Die ferne Muttersprache

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von Jan Koneffke

 

Die Spra­che hat ein Gedächt­nis, ist ein Spei­cher der Geschich­te, erin­nert an etwas, auch wenn ihr Spre­cher sich an die­ses etwas nicht erin­nert, wenn er sie gedan­ken­los benutzt, erin­ne­rungs­los. Und manch­mal ist es eben die Ent­fer­nung zur Spra­che, die jene Erin­ne­rung stiftet.

„Nicht die Gelieb­te ist fern, son­dern Ent­fer­nung ist die Gelieb­te”, lau­tet ein Bon­mot des Wie­ners Karl Kraus. Die geist­rei­che Spit­ze gegen roman­ti­sche Sehn­suchts­stra­te­gien lässt sich aber auch ganz nüch­tern ver­ste­hen, wenn man sie bei­spiels­wei­se auf gelieb­te Müt­ter bezieht. Und, war­um nicht, auf die Muttersprache.

Das Ver­hält­nis von Nähe und Fer­ne in Bezug auf die Mut­ter­spra­che ist kom­plex, die äußers­te Nähe droht mit blin­den Sprach-Kon­ven­tio­nen, die äußers­te Fer­ne mit dem Ver­lust der leben­di­gen Spra­che. Letz­te­res war die Erfah­rung der exi­lier­ten Autoren in den 30er und 40er Jah­ren. Sie ver­lo­ren nicht nur ihr mut­ter­sprach­li­ches Lese­pu­bli­kum, son­dern lit­ten auch unter der Ver­trei­bung aus dem hei­mi­schen Sprach­raum, schrie­ben wei­ter unter dem Sau­er­stoff­zelt des Exils. Sie beharr­ten auf einer moder­nen Spra­che, wäh­rend die zu Hau­se in bar­ba­ri­sches Kau­der­welsch absank. Kurio­se Kon­se­quenz: Der heim­ge­kehr­te Döb­lin bei­spiels­wei­se war nach dem Krieg zwei­fel­los der moder­ne­re Autor ver­gli­chen mit den Bor­cherts und Bölls, die sich der Eich­schen „Inven­tur” unter­zo­gen hat­ten. Der moder­ne­re Döb­lin war ein ana­chro­nis­ti­scher Autor gewor­den. Oder sagen wir bes­ser: Ein unzeit­ge­mä­ßer. Nicht nur außer­äs­the­ti­sche Grün­de führ­ten zur Ableh­nung der Exil-Autoren durch das hei­mi­sche Publi­kum, die im Vor­wurf der Deser­ti­on, ja des Ver­rats gip­fel­ten. Die Exil-Autoren wur­den zu „Fremd­lin­gen im eige­nen Haus” auch des­halb, weil sie Sprach-Fremd­lin­ge gewor­den waren.

In Hin­sicht auf einen Döb­lin, einen Hein­rich Mann oder — beson­ders trau­ri­ges Bei­spiel — einen Oskar Maria Graf bekommt das Kraus-Bon­mot einen bit­te­ren Hin­ter­sinn. Für die­se Autoren war die Gelieb­te durch­aus schmerz­haft fern, die gelieb­te Mut­ter­spra­che, aber auch Ent­fer­nung war die Gelieb­te, nicht nur weil die Hei­mat Haft, Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger und Ermor­dung bedeu­ten konn­te, son­dern weil die leben­di­ge Spra­che zuge­rich­tet, ent­stellt, ver­ge­wal­tigt wurde.

Ich mache die­se Vor­be­mer­kun­gen, um jedes Miss­ver­ständ­nis aus­zu­schlie­ßen. Wenn ich über die Nähe und Fer­ne zur Mut­ter­spra­che reden wer­de, dann rede ich von Erfah­run­gen, die nicht vom Über­le­bens­schmerz grun­diert sind. Ich rede nicht vom Exil, son­dern von einer auf­halt­sa­men Rei­se und Sprach-Rei­se durch das heu­ti­ge, befrie­de­te Europa.

Höl­de­rins Hype­ri­on konn­te kein Volk sich den­ken, „daß zer­riß­ner wäre, wie die Deut­schen.” Er sah Hand­wer­ker, Den­ker, Pries­ter, Herrn und Knech­te, jun­ge und gesetz­te Leu­te — aber kei­ne Men­schen. Ich sah, Anfang der 90er Jah­re, in Ber­lin lebend, lau­ter wie­der­ver­ei­nig­te Deut­sche. Und alle beklag­ten sich, kein Volk zu ken­nen, daß zer­riß­ner wäre, als sie. Vor der ver­bis­se­nen Nabel­schau der Deut­schen — nur noch die Par­odie der Kla­ge, die „der Ere­mit in Grie­chen­land” geführt hat­te — wich ich nach Ita­li­en aus. Ins Sehn­suchts­land der Deut­schen also. Ent­fer­nung war die Geliebte.

Aber welch wun­der­sa­me, euro­päi­sche, Koin­zi­denz: In Deutsch­land regier­ten die treu­en Hän­de der Treu­hand, in Ita­li­en die mani puli­te. In Deutsch­land wusch eine treue Hand die ande­re, aber auch die mani puli­te woll­ten nicht rich­tig sau­ber wer­den. Die Deut­schen hat­ten die Schnau­ze voll, vor allem von sich selbst, die Ita­lie­ner die Schach­teln — ne abbia­mo pie­ne le sca­to­le -, die Nord­ita­lie­ner von den Süd­ita­lie­nern und alle zusam­men von ihrer kor­rup­ten poli­ti­schen Klas­se. Des­halb wähl­ten sie den Kor­rup­tes­ten unter ihnen zum Regie­rungs­chef. Wäh­rend die Deut­schen ihre Sta­si-Lei­chen aus dem Kel­ler zerr­ten — vor­zugs­wei­se die West­deut­schen, es waren ja auch weder ihre Kel­ler, noch ihre Lei­chen -, hol­ten die Ita­lie­ner ihre Ske­let­te aus dem Schrank — i sche­le­tri nel­l’ar­ma­dio -, staub­ten sie ab und stell­ten sie in den Schrank zurück, um fort­an wie­der Schul­ter an Schul­ter mit ihnen zu leben.

Stel­len Sie sich, sagt Sig­mund Freud in sei­nen Vor­le­sun­gen zur Ein­füh­rung in die Psy­cho­ana­ly­se, stel­len Sie sich das Gedächt­nis wie die Stadt Rom vor, aber so, als ob in ihr noch alle Gebäu­de von ihrer Ent­ste­hungs­zeit bis heu­te gleich­zei­tig vor­han­den wären. Mich beschäf­tig­te die­se Ver­sinn­bild­li­chung des Gedächt­nis­ses nicht nur des­halb, weil in ihr das Gedächt­nis eine — wie auch immer phan­tas­ti­sche — Räum­lich­keit annimmt. Nicht nur des­halb, weil in ihm, Freuds Vor­stel­lung gemäß, nichts ver­lo­ren gehen kann. Nicht ein­mal nur des­halb, weil sei­ne bild­lich-räum­li­che Beschrei­bung, wenn man sie beim Wort nimmt, das Gedächt­nis zu einem Spei­cher der Geschich­te über­haupt macht. Als ob das Gedächt­nis, das es ja nur in den jeweils ein­zel­nen Sub­jek­ten geben kann, mehr ent­hält, als ihre je eige­nen Wahr­neh­mun­gen, Erleb­nis­se, Erfah­run­gen, näm­lich auch Wahr­neh­mun­gen, Erleb­nis­se, Erfah­run­gen aus einer Zeit vor ihrer Geburt, die poten­ti­ell ins Bewusst­sein tre­ten können.

Nein, mich beschäf­tig­te die­se Freud­sche Ver­sinn­bild­li­chung sei­nes Gedächt­nis­be­griffs vor allem des­halb, weil ich in Rom leb­te. Sie erin­ner­te mich an jene hand­li­chen Tou­ris­ten­al­ben mit kolo­rier­ten Fotos der his­to­ri­schen Rui­nen Roms, über die man eine trans­pa­ren­te Folie legen kann, die sie um ihre ver­schwun­de­nen Mau­ern, Säu­len, Frie­se ergänzt: Ein Palim­psest der Zeit. Sie erin­ner­te mich nicht zuletzt an mich selbst, der die Stadt erkun­de­te, halb betäubt von ihrer sinn­li­chen Gegen­wart, die die Ver­gan­gen­heit ent­rück­te und ver­deck­te, um sie plötz­lich, wie bei einer Luft­spie­ge­lung, aus dem Nichts her­vor­tre­ten zu las­sen. Ganz beson­ders des­halb, weil sich die­se Erkun­dun­gen in einem so noch nie erleb­ten, gera­de­zu wil­den Traum­ge­sche­hen nie­der­schlu­gen, das mir tief ver­gra­be­ne Erin­ne­run­gen ins Bewusst­sein spülte.

Und was mir in Ber­lin nicht mög­lich gewe­sen war, näm­lich die mir seit mei­ner Kind­heit ver­trau­te Geschich­te des „Paul Schatz im Uhren­kas­ten” zu erzäh­len — eine vier­fach gebro­che­ne Geschich­te, weil sie durch das kind­li­che und das erwach­se­ne Bewusst­sein des Paul Schatz, dar­über hin­aus aber durch das kind­li­che und erwach­se­ne Bewusst­sein sei­nes Nef­fen, des Ich-Erzäh­lers, zur Spra­che kommt; eine Geschich­te, die sich vor der Geburt des Ich-Erzäh­lers abspielt und durch sei­ne indi­vi­du­el­le Erin­ne­rung hin­durch zu tie­fe­ren, nicht mehr erleb­ten Ver­gan­gen­heits­schich­ten hin­ab­steigt — die­se Geschich­te zu erzäh­len, gelang mir hier, in Rom.

Ver­stell­te Groß­va­ter Hau­ei­sen einen Uhren­zei­ger? Hock­te er im Erd­in­nern am Schalt­pult mit blin­ken­den Lam­pen und zwei­hun­dert­drei­ßig exak­ten Uhren und zet­tel­te Revo­lu­tio­nen an? Strei­chel­te er sei­nen Bart, Karl Hau­ei­sen, der Logen­meis­ter, Anti­se­mit und Rech­nungs­rat im Reichs­post­mi­nis­te­ri­um und Hit­ler­has­ser gewe­sen war?
Bedien­te Groß­va­ter Hau­ei­sen in einer schall­dich­ten Kam­mer mit Prit­sche und Hol­le­rith­ma­schi­nen, die Loch­strei­fen aus­spuck­ten, Meß­ska­len, beben­den Zei­gern in schwar­zem und rotem Bereich, einen Hebel und ret­te­te sei­nen Enkel? Hau­ei­sens Kom­man­do­zen­tra­le war aus Eisen und stemm­te sich gegen Sand und Stei­ne, Was­ser, erkal­te­te Lava, Koh­len und glim­mern­des Erz, Dino­sau­ri­er­ske­let­te, ver­gra­be­nes Gold, gegen Abfall und Schutt. Ein Tun­nel­sys­tem ver­band sie mit ande­ren Kom­man­do­zen­tra­len, wo ande­re Logen­meis­ter hock­ten, und einer gigan­ti­schen Hal­le, nahe beim Erd­mit­tel­punkt, wo man sich traf und beim Schach­spiel Regie­run­gen absetz­te, Atten­ta­te beschloß, medi­zi­ni­sche und phy­si­ka­li­sche Ent­de­ckun­gen plan­te.
Preß­te Groß­va­ter Hau­ei­sen sein Auge ans Tele­skop, das Erde und Stei­ne durch­drang und einen atom­gro­ßen Men­schen ein­fan­gen konn­te, und erkann­te Paul Schatz, sei­nen Enkel?

Die ers­te Bedin­gung, um die­se deut­sche Geschich­te erzäh­len zu kön­nen, war der Gedächt­nis­raum Rom, der Zeit-Spei­cher Rom, der das indi­vi­du­el­le Bewusst­sein, sinn­lich und akut, über­steigt. Die zwei­te Bedin­gung war die Ent­fer­nung zu der Stadt, in der die Geschich­te spiel­te, ihre Spu­ren aber nicht mehr les­bar gewe­sen waren, eine räum­li­che Ent­fer­nung, die der zeit­li­chen im Gedächt­nis-Raum kor­re­spon­dier­te. Die drit­te Bedin­gung hin­ge­gen bestand in einer ande­ren Ent­fer­nung, näm­lich der zur Muttersprache.

Was mich umgab, war ja nicht nur der Gedächt­nis-Raum Rom, son­dern auch ein ande­rer Sprach­raum. Zunächst scheint der Begriff Sprach­raum nichts ande­res zu bezeich­nen als den Raum, in dem eine Spra­che, zumin­dest über­wie­gend, gespro­chen wird. Aber es gibt auch einen Sprach-Raum, der die auf sol­che Wei­se fest­ge­leg­te, die Beweg­lich­keit des Begriffs been­den­de, weil ihn de-finie­ren­de, Bedeu­tung auf­hebt, und einen Raum meint, den die Spra­che selbst besitzt, ana­log zum Gedächt­nis-Raum Freuds.

In die­sem Sprach-Raum haben sich Wahr­neh­mun­gen und Erfah­run­gen nie­der­ge­schla­gen, his­to­ri­sche Inhal­te sedi­men­tiert, und das nicht nur in ihrem Lexi­kon, son­dern auch in ihrer Mor­pho­lo­gie, in Syn­tax und Struk­tur, ihrer Satz­ge­stalt. Dass die­ser Sprach-Raum als Spei­cher der Geschich­te fun­giert und jede indi­vi­du­el­le Sprach-Erfah­rung his­to­risch tran­szen­diert, ist viel unmit­tel­ba­rer ein­zu­se­hen als beim Freud­schen Gedächtnis-Raum.

„Schnell, schnell”, sag­te der deut­sche Archäo­lo­ge zu mei­ner rumä­ni­schen Freun­din, die das frei­ge­leg­te früh­christ­li­che Boden­mo­sa­ik in der Kir­che San Ste­fa­no di Roton­do durch sei­ne Abzeich­nung doku­men­tie­ren soll­te, „schnell, schnell. Sie ken­nen doch das deut­sche Wort ‚schnell’, nicht wahr?” — „Ja” erwi­der­te mei­ne Freun­din, „aus all die­sen Fil­men mit den Nazis.”

Die Spra­che hat ein Gedächt­nis, ist ein Spei­cher der Geschich­te, erin­nert an etwas, auch wenn ihr Spre­cher sich an die­ses etwas nicht erin­nert, wenn er sie gedan­ken­los benutzt, erin­ne­rungs­los. Und manch­mal ist es eben die Ent­fer­nung zur Spra­che, die jene Erin­ne­rung stiftet.

Quan­do sono arri­va­to a Roma, non sape­vo la lin­gua ita­lia­na. Oder: Als ich nach Rom kam, konn­te ich kein Ita­lie­nisch. Der Unter­schied ums Gan­ze: Die Sprach­kom­pe­tenz wird im Deut­schen zu einem Kön­nen, einer tech­ni­schen Fähig­keit. Im Ita­lie­ni­schen ist sie sape­re — Wis­sen. Frei­lich: Mei­ne neue Umge­bung wuss­te die Zun­ge, la lin­gua, ihr Sprach-Wis­sen exis­tier­te nicht jen­seits der Aktua­li­sie­rung von Spra­che, dem Spre­chen. Und so sprach es auch um mich her­um. Die­se Spra­che war die Spra­che des Sich-Ent­äu­ßerns, die Spra­che der piaz­za und des mer­ca­to, des Ver­äu­ßerns, nicht die Spra­che der Ver­in­ner­li­chung. Für mich blieb sie anfangs ein Rau­schen oder ein arti­ku­lier­tes Geräusch oder auch ein Sing­sang, beglei­tet von auf­fal­len­den Ges­ten, die zu die­ser sich ent­äu­ßern­den Spra­che unmit­tel­bar gehör­ten. Viel­leicht ver­moch­te ich mich auch des­halb, hier im kleins­ten Quar­tier Roms, in San Loren­zo, dem einst von Eisen­bah­nern und Stein­met­zen bewohn­ten Vier­tel — der Bahn­hof Ter­mi­ni an dem einen Ende erzähl­te mir von der Lebens-Rei­se, aber sein Name Ter­mi­ni ver­wies schon auf den Toten­acker am ande­ren Ende, den Cam­po Ver­ano, auf die letz­te Rei­se, die End­sta­ti­on -, viel­leicht ver­moch­te ich mich auch des­halb in ein ande­res klei­nes Vier­tel zurück­zu­ver­set­zen, näm­lich in das ver­schwun­de­ne Scheu­nen­vier­tel am Ber­li­ner Alex­an­der­platz, mich zu über-set­zen in die ver­nich­te­te Welt mei­nes Paul Schatz: Denn um mich her­um spra­chen und fuch­tel­ten die Men­schen, tem­pe­ra­ment­voll und extro­ver­tiert, und in einer ande­ren Spra­che und mit ande­ren Ges­ten hat­ten so auch die vor den Pogro­men geflüch­te­ten Ost-Juden das Scheu­nen­vier­tel belebt, wofür sie im Übri­gen geschmäht und ver­ach­tet wor­den waren.

Man muß aus sei­nem Leben eine Geschich­te machen. Hand und Fuß soll­te sie haben und komisch sein — wenn man nicht zap­pelt und stram­pelt in sei­ner Geschich­te, wird man sein Leben nicht los.

Ich hat­te es nicht nur mit einer Fremd­spra­che zu tun. An die­ser Spra­che war alles fremd, war alles anders. Sie zog mich umso stär­ker an. Ent­fer­nung war die Geliebte.

Und ich buch­sta­bier­te sie. Wort für Wort.

Und was war das, ein Her­zens­bre­cher? Bei sei­ner Nenn­tan­te konn­te sich Paul nicht erkun­di­gen. Er muß­te in sei­ne Fin­ger bei­ßen, um sie nicht an Hals oder Ohren zu strei­cheln und zu zwi­cken. Als er ein­schlief, sah er sei­nen Vater vor sich, mas­kiert und in einem schwar­zen Man­tel. Und nachts stahl sich Vater auf Kat­zen­soh­len an frem­de Bet­ten und hol­te zier­lichs­tes Werk­zeug aus sei­nem Fle­der­maus­man­tel, Zan­ge und Eisen und Ham­mer. Er stemm­te einen Brust­kas­ten auf, um sich ein Herz zu holen. Und wenn er es in sei­nen Fin­gern dreh­te, zer­brach er es. Es knack­te, mehr nicht. Waren alle Juden Her­zens­bre­cher? Oder bloß sein ver­schla­ge­ner Vater?

Die Spra­che buch­sta­bie­rend, nahm ich sie wie­der und wie­der beim Wort. Und das Wört­lich­neh­men der frem­den Wor­te über­setz­te sich unbe­wusst in eine ande­re Auf­merk­sam­keit gegen­über den mir ver­trau­ten Wor­ten der Mut­ter­spra­che, Wor­ten, die mich zuse­hends be-frem­de­ten. Oder um es mit einem ande­ren Apho­ris­mus des Karl Kraus zu sagen: „Je län­ger man ein Wort betrach­tet, umso fer­ner schaut es zurück.” Die­se Auf­merk­sam­keits­er­fah­rung war Bedin­gung, um, zusam­men mit Paul Schatz, und spä­ter dem Kind Sebas­ti­an aus „Eine Lie­be am Tiber”, wie­der das kind­li­che Stau­nen zu erler­nen, das Stau­nen gegen­über der Welt und der Spra­che, der Welt aus Spra­che. Pre­kä­res Ver­ste­hen, sinn­li­cher Irrtum.

Ums nied­ri­ge Eck­haus am Trep­pen­ab­satz pfleg­ten wir drei einen Bogen zu machen, Mut­ter, Lisa und ich. Das war schwarz vom Muff, der an sei­nen Mau­ern fraß. Es gru­sel­te uns vor sei­nen Bewoh­ne­rin­nen, zwei Zwil­lings­schwes­tern mit Adler­na­sen und zot­te­li­gem grau­em Bart, der bei­den am Kinn sproß. Wenn sie zusam­men das Haus ver­lie­ßen, und nie­mals ging eine allei­ne aus, Arm in Arm oder Hand in Hand, heul­ten Kin­der von allen Sei­ten: „Ei, brut­te bab­bui­ne! Zitel­le meschi­ne!” und spritz­ten schrei­end aus­ein­an­der. Sie wink­ten dem Schus­ter zu, der vor den Stu­fen zur Werk­statt auf sei­nem Sche­mel hock­te und sie mit der­ben Bemer­kun­gen fopp­te. „Schwes­ter­chen, zeigt eure Fei­gen! Sind sie saf­tig und frisch oder tro­cke­ner als Schuh­soh­len?” — „Tro­cke­ner als Schuh­soh­len”, schnat­ter­ten bei­de.
Es dau­er­te Mona­te, bis ich ver­stand, was sich Schus­ter und Zwil­lin­ge zurie­fen, beug­te mich hals­bre­che­risch ins Freie und konn­te im Ein­kaufs­korb der Schwes­tern nie eine Fei­ge entdecken.

Ich berich­te­te vom wil­den Traum­ge­sche­hen im Gedächt­nis-Raum Rom. Die­ses Traum­ge­sche­hen such­te mich gera­de­zu heim, mit Erin­ne­run­gen aus der Kind­heit, die mir längst ent­fal­len waren. Eines Mor­gens wie­der­um erwach­te ich wei­nend und erwach­te, weil ich wein­te. Mein eige­nes Geräusch hat­te mich geweckt. Gehan­delt hat­te mein Traum aber davon, dass ich in Ber­lin erwa­che. Des­halb hat­te ich zu wei­nen begon­nen und war wirk­lich erwacht — in Rom.

Kön­nen einen die Träu­me aber auch fremd­su­chen? Irgend­wann began­nen sie es zu tun. Ich träum­te auf Deutsch und Ita­lie­nisch, ich träum­te mich von einer Spra­che zur ande­ren. Nicht nur Wahr­neh­mun­gen und Erleb­nis­se, Erin­ne­run­gen und Tages­res­te über­la­ger­ten sich, son­dern auch die Spra­chen taten es, wie in jenen

Tou­ris­ten­al­ben, in denen die gezeich­ne­te, trans­pa­ren­te Sei­te auf das kolo­rier­te Foto gelegt, die von der Zeit ver­schlun­ge­nen Mau­ern der Rui­ne ergänz­ten, mit dem ent­schei­den­den Unter­schied, das die bei­den über­ein­an­der lie­gen­den Traum­bil­der und Sprach­traum­bil­der kein Gan­zes erga­ben. Sie stell­ten kei­nen hei­len, ursprüng­li­chen Zustand her, weil der Zu-Stand nicht ste­hen blieb, son­dern Bewe­gung war. Stän­dig ver­schob sich etwas oder ver­dich­te­te sich etwas zu einem Ande­ren, aber die­ses Ande­re war nicht ein­fach ein Drit­tes, und schon gar kein fes­tes Drit­tes, denn fest­hal­ten ließ es sich bei­na­he so gut wie nie.

Ich erin­ne­re mich, wenn ich schrei­be, hat­te ich Jah­re zuvor in einem poe­to­lo­gi­schen Text for­mu­liert. Mir ging es dabei um die Dar­stel­lung eines bestimm­ten Welt-Bezugs, bei dem die Bewusst­seins­in­hal­te zum Mate­ri­al der Erin­ne­rung wer­den, wer­den müs­sen, bevor sie zur Spra­che kom­men, kom­men kön­nen. In der Erin­ne­rung ver­lie­ren die Bewusst­seins­in­hal­te ihre fixe Gestalt und gehen neue Kon­stel­la­tio­nen ein. Die so ver­stan­de­ne Erin­ne­rung ist nicht ledig­lich eine poe­ti­sche Tech­nik, sie bin­det auch, mal schwä­cher, mal stär­ker, Affek­te an sich, die der Erin­ne­rungs­ar­beit auf die Sprün­ge hel­fen oder sie blo­ckie­ren kön­nen, und die sich an den Erin­ne­rungs­in­halt heften.

Nichts inti­mer, als eine Erin­ne­rung, die man mit­ein­an­der teilt, ob es eine ver­bin­den­de oder tren­nen­de, eine beglü­cken­de oder schmerz­haf­te, eine pein­li­che oder pei­ni­gen­de Erin­ne­rung ist.

„Und was machst du?” woll­te Lili wis­sen, als sie sich wie­der neben mir nie­der­ließ, „womit ver­dienst du dein Geld?” — „Ich habe es lei­der nie zum Matro­sen gebracht, falls du das mei­nen soll­test.” Lili betrach­te­te mich ver­wirrt, und ich wink­te ab, eine Spur ver­bit­tert. Was war die­se Erin­ne­rung wert, wenn wir sie nicht mehr mit­ein­an­der teil­ten? …
Bis zum Son­nen­un­ter­gang hock­ten wir auf der Hol­ly­wood­schau­kel in Lilis ver­wil­der­tem Gar­ten, und mit den zuneh­men­den Schat­ten, dem war­men Glanz auf der stei­ner­nen Was­ser­lei­tung, kam sie mir zuse­hends wei­cher und hei­te­rer vor. Und als wir bei Dun­kel­heit zum Cin­que­cen­to schlen­der­ten, mit dem sie mich in Tras­te­ve­re ablie­fern woll­te, bemerk­te sie hei­ser: „Ich habe es nicht ver­ges­sen, ich mei­ne, das mit dem Matro­sen.” Ein phos­pho­res­zie­ren­des Blau spiel­te um Lilis Gesicht, und sie wand­te sich schleu­nigst dem Auto zu, um das Ver­deck zuzu­klap­pen. Und trotz­dem war Lilis Erin­ne­rung ein Trost.

Ich erin­ne­re mich, wenn ich schrei­be — die­ser poe­to­lo­gi­sche Satz hat­te einen hin­ter­grün­di­gen Sinn, der mir erst spä­ter auf­ging. Er lau­te­te: Ich schrei­be, um mich zu erin­nern. Oder bes­ser: Ich schrei­be, um eine Erin­ne­rung mit­zu­tei­len, damit ich sie mit ande­ren tei­len kann.

Ein paar Absät­ze wei­ter, hieß es in jenem poe­to­lo­gi­schen Text: Ich erin­ne­re mich, wenn ich schrei­be, an Spra­che. Die Spra­che ist nicht die fes­te Form, in die die beweg­lich gewor­de­nen Bewusst­seins­in­hal­te hin­ein­ge­gos­sen wer­den, wie das sinn­lich-chao­ti­sche Mate­ri­al in die Per­zep­ti­ons­for­men der Ver­stan­des­kräf­te. Die Spra­che selbst wird zum Inhalt der Erin­ne­rung, zu einem Gegen­stand, der sei­ne Gegen­ständ­lich­keit ver­liert, und lädt sich mit Affek­ten auf. Wo aber erin­nert man sich inten­si­ver, tief- und abgrün­di­ger, wo ver­bin­den sich die jüngs­ten und ältes­ten Bewusst­seins­in­hal­te frei­er mit­ein­an­der, als im Traum? Ihr zeit­li­cher Index spielt kei­ne Rol­le, denn im Freud­schen Gedächt­nis-Raum sind sie gleich­zei­tig da. Gewiss, der Zen­sor wacht. Ver­dich­tung und Ver­schie­bung sind sei­ne Agen­ten. Die sich im Traum erge­ben­de Kon­stel­la­ti­on alter und jun­ger Bewusst­seins­in­hal­te ver- und ent­stellt, mal stär­ker, mal schwä­cher, die durch die Traum­deu­tung zu ermit­teln­de Wahr­heit. Aber im Traum öff­net sich das Tor, das im wachen Bewusst­sein ver­schlos­sen bleibt. Hin­zu tre­ten Wunsch und Begeh­ren, die die Bewusst­seins­in­hal­te des Trau­mes in eine neue Kon­stel­la­ti­on brin­gen. Doch unter der Prä­mis­se, dass letzt­lich jedes Den­ken wishful thin­king ist, eine Prä­mis­se, die das Bewusst­sein selbst­re­dend weit von sich weist, bie­tet der Traum noch die ehr­lichs­te Figu­ra­ti­on des Wun­sches und des Begehrens.

Ich habe bei ande­rer Gele­gen­heit vom Rea­lis­mus als Traum­ar­beit gespro­chen. Rea­lis­mus als Traum­ar­beit meint, dass das vor­ge­ge­be­ne Mate­ri­al der inne­ren und äuße­ren „Wirk­lich­keit” in sei­ner lite­ra­ri­schen „Über­set­zung” durch die der Traum­ar­beit ent­lie­he­nen Agen­ten Ver­schie­bung und Ver­dich­tung zu einer neu­en Kon­stel­la­ti­on zusam­men­tritt. Noch mehr: Dass die­se neue Kon­stel­la­ti­on dazu führt, dass das Wirk­li­che — oder angeb­lich Wirk­li­che — durch­sich­ti­ger wird, dass es an Schwer­kraft ver­liert, und dass sei­ne Mög­lich­kei­ten frei­ge­legt wer­den, so wie es auch im Traum geschieht. Dabei bezie­hen sich die genann­ten frei­ge­leg­ten Mög­lich­kei­ten im Inners­ten des Traums auf den Wunsch und das Begeh­ren — und so tun sie es, auf einer qua­li­ta­tiv ande­ren Bewusst­seins­stu­fe, dem, nen­nen wir es so, „poe­ti­schen Bewusst­sein des Tex­tes”, auch.

Als Groß­va­ter Hau­ei­sen tot war, ver­stell­te er sei­ne Uhren­zei­ger. Er ver­stell­te nicht einen, nicht zwei Zei­ger, er … ver­stell­te alle zwei­hun­dert­drei­ßig Zei­ger an sei­nen zwei­hun­dert­drei­ßig Uhren. Und sein Frei­mau­r­erreich fing zu wackeln und beben an, und Meß­skal­en­glas split­ter­te, Tele­fo­ne hops­ten zu Boden … und Sire­nen heul­ten von Sin­nen, und Warn­lam­pen blink­ten sich zu Tode … — und auf Erden hat­te Judas Ischa­ri­ot Jesus Chris­tus nicht ver­ra­ten und kei­ne drei­ßig Sil­ber­lin­ge Kopf­geld kas­siert … und er hat­te nichts zu bereu­en und zog sich kei­ne Schlin­ge aus Hanf um sei­nen Hals und … starb als sechs­und­sieb­zig­fa­cher Urgroß­va­ter mit hun­dert­und­zehn, und man brach­te Jesus nicht zu Pon­ti­us Pila­tus, der eh lie­ber fri­sches Obst aß und sich sei­ne Zehen mas­sie­ren ließ, als Kreu­zi­gun­gen zu beschlie­ßen. Und im Hei­li­gen Land leb­te Jesus, bis er ein betag­ter Mann war, und litt nicht am Kreuz und hob nicht sei­ne Augen zum Him­mel und wand­te sich nicht ver­zwei­felt an Gott: „War­um, mein Vater?” Zeit sei­nes Lebens heil­te er Kran­ke und hat­te eine Men­ge Zulauf, nicht anders als Hit­ler scharr­te er Mas­sen um sich am Fuß eines Ber­ges und seg­ne­te sie und ver­sprach ein bes­se­res Leben. Laut­spre­cher brauch­te er nicht. Als Laut­spre­cher dien­ten Palm­we­del und Wind, und sei­ne Bot­schaf­ten lie­fen von Mund zu Mund, und wenn man Jesus falsch ver­stand, war es nicht tragisch. …

Wenn ich eben den Begriff „Über­set­zung” in mei­nen Vor­trag geschmug­gelt habe, geschah das natür­lich nicht absichts­los. Ilma Rakusa zitiert am Ende ihres Tex­tes „Der Autor-Über­set­zer. Son­die­run­gen in einem viel­schich­ti­gen Ter­rain” einen Brief des Nova­lis an Schle­gel: „Am Ende ist alle Poe­sie Über­set­zung.” Über­set­zung, füge ich hin­zu, einer — Begeh­ren und Wunsch las­sen grü­ßen! — als unge­nü­gend emp­fun­de­nen inne­ren und äuße­ren Wirk­lich­keit, die, wenn sie nicht bereits eine sprach­li­che struk­tu­rier­te Wirk­lich­keit war, es in der poe­ti­schen Über­set­zung wird und wer­den muss.

Dass ich in einem ande­ren Sprach-Raum leb­te und in der frem­den Spra­che zu träu­men begann, die ins Unbe­wuss­te ein­si­cker­te, Teil des Ver­ges­sens wur­de, das bekannt­lich die Bedin­gung der Erin­ne­rung ist, schlug sich auf die Text-Traum­ar­beit nie­der. Die sich über­blen­den­den Spra­chen, die frem­de und die eige­ne, ergänz­ten sich, wie die Bil­der in jenen Tou­ris­ten­al­ben — aber auf wider­sprüch­li­che Wei­se. Der jeweils als bes­ser emp­fun­de­ne Aus­druck, die jeweils als schlüs­si­ger betrach­te­te Wen­dung dräng­te sich in den Vor­der­grund. Dabei konn­te mir der mut­ter­sprach­li­che Satz auf ein­mal ganz fremd erschei­nen, der ita­lie­ni­sche hin­ge­gen so selbst­ver­ständ­lich und ange­mes­sen, tref­fend und zu-tref­fend, wie nur ein mut­ter­sprach­lich ver­trau­ter. Es ergab sich eine ver­wir­ren­des Hin und Her, bei dem das deut­sche Text-Mate­ri­al durch­sich­ti­ger wur­de, bei dem es sei­ne mut­ter­sprach­li­che Schwer­kraft ver­lor — der deut­sche Text konn­te nicht mehr behaup­ten: hier ste­he ich und kann nicht anders, denn ein Ver­gleich mit dem ita­lie­ni­schen Äqui­va­lent eines sei­ner Sät­ze oder Absät­ze bewies mir immer wie­der, dass er auch anders konn­te — und bei dem sei­ne Mög­lich­kei­ten frei­ge­legt wurden.

Dem Sprach­ma­te­ri­al wider­fuhr bei der Arbeit also das, was bereits dem „Wirk­lich­keits­ma­te­ri­al” wider­fah­ren war: Trans­pa­renz, Schwer­kraft­ver­lust, das Erschei­nen der Möglichkeiten.

Ich möch­te hin­zu­fü­gen, dass ich in die­sen acht Jah­ren Rom durch­aus mit dem Gedan­ken spiel­te, auf Ita­lie­nisch zu schrei­ben. Aber ich tat es nicht. Schwer zu sagen, war­um. Gab es noch eine letz­te psy­cho­lo­gi­sche Blo­cka­de? Oder fehl­te die letz­te Not­wen­dig­keit, sich die­ser Erfah­rung aus­zu­set­zen? Oder war die Ent­fer­nung dar­an schuld, und ich hielt der gelieb­ten Ent­fer­nung die Treue — der gelieb­ten Ent­fer­nung zur Muttersprache?

Ja, Ent­fer­nung war die Gelieb­te. Auch die Erin­ne­rung ent­fernt und ent­rückt die äuße­re und inne­re „Wirk­lich­keit”, auch der Traum tut es auf sei­ne Wei­se — um eine ande­re Nähe zu schaf­fen. Und wenn mei­ne Arbeit an den Vor­gän­gen der Erin­ne­rung und den Vor­gän­gen im Traum ihr Maß nahm, so ent-sprach ihr die Ent­fer­nung von der Muttersprache.

Das Ergeb­nis war umso kurio­ser — und nicht inten­diert. Und dass das Text-Ergeb­nis kuri­os war, fiel mir sel­ber nicht auf. Da hat­ten mich beim Schrei­ben die Sprach-Kor­re­spon­den­zen und Sprach-Dif­fe­ren­zen des Deut­schen zum Ita­lie­ni­schen und umge­kehrt immer wie­der beschäf­tigt, manch­mal unbe­wusst, manch­mal ganz bewusst.

Jetzt mach­ten mei­ne Über­set­zer die Beob­ach­tung, dass das Sprach- und Text­ergeb­nis beson­ders deutsch klang und war — in Struk­tur und Satz­bau, Rhyth­mus und Lexi­kon. Und das galt für Über­set­zer aus so ver­schie­de­nen Spra­chen wie dem Nie­der­län­di­schen und dem Rumä­ni­schen. Den Schluss­satz des Romans „Eine Lie­be am Tiber” hat­te die gran­de dame der rumä­ni­schen Poe­sie, Nora Iuga, fol­gen­der­ma­ßen übersetzt:

?i totu?i fap­tul c? Lili i?i amin­ti­se a fost o con­so­la­re. Aus: Und trotz­dem war Lilis Erin­ne­rung ein Trost wur­de in der rumä­ni­schen Ver­si­on: Und doch, die Tat­sa­che, daß Lili sich erin­ner­te, war ein Trost. Aus der ver­ding­lich­ten Erin­ne­rung im Deut­schen war durch die Ver­schie­bung in der Über­set­zung ein akti­ves, leben­di­ges Sicherin­nern gewor­den: Trans­pa­renz, Schwer­kraft­ver­lust, das Erschei­nen der Möglichkeiten.

Die Beob­ach­tun­gen der Über­set­zer erstaun­ten mich. Hat­te sich die Mut­ter­spra­che in ihrem Eigen­sinn gegen die frem­den Sprach-Ele­men­te behaup­tet? Oder spie­gel­te sich im Text-Ergeb­nis das kom­ple­xe Ver­hält­nis von Nähe und Fer­ne zur Mut­ter­spra­che wider? War die Ent­fer­nung auch des­halb die Gelieb­te gewe­sen, weil sie äußers­te Nähe bereit­ge­hal­ten hat­te. Mehr Nähe als die Nähe. Dann hät­te ich viel­leicht in mei­ner römi­schen Ein-Zim­mer-Behau­sung an der Aure­lia­ni­schen Stadt­mau­er, dem einst von Eisen­bah­nern bewohn­ten Haus, in dem noch die Email­le­schil­der aus Zei­ten der faschis­ti­schen Volks­er­zie­hung auf der Trep­pe hin­gen — „chi cura la casa cura se stes­so” — und das, wäh­rend der Beset­zung Roms durch die Wehr­macht, von ame­ri­ka­ni­schen Bom­bern halb weg­ra­siert wor­den war, dann hät­te ich also in die­sem Haus und in die­sen römi­schen Jah­ren — aus mei­ner Mut­ter­spra­che in mei­ne Mut­ter­spra­che übersetzt?

Ich sprach bald nur noch Ita­lie­nisch, das zur Intim­spra­che mei­ner rumä­ni­schen Frau und mir wur­de, ich las Ita­lie­nisch, sogar deut­sche Bücher in ihrer Über­set­zung, ich dach­te und träum­te auf Ita­lie­nisch. Und schrieb auf — Deutsch.

Aus Furcht vor dem Ver­lust der leben­di­gen Mut­ter­spra­che, brach ich nach acht Jah­ren in Rom die Zel­te ab und zog in einen für mei­ne Per­son „zwei­fel­haf­ten” deut­schen Sprach­raum, näm­lich nach Wien. Ent­fer­nung blieb die Gelieb­te. Aber ich ent­fern­te mich noch etwas wei­ter, und pen­del­te fort­an, pen­de­le bis heu­te zwi­schen Wien und Bukarest.

Nicht, dass Buka­rest zu mei­nem zwei­ten, bal­ka­ni­schen, Rom wur­de. Obwohl auch die­se Stadt zum Gedächt­nis-Raum taugt, wenn auch einem jun­gen Gedächt­nis-Raum, des­sen Erin­ne­rungs­spu­ren umso ver­wir­ren­der sind, weil sich in ihm Ori­ent und Okzi­dent begeg­nen, Stadt und Land, die archi­tek­to­ni­sche Moder­ne der Zwi­schen­kriegs­zeit und die archi­tek­to­ni­sche Post­mo­der­ne des Feu­dal­kom­mu­nis­mus — letz­te­re eine Stein gewor­de­ne Kontradiktion.

Älter als die­ser Gedächt­nis-Raum ist hin­ge­gen der Gedächt­nis-Raum der Spra­che, eines ost­rö­mi­schen Dia­lekts, der sich vor allem mit sla­wi­schen Ele­men­ten anrei­cher­te und in der Neu­zeit mit fran­zö­si­schen. In einem Land­strich, der das Ein­falls­tor der Völ­ker aus dem Osten war, erhielt sie sich — eigen­sin­nig. Viel­leicht war es ja ein Trost, wenn sie sich an sich erinnerte.

Mei­ne ers­te Bekannt­schaft mit der rumä­ni­schen Spra­che waren zwei Ein­schlaf­ver­se: Somn u?or, vise pl?cute / puricii s? te s?rute. Leich­ter Schlaf, ange­neh­me Träume/ die Flö­he sol­len dich küs­sen. Bis heu­te betrach­te ich die­sen Zwei­zei­ler als eine freund­li­che Auf­for­de­rung: Zur Traumarbeit.

Die ein­ge­streu­ten Text­zi­ta­te (kur­siv) stam­men aus den Romanen:

Jan Kon­eff­ke: Paul Schatz im Uhren­kas­ten. Köln 2000.
Jan Kon­eff­ke: Eine Lie­be am Tiber. Köln 2004.

Jan Kon­eff­ke — Vor­trag auf der Über­setz­er­werk­statt Erlangen

Jan Kon­eff­ke, gebo­ren 1960 in Darm­stadt, stu­dier­te Phi­lo­so­phie und Ger­ma­nis­tik in Ber­lin. 1986/87 schloss er sein Stu­di­um mit einer Magis­ter­ar­beit über “Erin­ne­rung und ästhe­ti­sche Erfah­rung” im Werk Edu­ard Möri­kes ab. Lebt als frei­er Schrift­stel­ler (Lyrik, Pro­sa, Kin­der­bü­cher) und Publi­zist in Wien und Buka­rest. Redak­ti­ons­mit­glied des Wie­ner “Wes­pen­nest”. Gele­gent­li­che Über­set­zun­gen aus dem Ita­lie­ni­schen und Rumänischen.