hor­ror und ande­ren Gen­res. Auch bei ihren Vor­bil­dern erle­gen sich die Autoren kei­ne Beschrän­kun­gen auf, son­dern stel­len Bezü­ge zu so unter­schied­li­chen Autoren wie Franz Kaf­ka, Tho­mas Mann, Sta­nis­law Lem, Wil­liam Ford Gib­son, Tho­mas Pyn­chon, Dan­te Ali­ghie­ri oder H. P. Love­craft her. Neben der Lite­ra­tur sind dar­über hin­aus Com­pu­ter­spie­le, Video­clips und Fil­me als deut­li­che Ein­flüs­se zu erken­nen. Vor allem bei Mar­rak und Meiss­ner ist eine Ori­en­tie­rung an der Gra­fik und Dyna­mik aktu­el­ler Com­pu­ter­spie­le nicht zu über­se­hen. Mar­rak nimmt den Leser mit auf eine Ach­ter­bahn­fahrt durch urba­ne Laby­rin­the, bevöl­kert mit bizar­ren Wesen und gro­tes­ken Maschi­nen. Hand­lungs­or­te und Sti­le wech­seln in schnel­ler Fol­ge, ganz so, als sei­en ver­schie­de­ne Autoren am Werk gewe­sen, und doch fügt sich alles zu einem Gan­zen zusam­men. Bei Tobi­as O. Meiss­ner ist der Cock­tail gar so kom­plex, ?dass man das Gan­ze nur mit den ver­sier­tes­ten Mit­teln der Lite­ra­tur­theo­rie beschrei­ben kann”, wie der Kri­ti­ker Peter Mich­al­zik nach einer Lesung Meiss­ners im Rah­men der 12. Inter­na­tio­na­len Früh­jahrs­buch­wo­che 2001 in Mün­chen schrieb. Nicht zuletzt die­se sprach­li­chen Qua­li­tä­ten tra­gen zum Lese­ver­gnü­gen bei. Von den betag­ten Welt­raum­aben­teu­ern, die noch immer die Vor­stel­lun­gen vie­ler Leser prä­gen, sind die genann­ten Autoren auch for­mal Licht­jah­re ent­fernt. Auch wenn die the­ma­ti­sche Spann­brei­te inzwi­schen so umfang­reich ist, dass sie kaum mehr über­schau­bar ist, so lässt sich den­noch eine Ten­denz aus­ma­chen. Vie­le der Roma­ne und Erzäh­lun­gen der jun­gen Autoren­rie­ge han­deln von kata­stro­pha­len oder post­ka­ta­stro­pha­len Wel­ten. Ob Ham­mer­schmitts
Char­ly 2000, Mar­raks
Lord Gam­ma oder Herbs­tens
Tethis.
Anders­welt, ihre Anti­hel­den kämp­fen sich durch zer­stör­te Städ­te, suchen in Atom­bun­kern nach Klo­nen und revol­tie­ren gegen Obrig­kei­ten, die noch immer längst anti­quier­ten Fort­schritts­vor­stel­lun­gen fol­gen. Doch von man­chen die­ser Vor­stel­lun­gen sind auch die Autoren nicht ganz frei: Zwar üben sie erkenn­bar Kul­tur­kri­tik und zeich­nen ein pes­si­mis­ti­sches Bild mög­li­cher Zukünf­te, doch resul­tie­ren die­se aus­ge­rech­net aus jenen Ver­spre­chun­gen, die wir den Opti­mis­ten unter den Pro­gnos­ti­kern zu ver­dan­ken haben. Das Klo­nen von Men­schen, Robo­ter mit künst­li­cher Intel­li­genz und per­fek­te Cyber­space-Tech­no­lo­gien wer­den ganz selbst­ver­ständ­lich als rea­li­sier­bar ange­se­hen. Auch wenn der Zukunfts­op­ti­mis­mus ver­gan­ge­ner Jahr­zehn­te zum unver­zicht­ba­ren Fun­dus gehö­ren mag, aus dem sich die Autoren bedie­nen, am tota­len Schei­tern der Moder­ne, am selbst­ver­schul­de­ten Unter­gang der tech­ni­schen Zivi­li­sa­ti­on haben sie kei­nen Zwei­fel, ledig­lich die Art und Wei­se ist noch zu beschrei­ben. Wie kaum eine ande­re lite­ra­ri­sche Gat­tung gewährt uns die Sci­ence Fic­tion ?einen Blick in des Teu­fels Küche, der wir selbst sind”, heißt es in einem Essay von Mar­cus Ham­mer­schmitt. Und noch einen wich­ti­gen Punkt stellt der exami­nier­te Ger­ma­nist, Phi­lo­soph und Ador­no-Exper­te klar her­aus, näm­lich den, dass in der Gat­tung ?in Wahr­heit die Gerä­te die Haupt­rol­le spie­len.” Hat sich der Mensch einst mit der Natur aus­ein­an­der­set­zen und sich gegen sie behaup­ten müs­sen, so sind es nun sei­ne eige­nen tech­ni­schen Pro­the­sen, die Ver­hal­tens­wei­sen und Über­le­bens­stra­te­gien vor­ge­ben. Egal ob in urba­nen Rui­nen, im Cyber­space, im poli­ti­schen Unter­grund oder in den letz­ten Hoch­bur­gen einer noch halb­wegs zivi­li­sier­ten Mensch­heit, umge­ben von rie­si­gen Beton­mau­ern wie in Herbs­tens
Tethis. Anders­welt, immer defi­niert sich der Mensch durch oder wider die Maschi­ne, stirbt durch sie oder ver­dankt ihr das Über­le­ben. In den exem­pla­risch genann­ten Roma­nen erscheint der Mensch als musea­les Wesen, das sich vor sei­ner end­gül­ti­gen Ent­wick­lung zum Expo­nat noch ein­mal sei­nen Hoff­nun­gen hin­ge­ben darf, das Macht aus­üben, lie­ben, has­sen, töten und sich sinn­los berei­chern darf, ehe Evo­lu­ti­on und Tech­noevo­lu­ti­on ohne ihn fort­fah­ren. Doch war­um soll­te man der­ar­ti­ge Geschich­ten vom Ende der Geschich­te lesen? Span­nend sind sie ohne­hin, kei­ne Fra­ge, aber vor allem füh­ren sie uns von bis­lang unbe­kann­ten Per­spek­ti­ven aus Men­schen vor, die in einer Welt leben, die von uns der­zeit mit gro­ßem Auf­wand auf den Finis mun­di vor­be­rei­tet wird. Es sind über­for­der­te, wider­sprüch­li­che, inner­lich zer­ris­se­ne, enig­ma­ti­sche Men­schen, deren Gefüh­le und Ängs­te der Leser den­noch nach­voll­zie­hen kann. Auch die kata­stro­pha­len Wel­ten sind uns nicht abso­lut fremd, da sie ten­den­zi­ell bereits exis­tie­ren. Micha­el Mar­rak, Tobi­as O. Meiss­ner, Alban Niko­lai Herbst, Mar­cus Ham­mer­schmitt und ande­re füh­ren sie uns nur, getreu der Dürrenmatt´schen Devi­se, als zu Ende gedach­te vor. Das Urteil über die­se Wel­ten und die mög­li­cher­wei­se zu zie­hen­den Kon­se­quen­zen aus ihrem Zustand über­las­sen sie dem Leser. Der pol­ni­sche Sci­ence-Fic­tion-Autor Sta­nis­law Lem hat die Gat­tung 1987 in einem Essay als ?hoff­nungs­lo­sen Fall” bezeich­net. Zumin­dest auf die genann­ten Autoren trifft die­ses Urteil nicht zu. Auch wenn sie oft den Unter­gang beschrei­ben, der Fas­zi­na­ti­on, die von ihren Zukunfts­wel­ten aus­geht, kann sich der Leser kaum entziehen.

Literatur:

  • ?Die Welt ist bizarr”, Spie­gel-Gespräch mit dem bri­ti­schen Quan­ten­phy­si­ker David Deutsch. In: Der Spie­gel 11/2005, S. 185 — 188
  • Dür­ren­matt, Fried­rich: 21 Punk­te zu den Phy­si­kern. In: Die Phy­si­ker, Zürich 1962, S. 75 — 79
  • Essel­born, Hans (Hg.): Uto­pie, Anti­uto­pie und Sci­ence Fic­tion im deutsch­spra­chi­gen Roman des 20. Jahr­hun­derts, Würz­burg 2003
  • Fau­re, Ulrich: Geo­lo­gi­sche Revi­si­on. Alban Niko­lai Herbsts Roman ?The­tis Anders­welt”. In: Rhei­ni­scher Mer­kur, 06.10.1998
  • Fless­ner, Bernd (Hg.): Nach dem Men­schen. Der Mythos einer zwei­ten Schöp­fung und das Ent­ste­hen einer post­hu­ma­nen Kul­tur, Frei­burg im Breis­gau 2000
  • Fless­ner, Bernd: Cyber­space im Kai­ser­reich. Vier Pha­sen der Dif­fu­si­on einer neu­en Tech­no­lo­gie. In: Jean-Marie Valen­tin (Hg.): Akten des XI. Inter­na­tio­na­len Ger­ma­nis­ten­kon­gres­ses, Paris 2005, Band 7, Bern, Ber­lin, Brüs­sel u.a. 2008, S. 345 — 349
  • Ham­mer­schmitt, Mar­cus: Poly­play, Ham­burg 2002
  • Ham­mer­schmitt, Mar­cus: Wight Light / White Heat. Sci­ence Fic­tion und das Ver­al­ten der Zukunft. In: Ders.: Der Glas­mensch, F.a.M. 1995, S. 173 — 188
  • Herbst, Alban Niko­lai: The­tis. Anders­welt, Rein­bek bei Ham­burg 1998
  • Inner­ho­fer, Roland: Deut­sche Sci­ence Fic­tion 1870 — 1914. Rekon­struk­ti­on und Ana­ly­se der Anfän­ge einer Gat­tung, Wien/Köln/Weimar 1996
  • Klotz, Udo u. Neu­mann, Hans-Peter: Sci­ence Fic­tion in Deutsch­land 2003. In: Shayol Jahr­buch der Sci­ence Fic­tion 2003, Ber­lin 2004, S. 30 — 36
  • Squi­re, John Col­lings (Hg.): If It Had Hap­pen­ed Other­wi­se, Lon­don 1931. Deutsch: Wenn Napo­le­on bei Water­loo gewon­nen hät­te, Mün­chen 1999
  • Stein­mül­ler, Ange­la & Karl­heinz: Visio­nen 1900 — 2000 — 2100, Eine Chro­nik der Zukunft, Ham­burg 1999
  • Vogt, Jochen Hg.): Der Kri­mi­nal­ro­man. Poe­tik- Theo­rie — Geschich­te, Mün­chen 1998