von Myriam Kammerlander
Ich merÂke es an der Uhr. Die alte TicktÂackÂuhr an Omas Wand, die jeden Abend aufÂgeÂzoÂgen werÂden muss. Sie ging auf die MinuÂte genau und schlug zuverÂläsÂsig zu jeder VierÂtelÂstunÂde. Bim bam. MitÂtags wie mitÂterÂnachts schlug sie zwĂślfÂmal ohne ErbarÂmen. Zu nachtÂschlaÂfeÂner Zeit wussÂten wir genau, wie spät es war.
Nicht so jetzt. Jemand hat die Uhr nicht mehr oder zu spät aufÂgeÂzoÂgen, und der MechaÂnisÂmus hat sich davon nicht erholt. Die Uhr tickt und schlägt seitÂher in AnarÂchie. VierÂtel vor ist vierÂtel nach, und stänÂdig ist es fĂźnf vor halb. Oma und ihre Uhr leben in einem DauÂerÂzuÂstand der ZeitÂloÂsigÂkeit und schreÂcken nur auf, wenn wir zu Besuch komÂmen und fraÂgen: Soll ich mal deiÂne Uhr aufÂzieÂhen? Wir verÂsuÂchen die Zeit anzuÂhalÂten, indem wir die Uhr nachÂstelÂlen, aber sie hat ihren eigeÂnen Rhythmus.
Als KinÂdern war uns die Zeit egal. Wir maĂen sie in SonÂne, Sand, Seifenblasen.
Omas Uhr hinÂgeÂgen takÂteÂte den Tag genau. Sechs Uhr dreiÂĂig aufÂsteÂhen, sieÂben Uhr FrĂźhÂstĂźck, danach HausÂputz. MitÂtagÂessen um halb eins. Opa schnitt am KĂźchenÂtisch knirÂschend ChiÂnaÂkohl in filiÂgraÂne StreiÂfen. Oder es gab EisÂbergÂsaÂlat mit FertigsoĂe.
ManchÂmal ĂźberÂfalÂlen mich aus dem HinÂterÂhalt die EssensÂgeÂrĂźÂche meiÂner KindÂheit. FischÂstäbÂchen, SchlemÂmerÂfiÂlet, die ganÂze BofrostÂpaÂletÂte. KarÂtofÂfelÂbrei dazu. Und der SpiÂnat mit dem Blubb. Oma kochÂte nicht gern. Aber sie war gut organisiert.
Es gibt noch BlubbspiÂnat in der TiefÂkĂźhlÂtruÂhe, es gibt vorÂgeÂkochÂte MahlÂzeiÂten fĂźr MonaÂte, doch Oma isst wie ein VĂśgelÂchen. Sie mag ihre SupÂpe nicht aufÂesÂsen. Nicht mal den NachÂtisch. FrĂźÂher ging immer noch ein NachÂtisch rein. Nach Opas Tod ĂźberÂbrĂźckÂte sie wochenÂlang mit NesÂcaÂfĂŠ und Schokowaffeln.
Ich habe Oma einen LieÂgeÂstuhl in den GarÂten gestellt. DarÂin sitzt sie schief und krumm, wähÂrend ich ihr die HaaÂre schneiÂde. Es ist AltÂweiÂberÂsomÂmer, ein Wort, das ich von Oma gelernt habe. Wenn die SpinnÂwebÂfäÂden wie silÂberÂne HaaÂre durch die LĂźfÂte treiÂben und alles ist in dieÂses golÂdeÂne Licht getaucht, und der HimÂmel ist blau und wirkt manchÂmal verÂwaÂschen, und morÂgens liegt Tau.
Oma hat spinnÂwebÂfeiÂne HaaÂre und spinnÂwebÂfeiÂne FalÂten, ihre OberÂarÂme zeichÂnet ein FurÂchenÂmusÂter, die Zeit hat RinÂde aus ihrer Haut gemacht. Ihre Augen sind leuchÂtend blau. Schon immer. Sie sieht mich prĂźÂfend an und fragt: Und, verÂlobt ihr euch mal?
Gleich muss ich zum Zug. Jetzt ist mein Tag getakÂtet, ich habe immer nur ein paar StunÂden fĂźr Oma. DarÂin muss ich alles unterÂbrinÂgen, ich muss zum FriedÂhof, zur Bank, RasenÂmäÂhen, ich muss all die DinÂge erleÂdiÂgen, die Oma nicht mehr schafft.
Sie mag es nicht, dass wir uns um sie kĂźmÂmern mĂźsÂsen. Allein sein mag sie auch nicht. Zur BegrĂźÂĂung fragt sie: Und wann kommst du wieÂder? Zum Abschied: MĂśchÂtest du dich nicht noch ein wenig in den LieÂgeÂstuhl setÂzen? Beim nächsÂten Mal, sage ich meistens.
Die TicktÂackÂuhr schlägt elf. Es ist vier. Ich kĂźnÂdiÂge schon mal an, dass ich bald los muss, damit Oma späÂter nicht so ĂźberÂrascht davon ist. Nimm dir Ăpfel mit, sagt sie, wer soll die denn sonst alle essen? Der ApfelÂbaum trägt wunÂderÂbar, aber man muss die Ăpfel essen, sie halÂten nicht lange.
Und dann fragt Oma: Brauchst du nicht Wäsche? Du kannst dir was aus meiÂnem KleiÂderÂschrank ausÂsuÂchen. WirkÂlich?, fraÂge ich. Jaja, sagt Oma, was soll ich denn mit all den Sachen.
Im SchlafÂzimÂmer riecht es unbeÂwohnt. Ich streiÂche Ăźber Omas seiÂdeÂnen BadeÂmanÂtel, finÂde einen dĂźnÂnen Schlips von Opa, lasÂse alles, wo es ist. Die SchleifÂchen und SchaÂtulÂlen, PorÂzelÂlanÂfiÂguÂren und PerÂlenÂketÂten. Die Fotos meiÂner KusiÂnen und mir an den WänÂden, mit schieÂfen ZähÂnen, SchulÂtĂźÂten und KomÂmuÂniÂonÂkerÂzen. KunstÂwerÂke aus unseÂren KinÂderÂgarÂtenÂzeiÂten, sorgÂfälÂtig aufÂbeÂwahrt. Die NachÂbilÂdung von DĂźrers betenÂden HänÂden, vor der ich als SieÂbenÂjähÂriÂge ehrÂfĂźrchÂtig stand. Die NachtÂtischÂlamÂpe mit dem gedrechÂselÂten FuĂ, der Schirm ist volÂler FlieÂgenÂdreck. Das EheÂbett sieht aus wie frisch bezogen.
In der Nacht, als Opa starb, war das Haus voll. MeiÂne Eltern und Oma wachÂten unten im WohnÂzimÂmer, um das PfleÂgeÂbett herÂum, in dem Opa zwiÂschen geblĂźmÂten Laken immer weiÂter schrumpfÂte. MeiÂne SchwesÂter und ich lagen oben im Bett der GroĂÂelÂtern. Da durfÂten wir als KinÂder nur hinÂein, wenn wir krank waren und uns schnell gesund schlaÂfen sollten.
Gegen drei Uhr morÂgens schreckÂte ich angstÂerÂfĂźllt hoch mit dem GefĂźhl, jemand stĂźnÂde neben mir. SpäÂter dachÂte ich, ob das wohl der Tod war, der sich in der EtaÂge geirrt hat. Mein GroĂÂvaÂter starb kurz darÂauf, als endÂlich alle einÂgeÂnickt waren. Das PfleÂgeÂbett steht jetzt wieÂder im Wohnzimmer.
In dieÂsem SomÂmer muss ich andauÂernd an dieÂse Zeit denÂken. VielÂleicht weil Oma so deutÂlich verÂschwinÂdet. Wir mĂźsÂsen das Haus ausÂräuÂmen, sagt meiÂne MutÂter einÂmal beiläufig.
Nun steÂhe ich mitÂtenÂdrin im SamÂmelÂsuÂriÂum eines Lebens und weiĂ nicht wohin mit mir. Im WäscheÂschrank stoÂĂe ich auf die geblĂźmÂten Laken, auf die mein GroĂÂvaÂter damals gebetÂtet lag wie auf einer BluÂmenÂwieÂse. DarÂunÂter entÂdeÂcke ich schlieĂÂlich die UmkleiÂdeÂkaÂbiÂne. Ein schlauchÂarÂtiÂger, bodenÂlanÂger Umhang aus FrotÂteeÂstoff, unter dem sich Oma frĂźÂher beim Baden umgeÂzoÂgen hat. Der Umhang war am Hals mit GumÂmiÂband gerafft. Aus dieÂser TĂźlÂle guckÂte oben Omas Kopf herÂaus. Wir betrachÂteÂten ihre MetaÂmorÂphoÂse mit FasÂziÂnaÂtiÂon. Sie glich einem ĂźberÂdiÂmenÂsioÂnaÂlen OsterÂei, blau mit weiÂĂen Punkten.
Der Stoff fĂźhlt sich rau an unter meiÂnen FinÂgern. PlĂśtzÂlich befällt mich eine groÂĂe DringÂlichÂkeit. Ich muss dieÂsen Umhang unbeÂdingt retÂten. Weil in ihm eine ganÂze KindÂheitsÂwelt wohnt. Eine Welt, die ich mit Oma geteilt habe und an die sich auĂer mir vielÂleicht nieÂmand erinnert.
Als ich Oma meiÂnen Schatz zeiÂge, muss sie lachen: Das ist ja die UmkleiÂdeÂkaÂbiÂne. Die war so kommod.
FrĂźÂher ist Oma oft mit der NachÂbaÂrin ins FreiÂbad gefahÂren. Die NachÂbaÂrin fuhr besÂser Auto, aber Oma konnÂte länÂger im WasÂser bleiÂben. Jetzt ist der Umhang um einiÂges länÂger als Oma. Man kĂśnnÂte sie vollÂstänÂdig darÂin verÂschwinÂden lasÂsen und wieÂder herÂvorÂzauÂbern wie ein weiĂÂhaaÂriÂges KaninÂchen. WähÂrend ich noch mit dieÂsem Bild beschäfÂtigt bin, sagt Oma gedanÂkenÂverÂloÂren: Ich glauÂbe, die muss ich aufÂheÂben, falls wir mal wieÂder zusamÂmen SchwimÂmen fahren.
Jetzt muss ich fast lachen, weil Oma seit zehn JahÂren nicht mehr SchwimÂmen war und auch lanÂge nicht mehr bei der NachÂbaÂrin zum KafÂfee. Aber ich nicke nur und verÂsteÂhe, dass Oma den Umhang unbeÂdingt aufÂbeÂwahÂren muss. Nur fĂźr den Fall.
Ich traÂge meiÂne ErinÂneÂrunÂgen wieÂder ins Haus. Dann ernÂte ich ein paar Ăpfel vom Baum.
Du musst die RotÂbaÂckiÂgen nehÂmen, ruft die NachÂbaÂrin herÂĂźber, die, mit der Oma immer schwimÂmen war. Die schmeÂcken am besÂten. Ja, sagt Oma, sie halÂten nur nicht lanÂge. Das macht nichts, sage ich, dann esse ich sie alle auf und komÂme wieÂder, wenn ich sie aufÂgeÂgesÂsen habe. VielÂleicht pflanÂze ich auch einen Kern ein und schaue, ob etwas wächst.
Die KirchÂturmÂuhr schlägt vierÂtel vor sechs. Die WohnÂzimÂmerÂuhr bei Oma zeigt irgendwas.
Die Ăpfel dufÂten wunÂderÂbar. Nach Altweibersommer.
Die MischÂtechÂnik-ColÂlaÂge SepÂtemÂber BlauÂgold wurÂde von MyriÂam KamÂmerÂlanÂder selbst erstellt.
