Nino Haratischwili — Juja

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von Tabea Krauß

Bücher, die von Büchern han­deln, haben einen ganz eige­nen Zau­ber. Bücher, in denen Lesen zum Aben­teu­er wird, zie­hen uns beson­ders in ihren Bann. In Nino Hara­ti­schwi­lis Roman „Juja” wird Lesen zum töd­li­chen Abenteuer.

Die Sto­ry ist groß­ar­tig unheim­lich. Ein dün­nes Heft­chen treibt gleich Goe­thes Wert­her Lesen­de zur Selbst­tö­tung. Genau genom­men Lese­rin­nen. Das Heft ent­hält die Gedan­ken einer 17-Jäh­ri­gen, die in den 50er Jah­ren in Paris in einer Dach­kam­mer haust und ihre apo­ka­lyp­ti­schen Phan­ta­sien poe­tisch auf­be­rei­tet nie­der­schreibt, bevor sie sich vor den Zug wirft. Ver­öf­fent­licht wer­den Jean­ne Sarés nacht­schwar­ze Noti­zen erst mehr als 20 Jah­re spä­ter in einem klei­nen Verlag.

Das Buch wirkt wie eine Dro­ge. Die Frau­en, die mit dem Text in Berüh­rung kom­men, schei­nen auf unheim­li­che Wei­se ver­wan­delt zu wer­den. Die Außen­welt wird für sie unwich­tig. Es zählt nur noch das Buch, sie fol­gen die­sem Buch — bis in den Tod. Bis zum Jahr 1992 sind fünf­zehn Selbst­mor­de zu ver­zeich­nen, die ein­deu­tig in Zusam­men­hang mit dem Text ste­hen. Die letz­te Selbst­mör­de­rin ist die Frau des Verlegers.

Im Jahr 2004 machen sich ein Stu­dent und eine jun­ge Kunst­wis­sen­schaft­le­rin auf nach Paris, um her­aus­zu­fin­den, was es mit der töd­li­chen Macht des Buches auf sich hat. Ihre Nach­for­schun­gen stif­ten jedoch noch mehr Ver­wir­rung. Jean­ne Saré, die jugend­li­che Schrift­stel­le­rin, scheint es nie gege­ben zu haben…

Wer jedoch ist dann die Pro­du­zen­tin die­ser dunk­len Gedan­ken und abstru­sen Geschich­ten? Wer hat Jean­ne Saré, das dür­re Mäd­chen mit dem kurz gescho­re­nen Haar, das sich mit Spie­gel­scher­ben das Gesicht zer­schnei­det, Schau­fens­ter­pup­pen in die Augen starrt und Bäcker­leh­rin­ge ver­führt, erfun­den, wenn nicht sie selbst es war? Etwa der Ver­le­ger, der sich sei­ne etwas ande­re Traum­frau schaf­fen woll­te, und mit sei­ner Ver­eh­rung die­ses Phan­tas­mas sei­ne eige­ne Gat­tin in den Tod trieb? Ist Jean­ne Saré das Pro­dukt von Pro­jek­tio­nen und Phan­ta­sien eines Man­nes? Hat ein Mann die­se Figur erschaf­fen, mit der sich Frau­en bis hin zur Selbst­auf­ga­be identifizierten?

Neben der Fra­ge nach dem Autor oder der Autorin, der Fra­ge nach Authen­ti­zi­tät, geht es vor allem um eines: Schmerz. Um die Lust am Schmerz und die Schmer­zen der Lust. Um Ver­let­zung und Begier­de, Ernied­ri­gung und Hin­ga­be, Ekel und Lie­be. Ledig­lich im Schmerz schei­nen die Figu­ren zu spü­ren, dass sie am Leben sind, in dem Schmerz, der sie schließ­lich doch tötet. Hier schreibt eine Frau von Gewalt. Die Frau ist nicht Opfer der Gewalt, die Frau ist zur Erzäh­le­rin der Gewalt geworden.

Nicht erwar­ten dür­fen wir von Hara­ti­schwi­li jedoch einen so geni­al mit­leids­lo­sen Erzähl­ges­tus, wie wir ihn aus Eva Men­as­ses „Läss­li­chen Tod­sün­den” ken­nen. Das ist viel­leicht genau der Punkt, den man Hara­ti­schwi­li vor­wer­fen kann: zuviel Pathe­tik, zuviel Dramatik.

Man merkt, dass Hara­ti­schwi­li vom Thea­ter her kommt — auch an der Struk­tur des Romans. Im ers­ten Teil tritt eine begrenz­te Anzahl von Per­so­nen an ver­schie­de­nen Schau­plät­zen, zu ver­schie­de­nen Zei­ten auf. In sich abwech­seln­den Sequen­zen wer­den die Köp­fe und Kör­per der ein­zel­nen Figu­ren von Hara­ti­schwi­li aus­ge­leuch­tet. Im zwei­ten Teil ver­stri­cken sich die Geschich­ten inein­an­der, in Paris lau­fen die Lini­en zusammen.

Durch die lan­gen Pas­sa­gen wört­li­cher Rede und all­zu vor­aus­seh­ba­re Fügun­gen der Hand­lung fühlt man sich jedoch manch­mal eher an eine Sei­fen­oper erin­nert als an ein Thea­ter­stück. Aus dem Stoff, den Hara­ti­schwi­li bear­bei­tet, hät­te mehr her­aus­ge­holt wer­den kön­nen. Eine gro­ße Sprach­künst­le­rin ist sie nicht. Wen jedoch Sät­ze wie „Es war alles so ver­lo­gen” oder „…er begann ihren Kör­per mit sei­nen Hän­den zu kne­ten, als wol­le er eine Skulp­tur erschaf­fen” nicht abschre­cken, wird die groß­ar­tig unheim­li­che Sto­ry genie­ßen können.

PS.

Der Ver­lag hat mir, zu mei­ner Ver­wun­de­rung, mit dem Rezen­si­ons­exem­plar des Buches eini­ge zusam­men­geta­cker­te DinA‑4 Sei­ten mit­ge­schickt: einen Zeit-Arti­kel aus dem Jahr 1978 mit dem Titel „Ehre dem Tod”. Es han­delt sich um eine Bespre­chung der deut­schen Erst­aus­ga­be des in Frank­reich erschie­nen Buches einer gewis­sen Dani­elle Sar­ré­ra. Hin­ter den Zeit-Arti­kel gehef­tet fin­de ich einen Wiki­pe­dia-Ein­trag zu Dani­elle Sar­ré­ra, einer „fiktive[n] fran­zö­si­schen Dich­te­rin”, wie es dar­in heißt. Ihre Wer­ke sei­en zeit­wei­se dem Ver­le­ger Fre­dé­rick Tris­tan zuge­schrie­ben wor­den, letzt­lich sei die Autorin oder der Autor des Tex­tes aber bis heu­te unbe­kannt.
Hara­ti­schwi­lis genia­le Sto­ry ist eine wah­re Geschich­te! Auch mich packt nun der For­schungs­drang.
Ich habe mir das Buch von Dani­elle Sar­ré­ra über ein Anti­qua­ri­at im Inter­net bestellt.
Ver­mut­lich wer­de ich mich nicht umbringen.

Nino Hara­ti­schwi­li: Juja
Ver­bre­cher Ver­lag 2010
304 Sei­ten