Kult als Überwindung der ‘partikularen Subjektivität’

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1. Die Ähnlichkeit des Unterschiedlichen: Wandlungen des Kultbegriffs in zwei Jahrzehnten

“Kult” lässt sich nicht pla­nen, kaum defi­nie­ren, sicher­lich aber gut ver­kau­fen. In gera­de­zu infla­tio­nä­rer Wei­se fin­det der Begriff “Kult” Ver­wen­dung in zeit­ge­nös­si­schen Büchern, Zeit­schrif­ten, Fil­men, digi­ta­len Medi­en und in der Wer­bung. Die Aura des “Kul­ti­schen” ver­spricht kom­mer­zi­el­len Erfolg, lässt Asso­zia­tio­nen an legen­dä­re Autoren und Autorin­nen wie J.R.R. Tol­ki­en oder Joan­ne K. Row­ling und ihre Best­sel­ler Lord of the Rings (1937–1949) und Har­ry Pot­ter (1997 ff.) (vgl. Pet­zold 2004: 24–25) auf­kom­men, beschwört die Erfolgs­ge­schich­te des VW-Kult­wa­gens “Käfer” oder der Kult­ge­gen­stän­de iPod und iPad. Je nach Alter und Sozia­li­sa­ti­on erweckt der Begriff des Kul­tes für jeden ein­zel­nen ande­re Kon­no­ta­tio­nen; wer bei­spiels­wei­se in den acht­zi­ger Jah­ren in Deutsch­land stu­dier­te, hol­te vor den Vor­le­sun­gen schnell noch ein Päck­chen ‘Gau­loi­ses’ aus dem Parka her­vor, um genuss­voll eini­ge Sei­ten aus Sven­de Meri­ans Der Tod des Mär­chen­prin­zen (1980), Umber­to Ecos Der Name der Rose (1980) oder Micha­el Endes Die Unend­li­che Geschich­te (1979) zu lesen; die­se Bücher waren “Kult”, wie auch das gesell­schaft­li­che Ereig­nis der Epo­che: Eine glo­ba­le Gemein­de von Teil­zeit-Roya­lis­ten opfer­te am ‘Hoch­al­tar Fern­se­hen’ dem Gott Chro­nos kost­ba­re Lebens­zeit, um der hoheit­li­chen Hoch­zeit von Lady Dia­na live bei­zu­woh­nen, deren kul­ti­sche Aura weit über das his­to­ri­sche Datum der Ehe­schlie­ßung hin­aus reich­te und plötz­lich für eine uner­klär­li­che Erblon­dung zahl­rei­cher Kom­mi­li­to­nin­nen führte. Merian Eco Ende Die­se wie­der­um konn­te man abends in der Dis­co bewun­dern, wenn sie – akut mit dem Virus des Satur­day Night Fever (1977) infi­ziert – ihren Beglei­ter anhim­mel­ten, einen in theo­re­ti­schen Semi­na­ren eher unbe­darft wir­ken­den, geklon­ten John Tra­vol­ta, der abends auf der Büh­ne jedoch unge­ahn­te akro­ba­ti­sche Fähig­kei­ten ent­wi­ckel­te und mit kul­ti­schen Hand­be­we­gun­gen bun­te Licht­punk­te auf dem Tanz­bo­den zähl­te, nach­dem er tags­über den Ver­trieb han­dels­üb­li­cher Haar­po­ma­de ange­kur­belt hat­te. Um sich – wenn auch mit schlech­tem Gewis­sen – unter­halb des eige­nen Niveaus zu amü­sie­ren, ver­such­te man, kei­ne der Kult­sen­dun­gen Dal­las (1978–1991) und Den­ver Clan (1981–1989) zu ver­pas­sen, die J.R. und Alexis zu veri­ta­blen Iko­nen der Intri­ge und zu Kult­fi­gu­ren des Bösen wer­den lie­ßen. Keith Jar­rett, Bap, Bee Gees und Modern Tal­king sorg­ten für unüber­wind­ba­re Ris­se im Freun­des­kreis, der sich in schmerz­li­cher Wei­se in riva­li­sie­ren­de Kult­ge­mein­den auf­zu­tei­len droh­te. Und nun, eini­ge viel zu schnell ver­gan­ge­ne Jahr­zehn­te spä­ter? Lady Dia­na hat eine mehr oder min­der wür­di­ge Nach­fol­ge­rin in Kate Midd­le­ton gefun­den, und Lady Gaga lässt John Tra­vol­ta ver­blas­sen. Stipp­vi­si­ten in Gym­na­si­en belie­bi­ger bun­des­deut­scher Groß­städ­te besche­ren den immer­glei­chen Anblick puber­tie­ren­der Jüng­lin­ge, deren Haar­sty­ling so wirkt, als gel­te es einen vom Jus­tin Bie­ber-Manage­ment aus­ge­schrie­be­nen Dop­pel­gän­ger­wett­be­werb zu gewin­nen, wäh­rend die jun­gen Damen zum Glätt­ei­sen grei­fen, um mit pro­fes­sio­nell gestyl­tem Schei­tel auf­war­ten zu kön­nen, damit sie kei­nes­falls als zu blut­leer gel­ten und im Kampf um Robert Patt­in­son gegen Kris­ten Ste­wart bestehen kön­nen. In der kul­ti­schen Vari­an­te der Que­rel­le des Anci­ens et des Moder­nes ste­hen Bey­on­cé Know­les und Brit­ney Spears, Geor­ge Cloo­ney und Brad Pitt in punc­to Bekannt­heits­grad Mari­lyn Mon­roe und James Dean in nichts mehr nach; Dal­las und Den­ver Clan sind Despe­ra­te House­wi­ves (2004 ff.) und Sex and the City (1998–2004) gewi­chen. Selbst in lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Haupt­se­mi­na­ren las­sen sich Spu­ren von Kult wahr­neh­men, hört man doch gele­gent­lich ein Refe­rat über Emma­nu­el Levi­n­as oder Homi Bhab­ha, vor­ge­tra­gen in einem Rhyth­mus, der Jay‑Z alle Ehre machen wür­de, aller­dings bei genau­em Hin­hö­ren auch leich­te Anklän­ge an Aggro zu erken­nen gibt. Smart Pho­nes sind eben­so Kult wie iPads, und pikan­ter­wei­se wer­ben Geld­in­sti­tu­te mit Vam­pi­ris­mus für die Alters­vor­sor­ge, um an Ste­phe­nie Mey­ers Buch­erfolg anzu­knüp­fen; “Biß” zum nächs­ten Bör­sen­crash sozu­sa­gen. Kult ist “in”. Sparkasse

2. Wesensmerkmale kultischer Verehrung

Die zeit­ge­nös­si­sche gedan­ken­lo­se Anwen­dung des Begrif­fes “Kult” auf Ereig­nis­se, Per­so­nen und Gegen­stän­de lässt den wesen­haf­ten Cha­rak­ter kul­ti­scher Erschei­nun­gen häu­fig ver­blas­sen oder bes­ten­falls nur noch sche­men­haft zuta­ge tre­ten. Kult­bü­cher mögen die Aura der “katho­li­schen Kir­che” aus­strah­len und ihre “Autoren aus allen Glau­bens­ge­mein­schaf­ten” rekru­tie­ren (vgl. Cal­cutt & She­phard 1998: ix), den­noch sind trotz aller Unter­schie­de in den Aus­prä­gun­gen und den jewei­li­gen Ver­falls­da­ten der Kult­phä­no­me­ne zen­tra­le Gemein­sam­kei­ten zu kon­sta­tie­ren (vgl. auch Schä­fer 2000: 8–11), die der Begeis­te­rung für Micha­el Endes Die Unend­li­che Geschich­te eben­so eig­nen wie der Lei­den­schaft für einen iPad. Dabei müs­sen Kult­bü­cher und ‑medi­en nicht unbe­dingt Ver­kaufs­schla­ger sein (vgl. May 2004: vii-xvi). Ety­mo­lo­gisch geht der Begriff “Kult” auf das latei­ni­sche Wort cul­tus zurück und beinhal­tet die Sinn­be­zir­ke von “Ver­eh­rung” und “Pfle­ge” (vgl. Grün­schloß 2008: 700–1), lässt dar­über hin­aus aber auch schon bei sei­nen frü­hes­ten Ver­wen­dun­gen als cul­tus dei bezie­hungs­wei­se cul­tus deorum eine kla­re und stark reli­giö­se Fär­bung erken­nen (vgl. Schmidt-Big­ge­mann 1976: 1300). Da das Bedeu­tungs­spek­trum der ursprüng­lich grie­chi­schen Quel­le für cul­tus von “Acker­bau bis Kul­tur” reicht (vgl. Schmidt-Big­ge­mann 1976: 1300), fin­det im Lau­fe der Geschich­te ein Begriffs­wan­del statt, bei dem die Ursprungs­be­deu­tung zuguns­ten der Domi­nanz reli­giö­ser Kon­no­ta­tio­nen zurück­tritt. Der Bereich “Kult” umfasst nun pri­mär Auf­ga­ben des Pries­ter- und Opfer­diens­tes. Die­se zutiefst theo­lo­gi­schen Funk­tio­nen sind aber inten­siv in sozio­lo­gi­sche Prak­ti­ken ein­ge­bun­den, so dass der frü­he Kult­be­griff dop­pelt kodiert erscheint. Bereits der Opfer­kult natur­ver­bun­de­ner Gesell­schaf­ten gibt den anthro­po­lo­gi­schen Urwunsch nach Grup­pen­bil­dung zu erken­nen; durch die Opfe­rung eines Lebe­we­sens, so glaub­te man, wur­de sozia­le Schuld stell­ver­tre­tend auf einen “Sün­den­bock” über­tra­gen, so dass die nun vom Übel gerei­nig­te Gemein­schaft ein inten­si­vier­tes Gefühl von Grup­pen­iden­ti­tät ent­wi­ckeln konn­te. Die­se für alle Kul­te typi­sche Abgren­zung des Eige­nen gegen das zumeist als infe­ri­or gezeich­ne­te Frem­de, fin­det sich auch noch in den Sub­kul­tu­ren der Gegen­wart, wenn sich Gleich­ge­sinn­te im Bereich der Musik, der Lite­ra­tur oder der Kunst als Rocker, Punks oder Rap­per gegen den main­stream wen­den und sich durch eige­ne Klei­dung oder Ges­ten einen eige­nen seman­ti­schen Code schaf­fen (vgl. Cal­cutt & She­phard 1998: x), mit dem sie sich von der All­ge­mein­heit abgren­zen (vgl. Frei­burg 2004: 127–46). Eine frü­he enge Rela­ti­on von Kunst und Kult tritt wohl am deut­lichs­ten in der anti­ken Tra­gö­die zuta­ge, deren Ursprün­ge im dio­ny­si­schen Opfer­ri­tu­al zu suchen sind und bei der die Kathar­sis zum gen­re­spe­zi­fi­schen Kri­te­ri­um wur­de (vgl. Lam­ping 2009: 722). Wie die Anthro­po­lo­gie lehrt, kon­zen­trie­ren sich die ritua­li­sier­ten Hand­lun­gen der ‘kul­ti­schen’ Tra­gö­die häu­fig auf Ereig­nis­se der Ver­gan­gen­heit, die durch die­se wie­der­hol­te Per­for­manz ins Gedächt­nis zurück­ge­ru­fen wer­den und somit der Kon­so­li­die­rung der kul­tu­rel­len und kol­lek­ti­ven memo­ria die­nen. Die­se Sta­bi­li­sie­rung des sozia­len Nexus, die über­dies ein neu­es, star­kes Selbst­wert­ge­fühl stif­tet, ist in anti­ken und mit­tel­al­ter­li­chen Kul­ten stets auch reli­gi­ös grun­diert. Opfer­ri­ten bei­spiels­wei­se die­nen der Besänf­ti­gung zor­ni­ger Göt­ter, oder sie haben den Zweck, das Wohl­wol­len meta­phy­si­scher Geis­ter zu errei­chen. Die Pfle­ge der Göt­ter als cul­tus deorum stellt den ursprüng­li­chen – im Glau­ben der Betrof­fe­nen – natür­li­chen Nexus zwi­schen der Welt und Gott, gleich­sam als gerei­nig­te und inten­si­vier­te reli­gio, wie­der her. Die Instru­men­ta­li­sie­rung kul­ti­scher Hand­lun­gen zum Zweck der Eta­blie­rung oder Wie­der­her­stel­lung von Gemein­schaft ist somit sozi­al und theo­lo­gisch glei­cher­ma­ßen zu ver­ste­hen.

3. Kult im Spannungsfeld von Mythos und Logos

Die­se grund­sätz­li­chen Pro­zes­se kul­ti­scher Vor­gän­ge gewin­nen an Kom­ple­xi­tät und Signi­fi­kanz, wenn sie vor der Folie phi­lo­so­phi­scher Strö­mun­gen betrach­tet wer­den; für die Ana­ly­se kul­ti­scher Phä­no­me­ne sei die The­se gewagt, dass die abend­län­di­sche Phi­lo­so­phie vom Mit­tel­al­ter an, über die Renais­sance und das acht­zehn­te Jahr­hun­dert hin­weg, ein zuneh­men­des Inter­es­se an Indi­vi­dua­li­sie­rungs­pro­zes­sen des Men­schen ent­wi­ckel­te. Sie beschrieb das ein­zel­ne Sub­jekt als ein Wesen, das sich immer mehr aus sozia­len, his­to­ri­schen, theo­lo­gi­schen und tra­di­tio­nel­len Netz­wer­ken lös­te, um sich in sei­ner Unmit­tel­bar­keit und Unver­wech­sel­bar­keit zu begrei­fen (vgl. Rie­del 1989: 53–114). Das Car­te­sia­ni­sche “cogi­to, ergo sum” kann hier als Beleg eben­so ange­führt wer­den wie Sir Fran­cis Bacons (1561–1626) Bei­trä­ge zur tra­di­tio­nel­len Ver­mö­gens­psy­cho­lo­gie (vgl. Krohn 1987: 93–109), John Lockes (1632–1704) Unter­su­chun­gen zum mensch­li­chen Bewusst­sein oder der kate­go­ri­sche Impe­ra­tiv Imma­nu­el Kants (1724–1804). Gleich­zei­tig trat der Ant­ago­nis­mus von Logos und Mythos schmerz­haft her­vor. Das Her­aus­tre­ten des Sub­jek­tes aus der selbst­ver­schul­de­ten Unmün­dig­keit, die auf­klä­re­ri­sche Freu­de an der indi­vi­du­el­len Frei­heit und der Stolz auf die neue Auto­no­mie, aber auch die Bür­de der nun emp­fun­de­nen indi­vi­du­el­len Ver­ant­wor­tung für das eige­ne Leben, die sozia­le Gemein­schaft und den Staat gehen nicht ohne Stö­run­gen des ursprüng­lich sym­bio­ti­schen Gesamt­zu­sam­men­hangs von Mensch und Welt vor sich (vgl. Schnei­der 2004: 16–175). Hat­te sich der Mensch in der Anti­ke noch weit­ge­hend eins mit Welt und Natur emp­fun­den oder den “Abso­lu­tis­mus der Wirk­lich­keit” durch Mytho­lo­gien zu depoten­zie­ren ver­sucht (vgl. Blu­men­berg 1996: 10), so spielt sich spä­tes­tens seit dem Zeit­al­ter der Ratio­na­li­tät eine zuneh­men­de Dis­so­zia­ti­on von Mensch und Welt ab, die die moder­nis­ti­schen und post­mo­der­nen Ent­frem­dungs- und Solip­sis­mus­dis­kur­se gewis­ser­ma­ßen antizipiert. Blumenberg Das ‘moder­ne’ Indi­vi­du­um fühlt sich allein­ge­las­sen, auf sich selbst gestellt, und in einer prä-exis­ten­tia­lis­tisch anmu­ten­den Wei­se in eine Welt gewor­fen, die als über­mä­ßig fremd, schmerz­lich anders und bedroh­lich emp­fun­den wird. Jeg­li­ches Beha­gen an einem ursprüng­lich als holis­tisch emp­fun­de­nen Gefü­ge von Welt als einer von Gott ein­ge­rich­te­ten und umsorg­ten ‘Hei­mat’ des Men­schen wird im Säu­re­bad der indi­vi­dua­lis­ti­schen Phi­lo­so­phie auf­ge­löst, deren Frei­heit auch Ein­sam­keit und Ent­frem­dung beinhal­tet (vgl. Schnei­der 2004: 176–234). Die allen Ratio­na­li­sie­rungs­dis­kur­sen impli­zi­ten Ent­frem­dungs­pro­gram­me, die unter der Ägi­de des Empi­ris­mus den Weg hin zur Frei­heit unab­wend­bar beglei­ten und unter ande­rem auch für den Sie­ges­zug der vom Skep­ti­zis­mus genähr­ten Theo­di­zee in die­ser Zeit ver­ant­wort­lich sind (vgl. Freiburg/Gruß 2004: 13–48), sor­gen für ein Defi­zit im Selbst­wert­ge­fühl der Indi­vi­du­en und Natio­nen. Somit ver­langt die in der Fol­ge natur­wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis­se ent­zau­ber­te Welt nach neu­en Mythen (vgl. Blu­men­berg 1996: 9–39), die dem Schre­cken der ratio­na­lis­ti­schen Erkennt­nis und sei­nem Des­il­lu­sio­nie­rungs­pro­gramm eine the­ra­peu­ti­sche Ent­las­tung bie­ten. Nicht län­ger mag es ver­wun­dern, dass in der Spät­pha­se der Auf­klä­rungs­zeit das Bedürf­nis nach einer neu­en mythi­schen Über­win­dung der – wie Georg Wil­helm Fried­rich Hegel (1770–1831) es spä­ter nen­nen soll­te – “par­ti­ku­la­ren Sub­jek­ti­vi­tät” zu erken­nen ist (Hegel 1827: 330–8; 334). Dem empi­ri­schen Pro­gramm eines Sir Fran­cis Bacon, Isaac New­ton (1643–1727) und John Locke (1632–1704) begeg­net etwa Wil­liam Bla­ke (1757–1827) in einer idio­syn­kra­ti­schen Adapt­a­ti­on Swe­den­borg­scher Theo­so­phie mit einer Pri­vat­my­tho­lo­gie, die – und hier denkt er ganz kul­tisch – die binä­ren Oppo­si­tio­nen des Ratio­na­lis­mus, sei­ne ent­seel­te Fas­zi­na­ti­on für den Logos und sei­ne maka­bre Fak­ti­zi­tät durch eine neue Hin­wen­dung zu holis­ti­schen Denk­wei­sen zu über­win­den versucht. Blake Zur glei­chen Zeit las­sen sich in Euro­pa die ers­ten ‘ästhe­ti­schen Kul­te’ beob­ach­ten, die eben­falls ver­su­chen, jene durch den Tri­umph des Ratio­na­lis­mus beding­te Ent­see­lung des Ein­zel­nen zu the­ra­pie­ren; man den­ke nur an den “Gra­bes­kult” der eng­li­schen gra­vey­ard poet­ry, der bis zu Goe­thes (1749–1832) Wert­her (1774) wei­ter­wirk­te, und an den wie­der­be­leb­ten “Kult der Melan­cho­lie”, der noch vie­le Jahr­zehn­te lan­ge Schat­ten wer­fen soll­te. Einen beson­de­ren Stel­len­wert nimmt in die­sem Kon­text sicher­lich der Genie­kult (vgl. Fleck 2006) ein, der als all­ge­mei­ner Per­so­nen­kult die Geschich­te der Lite­ra­tur und ihrer Deu­tun­gen lan­ge prä­gen soll­te (vgl. Och 2004: 31–44) und der in Oscar Wil­des (1854–1900) Vor­stel­lung, er habe sein Talent in sei­ne Wer­ke, sein Genie aber auf sein Leben ver­wen­det, gip­fel­te. In einer sol­chen Les­art wird die Haupt­wir­kung von Kul­ten erkenn­bar: Hat­ten die zuneh­men­den Erkennt­nis­se der Natur­wis­sen­schaft für eine Ent­zau­be­rung und Ent­my­tho­lo­gi­sie­rung der Welt gesorgt, so erfüllt der Kult die Auf­ga­be – in die­sem Zusam­men­hang durch­aus als eine frü­he Erschei­nungs­form der Lyo­tard­schen Meta-Erzäh­lun­gen zu begrei­fen (vgl. Welsch 2002: 31–7) –, die­se öde Welt mit einem neu­en Sinn zu ver­sor­gen, der so ‘illu­sio­när’ und brü­chig er auch sein mag, den­noch eine beru­hi­gen­de sozio-psy­cho­lo­gi­sche Funk­ti­on aus­übt. Wäh­rend die sich in der Fol­ge der Auf­klä­rungs­phi­lo­so­phie im reli­giö­sen Den­ken abzeich­nen­den Ten­den­zen zu Deis­mus und Athe­is­mus sowie die scharf geführ­te Theo­di­ze­ede­bat­te des acht­zehn­ten Jahr­hun­derts für einen erkenn­ba­ren Ver­lust an meta­phy­sisch begründ­ba­ren Wer­ten gesorgt hat­ten (vgl. Real 2004: 85–111), eta­bliert der Kult nun eine gleich­sam para­dox wir­ken­de ‘säku­la­ri­sier­te Meta­phy­sik’, die es dem ein­zel­nen ermög­licht, in einer Gemein­schaft Gleich­ge­sinn­ter auf­zu­ge­hen. Sub­kul­tu­ren bil­den sich her­aus, die auf­grund eines man­geln­den Soli­da­ri­täts­ge­fühls mit der Gesamt­ge­sell­schaft, in der sie unter Anony­mi­tät und Bedeu­tungs­lo­sig­keit lei­den, nun­mehr eine par­ti­ku­lä­re Sozie­tät grün­den, in der sich die Außen­sei­ter der Gesell­schaft erneut ‘hei­misch’ füh­len kön­nen. Hegel, der sich viel­leicht am inten­sivs­ten in sei­nen Vor­le­sun­gen über die Reli­gi­on mit die­sen Fra­gen aus­ein­an­der­ge­setzt hat (cf. Wölf­le 1999: 19–29), sah die Auf­ga­be der par­ti­ku­la­ren Sub­jek­ti­vi­tät als ein wesent­li­ches Ingre­di­enz poly­the­is­ti­scher und mono­the­is­ti­scher Reli­gio­nen an und unter­stell­te selbst die Phi­lo­so­phie einem reli­giö­sen Zweck, indem er sie mit einem “Got­tes­dienst” iden­ti­fi­zier­te (vgl. Albert 1982: 84–6). Vor allem in neu­zeit­li­chen Gesell­schaf­ten ist das Bewusst­sein für die eige­ne Sub­jek­ti­vi­tät mit einem unge­heu­ren Lei­dens­druck ver­bun­den: Man spürt die Anony­mi­tät des Ichs in der Mas­se, die Bedeu­tungs­lo­sig­keit der eige­nen Per­sön­lich­keit in der Begeg­nung mit dem Sub­li­men, aber auch die Bür­de des Epi­go­nen­tums, das – bedingt durch die kul­tu­rel­len Leis­tun­gen der Vor­zeit – einen per­ma­nen­ten Anlass für Depres­sio­nen und Min­der­wer­tig­keits­ge­füh­le abgibt. Sub­jek­ti­vi­tät heißt somit auch Erkennt­nis der eige­nen Nich­tig­keit sowie Ein­sicht in die bedau­erns­wer­te Natur der con­di­tio huma­na gene­rell. Streng genom­men macht die Über­win­dung der par­ti­ku­la­ren Sub­jek­ti­vi­tät eigent­lich eine Wie­der­be­le­bung mythi­scher und mys­ti­scher Pro­gram­me erfor­der­lich, die an die phi­lo­so­phi­schen Vor­stel­lun­gen von Hil­de­gard von Bin­gen (1098–1179), Meis­ter Eck­hart (1260–1328), Wil­liam Bla­ke oder auch Ema­nu­el von Swe­den­borg (1688–1772) erin­nern. In einem exsta­ti­schen Pro­zess, bei dem das Ich sein Selbst­be­wusst­sein zuguns­ten einer ‘höhe­ren’ Rea­li­tät auf­gibt, um aus sich her­aus­zu­tre­ten (ex-sta­sis) und einem meta­phy­si­schen Sein näher­zu­kom­men, fin­det eine the­ra­peu­tisch zu ver­ste­hen­de Wie­der­ver­ei­ni­gung mit dem ver­lo­ren gegan­ge­nen Gan­zen statt. Kult, so lie­ße sich die­se The­se zuspit­zen, behebt somit ein sozi­al, theo­lo­gisch und phi­lo­so­phisch beding­tes Defi­zit des lädier­ten mensch­li­chen Selbst­be­wusst­seins, das als Fol­ge ratio­na­ler Erkennt­nis­pro­gram­me unver­meid­bar schien. Die Zunah­me von Kul­ten könn­te als der Indi­ka­tor für die Gene­se von Kri­sen­zei­ten inter­pre­tiert wer­den. Die Trau­ma­ti­sie­rung des Ichs durch die Myria­den von Split­tern, mit denen frag­men­ta­ri­sier­te Wel­ten das mensch­li­che Selbst­be­wusst­sein pene­trie­ren, scheint durch die kul­tisch insze­nier­te unio mys­ti­ca über­wind­bar zu wer­den. Kult wäre somit mul­ti­funk­tio­nal, begreif­bar als wirk­sa­me oder nur illu­sio­nä­re The­ra­pie indi­vi­du­el­ler, aber auch kol­lek­ti­ver Min­der­wer­tig­keits­kom­ple­xe; Kult wäre Medi­zin oder Pla­ce­bo, neo­rea­lis­ti­scher Reli­gi­ons­er­satz oder ‘Opi­um fürs Volk’.

4. Samuel Richardsons Pamela (1739–1740) und Clarissa (1748) als historische Beispiele früher englischer Kultbücher

Als his­to­ri­sche Modell­bei­spie­le für die Wir­kungs­wei­se von ‘Kult­bü­chern’ sei hier auf die bei­den Roma­ne Pame­la und Cla­ris­sa von Samu­el Richard­son (1689–1761) ver­wie­sen. Richard­son schrieb in einer Zeit, in der das ratio­na­le Para­dig­ma der Welt­erklä­rung zwar nicht völ­lig obso­let erschien, in der aber die Sehn­sucht nach einer non-ratio­na­len Sicht­wei­se der Welt immer stär­ker zu wer­den begann. Das auf­kom­men­de Bür­ger­tum hat­te es in ein­drucks­vol­ler Wei­se zu beträcht­li­chem Wohl­stand gebracht (vgl. Mül­len­b­rock 1984: 1–30), so dass eine bour­geoi­se Wer­te­kon­so­li­die­rung statt­fin­den konn­te; bei Richard­son, der als gelern­ter Dru­cker selbst aus dem Milieu der Hand­wer­ker stamm­te und im Gegen­satz zu den bekann­tes­ten Schrift­stel­lern der Zeit wie etwa Hen­ry Fiel­ding (1707–1754) oder Samu­el John­son (1709–1784) über kei­ne nen­nens­wer­te klas­si­sche Bil­dung ver­füg­te, wur­de der Pro­zess der Kon­so­li­die­rung bür­ger­li­cher Wer­te mit dem Mit­tel des Romans inten­si­viert. Zusam­men mit Lau­rence Ster­ne (1713–1768) avan­cier­te Richard­son zum Weg­be­rei­ter einer ratio­kri­ti­schen Ästhe­tik, die unter der Bezeich­nung “sen­ti­men­ta­li­ty” (“Emp­find­sam­keit”) die Kul­tur Euro­pas für lan­ge Zeit prä­gen soll­te (vgl. Ellis 1996: 5–48). Pamela In Pame­la erzählt Richard­son die Geschich­te einer jun­gen mit­tel­lo­sen Bediens­te­ten, die von ihrem bös­ar­ti­gen und hin­ter­häl­ti­gen Arbeit­ge­ber, dem aris­to­kra­ti­schen Mr. B., sexu­ell bedrängt wird; in Brie­fen, die in unmit­tel­ba­rer Fol­ge der Ereig­nis­se von Pame­la ver­fasst wer­den, beschreibt sie nicht ohne unfrei­wil­li­ge Komik die bit­te­re Not, die sie emp­fin­det, aber auch die Stra­te­gien, mit denen sie ihre Tugend vor allen Über­grif­fen zu schüt­zen ver­steht. Als Mr. B. ihre Brie­fe liest, ist er von der Unschuld und Tugend Pame­las so ange­tan, dass er sie wahr­haft zu lie­ben beginnt, wird geläu­tert und hei­ra­tet Pame­la am Ende des Romans. Clarissa In Cla­ris­sa, einem der längs­ten Roma­ne der eng­li­schen Lite­ra­tur­ge­schich­te, prä­sen­tiert der Autor die tra­gi­sche Geschich­te der tugend­haf­ten und äußerst attrak­ti­ven Cla­ris­sa Har­lo­we, die von ihren Eltern und ihrem Bru­der genö­tigt wird, den alten und ver­ab­scheu­ungs­wür­di­gen Sol­mes zu ehe­li­chen; aus Angst vor solch einer Ver­bin­dung wen­det sie sich dem attrak­ti­ven – eben­so rei­chen wie geist­rei­chen – jun­gen Love­lace zu, der sie dazu über­re­den kann, aus dem Eltern­haus zu flie­hen. Als einer der zynischs­ten Schur­ken der Welt­li­te­ra­tur und als Meis­ter heim­tü­cki­scher Intri­gen ver­sucht Love­lace, Cla­ris­sa zu ver­füh­ren, nicht eigent­lich um sie zu hei­ra­ten, son­dern um sie zu demü­ti­gen. Er bringt sie in einem Bor­dell unter und nutzt in per­fi­der Wei­se einen Ohn­machts­an­fall der fra­gi­len jun­gen Hel­din (femme fra­gi­le) aus, um sich an ihr sexu­ell zu ver­ge­hen. In einer vom Autor fast uner­träg­lich aus­ge­kos­te­ten Wei­se wird das sich anschlie­ßen­de Mar­ty­ri­um der tugend­haf­ten Hel­din beschrie­ben: Cla­ris­sa ver­wei­gert sich Love­lace auch wei­ter­hin, flieht vor ihm, ver­zich­tet auf Nah­rung, wird krank, ver­einsamt völ­lig, und in einer an die imi­ta­tio Chris­ti gemah­nen­den Tugend­haf­tig­keit stirbt sie den indi­vi­du­el­len und sozia­len Opfer­tod, ohne sich mit ihrer Fami­lie ver­söh­nen zu kön­nen. Ihre Abschieds­brie­fe ver­fasst sie auf dem Deckel des Sar­ges, den sie mit ihrem letz­ten Geld bereits zu Leb­zei­ten bestellt hat und der ihr in einer erschüt­tern­den Sze­ne in ihre letz­te Heim­stät­te gelie­fert wird. Bei­de Roma­ne, Pame­la und Cla­ris­sa waren die Kult­bü­cher ihrer Zeit und erober­ten Euro­pa im Sturm (vgl. Bue­ler 2010: xi-xxv). Modell­haft las­sen sich die Pro­zes­se auch gegen­wär­ti­ger Kult­phä­no­me­ne an Richard­sons Wer­ken auf­zei­gen. Die gerin­gen staat­li­chen Zen­sur­maß­nah­men im Eng­land des acht­zehn­ten Jahr­hun­derts begüns­tig­ten die Ent­wick­lung der Roma­ne Richard­sons zu Kult­bü­chern. Sozio­his­to­ri­sche Pro­zes­se tru­gen zu einer Ver­meh­rung des Lese­pu­bli­kums bei, vor allem eine brei­te weib­li­che Leser­schaft ent­stand als Fol­ge des Auf­stiegs des Bür­ger­tums, das die Dar­stel­lung der eige­nen Wer­te im Spie­gel der Lite­ra­tur gut­hieß (vgl. Watt 1985: 38–65). Die Ver­drän­gung tory­is­ti­scher Poli­tik durch whig­gis­ti­sche Inter­es­sen begüns­tig­te die Kar­rie­re Richard­sons eben­so wie der sich abzeich­nen­de Kol­laps adli­ger Wer­te­sys­te­me, deren Ver­falls­er­schei­nun­gen in allen Wer­ken Richard­sons dras­tisch vor Augen geführt wer­den. Zu den Vor­aus­set­zun­gen der Ent­ste­hung von Kult­bü­chern zählt aber auch ein gut funk­tio­nie­ren­des Kom­mu­ni­ka­ti­ons­sys­tem, damit die ein­zel­nen Rezi­pi­en­ten mit­ein­an­der über ihre Lek­tü­re­er­leb­nis­se kom­mu­ni­zie­ren kön­nen; durch das opti­mier­te Post­we­sen Eng­lands ließ sich solch eine Brief­kom­mu­ni­ka­ti­on pro­blem­los gewähr­leis­ten. Pame­la und Cla­ris­sa wur­den zu Kata­ly­sa­to­ren der Über­win­dung der ‘par­ti­ku­la­ren Sub­jek­ti­vi­tät’. Die im Sin­ne des Zeit­ge­schmacks span­nen­den Geschich­ten boten durch ihre Form als Brief­ro­ma­ne ein hohes Iden­ti­fi­ka­ti­ons­po­ten­zi­al pri­mär für Frau­en, aber auch für männ­li­che Leser. Züge einer säku­la­ri­sier­ten Meta­phy­sik zeich­ne­ten sich ab, wenn Richard­son, der Meis­ter der Per­for­manz und Selbst­sti­li­sie­rung, in einer wah­ren Apo­theo­se zu einem ver­eh­rungs­wür­di­gen Autor auf dem Olymp sub­li­miert wur­de, dem man mit Demuts­ge­bär­den begeg­ne­te. Richard­son wur­de nach­ge­ra­de zum lite­ra­ri­schen Gott, wohl auch zum eit­len Hohen­pries­ter einer inter­pre­ta­ti­ven Gemein­de, die ihn in allen Aus­le­gungs­fra­gen der Roma­ne, aber auch in man­chen Fra­gen lebens­prak­ti­scher Art um Rat frag­te. Die semi-reli­giö­se Ver­eh­rung des Autors, die den spä­te­ren Kult um Ste­fan Geor­ge gleich­sam anti­zi­pier­te, (vgl. Och 2004), des­sen Divi­ni­tät gera­de­zu zele­briert wur­de, führ­te zu einem äußerst inten­si­ven Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl der Leser und Lese­rin­nen, die man ohne Über­trei­bung heu­te wohl als ‘Richard­son-Fan­ge­mein­de’ bezeich­nen wür­de. Den Autor sah die­se Gemein­de als ein lite­ra­ri­sches Genie, über­häuf­te ihn mit Aner­ken­nung. Richard­son wur­de zum Mit­tel­punkt eines Zir­kels, der vor allem aus jun­gen Frau­en bestand. Der Roman Pame­la, der als Para­bel des sozia­len bür­ger­li­chen Auf­stiegs, der Gene­se weib­li­chen Selbst­be­wusst­seins und der mora­li­schen Läu­te­rung eines irren­den männ­li­chen Sub­jek­tes glei­cher­ma­ßen gele­sen wer­den konn­te, ver­kauf­te sich in nur drei Mona­ten mehr als 3000 Mal, eine für die Mit­te des acht­zehn­ten Jahr­hun­derts beein­dru­cken­de Ver­kaufs­zahl. Zwar gilt in der Gegen­wart wie in der Ver­gan­gen­heit die Maxi­me, dass man ein Kult­buch nicht künst­lich pla­nen kön­ne, aber die Ver­mark­tungs­stra­te­gie Richard­sons setz­te doch Maß­stä­be, die im Euro­pa der Zeit ihres­glei­chen such­ten. So sorg­te er dafür, dass Pame­la öffent­lich von dem bedeu­tends­ten Dich­ter der Zeit, Alex­an­der Pope (1688–1744), gelobt wur­de, und er scheu­te auch nicht davor zurück, Pre­dig­ten in Auf­trag zu geben, in denen die Lek­tü­re Pame­las von der Kan­zel aus emp­foh­len wur­de (cf. Key­mer 2001: xxiv-xxv). Noch effek­ti­ver war der wer­be­wirk­sa­me Umgang mit dem gezielt ein­ge­setz­ten Tabu­bruch: Richard­son insze­nier­te skan­da­lö­se Rezen­sio­nen, in denen – und dies ist die Zeit von John Cle­lands (1709–1789) Fan­ny Hill (1749) und Edmund Curlls (1675–1747) ein­schlä­gi­gen lüs­ter­nen Publi­ka­tio­nen – unter­stellt wird, bei Pame­la hand­le es sich um einen por­no­gra­phi­schen Roman, um das Inter­es­se der Leser zu wecken (vgl. auch Frei­burg 2011). Der Roman wur­de zum Publi­kums­er­folg; die not­dürf­tig ver­schlei­er­te Ero­tik der Geschich­te, die­se para­do­xe Mischung aus “Pre­digt und Strip­tease” (vgl. Watt 1985: 196), sorg­te für Auf­se­hen, es gab eine Aus­stel­lung von Wachs­fi­gu­ren zu Pame­la in der Fleet Street im Jah­re 1745, Mode­fä­cher mit Sze­nen aus Pame­la wur­den auf den Markt gebracht, Tee- und Kaf­fee­tas­sen mit Pame­la-Moti­ven erfreu­ten sich gro­ßer Beliebt­heit, und Pame­la avan­cier­te noch in den fol­gen­den Jah­ren zu einem hoch­ge­schätz­ten Namen für Favo­ri­ten bei Pfer­de­ren­nen (vgl. Keymer/Sabor 2001). In Kaf­fee­häu­sern und im Salon­le­ben wur­de die Buch­aus­ga­be von Pame­la zum Erken­nungs­zei­chen Gleich­ge­sinn­ter, die die Iso­la­ti­on der eige­nen Exis­tenz durch den Aus­tausch mit einer sym­pa­thi­sie­ren­den Richard­son-Lese­rin zu kom­pen­sie­ren ver­such­ten. Pame­la war Kult und Mar­ke­ting-Ereig­nis zugleich:
For Eagle­ton, Pame­la is as brash­ly com­mer­cial as a Hol­ly­wood block­bus­ter, not so much a novel as a ‚who­le cul­tu­ral event […] the occa­si­on or orga­ni­zing prin­ci­ple of a mul­ti­me­dia affair, stret­ching all the way from dome­stic com­mo­di­ties to public spec­ta­cles, instant­ly reco­da­ble from one cul­tu­ral mode to the next. (Keymer/Sabor 2005: 5)
In Cla­ris­sa setz­te Richard­son sei­ne Erfolgs­ge­schich­te fort, indem er die nun­mehr for­mier­te inter­pre­ta­ti­ve Kult­ge­mein­de bereits in die Pro­duk­ti­on sei­nes nächs­ten Roma­nes mit ein­be­zog. Er ließ Freun­de und Bekann­te Tei­le aus Cla­ris­sa lesen und bat sie um ihre Mei­nung, ohne auch nur im Ent­fern­tes­ten dar­an zu den­ken, deren Kor­rek­tur­vor­schlä­ge tat­säch­lich zu beher­zi­gen. Dass Cla­ris­sa das Poten­zi­al zu einem veri­ta­blen Kult­buch hat­te, wird auch durch eine Ana­ly­se der inhalt­li­chen Ingre­di­en­zi­en klar: Cla­ris­sa ana­ly­siert die Abgrün­de des mensch­li­chen Seins, bie­tet Trans­gres­sio­nen im sexu­el­len und mora­li­schen Bereich und ver­knüpft die wider­sprüch­li­chen Ele­men­te von Eros und Tha­na­tos auf sub­li­me Wei­se (vgl. Bron­fen 1992: 95–109). Mit der Anrei­che­rung der Geschich­te durch mythi­sche Anspie­lun­gen (vgl. Doo­dy 2001: 210–45), Träu­me, grau­en­haf­te Nacht­mä­re und Phan­ta­sien sorgt Richard­son für psy­cho­lo­gi­sche Abwechs­lung. Allein die Gestalt des Love­lace als Inkar­na­ti­on des Bösen, die an Mil­tons Satan und den Typ des “Res­to­ra­ti­on Rake” glei­cher­ma­ßen erin­nert, garan­tiert jene Gän­se­haut bei der Lek­tü­re, die spä­ter vom Schau­er­ro­man zele­briert wer­den soll­te. Die abgrund­tief bösen Intri­gen des aris­to­kra­ti­schen, blen­dend aus­se­hen­den, char­man­ten und elo­quen­ten Love­lace, die zyni­sche Kom­men­tie­rung der von ihm began­ge­nen Bös­ar­tig­kei­ten stellt ein ganz eigen­ar­ti­ges Fas­zi­no­sum dar, das wohl nur mit der Aura von Pierre Cho­der­los de Laclos’ (1741–1803) Les liai­sons dan­ge­reu­ses (1782) ver­gli­chen wer­den kann. Die tabu­bre­chen­de psy­cho­lo­gisch ori­en­tier­te Aus­lo­tung der unbe­wuss­ten sexu­el­len Wün­sche Cla­ris­sas, die sich vom schö­nen, aber gefähr­li­chen und gewalt­tä­ti­gen Hel­den ange­zo­gen und sti­mu­liert fühlt (vgl. Nick­las 1996), sorg­ten eben­so für die Fes­se­lung des Lesers wie die mor­bi­de Aura des Romans, in der ero­ti­sche Moti­ve mit Kon­tex­ten des Todes asso­zi­iert wer­den (vgl. Ziga­ro­vich 2000: 112–28). Der Plot Cla­ris­sas spie­gelt die Struk­tur anti­ker Kul­te wider, vor allem Cla­ris­sa in ihrer Opfer­rol­le übt für die eng­li­sche Gesell­schaft der Zeit eine kathar­ti­sche Funk­ti­on aus. Die per­sön­li­che Tra­gö­die Cla­ris­sas beschreibt die Kor­rup­ti­on des bour­geoi­sen Eng­lands in kras­sen Far­ben, pran­gert die Kon­ve­ni­en­ze­he eben­so an wie die Nei­gung der zeit­ge­nös­si­schen Juris­pru­denz, sexu­el­le Angrif­fe auf Frau­en zu igno­rie­ren (vgl. Bat­sa­ki 2006: 22–48). Cla­ris­sa kri­ti­siert den Patri­ar­cha­lis­mus der Zeit eben­so wie die Unter­drü­ckung der Frau­en (vgl. Back­schei­der 2000: 31–57), deren Unmün­dig­keit von Richard­son ein­drucks­voll beschrie­ben wird. Cla­ris­sas Opfer­rol­le, die bereits von den Zeit­ge­nos­sen im Kon­text der imi­ta­tio Chris­ti inter­pre­tiert wur­de, sorgt für eine Reform des bür­ger­li­chen Selbst­ver­ständ­nis­ses, dar­über hin­aus für die Auf­kün­di­gung des Respek­tes aris­to­kra­ti­schen Schich­ten gegen­über. Die Gesell­schaft “nach Cla­ris­sa” ist nicht die­sel­be wie die­je­ni­ge vor Erschei­nen des Romans. Die gleich­sam wie Maria ver­ehr­te Cla­ris­sa wird zu einem “Sün­den­bock” (vgl. Hil­li­ard 1990: 1083–97), zum Sinn­bild einer Rekon­sti­tu­ti­on ver­lo­ren gegan­ge­ner Wer­te, zu einer Iko­ne von Süh­ne und Läu­te­rung, auch zum Inbe­griff der Mög­lich­keit, den in der mate­ria­lis­tisch geson­ne­nen Wer­te­welt eng­li­scher Bour­geoi­sie ein­ge­büß­ten Nexus mit der Sphä­re Got­tes und der Meta­phy­sik wie­der­her­zu­stel­len. In der endo­ge­nen Welt des Romans ist Cla­ris­sas Geschich­te die wohl dras­tischs­te Illus­tra­ti­on von Hegels The­se der Über­win­dung der par­ti­ku­la­ren Iden­ti­tät, hier wohl im Kult des Todes. Die Revi­ta­li­sie­rung von Reli­gi­on und Chris­ten­tum erscheint als erklär­tes Pro­gramm des Autors. In der Bin­nen­welt wird die­se Re-Eta­blie­rung des Reli­giö­sen rea­li­siert. Aber auch außer­halb der Roman­welt regiert der Kult, der zwar eben­falls reli­gi­ös gefärbt scheint, ande­rer­seits aber auch als Ersatz für die ver­miss­te Reli­gi­on inter­pre­tiert wer­den kann. Wie ‘Schnee’, so bemerk­te Richard­sons Freund Aaron Hill, habe sich Cla­ris­sa auf die ‘Welt und all ihre Erzeug­nis­se gelegt’ und alles ande­re mit ihrer ‘gren­zen­lo­sen Wei­ße über­deckt’ (cf. Key­mer 2001: xxii). Die Wer­te­ge­mein­schaft der Kult­ge­mein­de Cla­ris­sa lässt sich auch an der Kor­re­spon­denz der Leser und Lese­rin­nen mit Richard­son und unter­ein­an­der able­sen: In die­sen Brie­fen betrei­ben die Kor­re­spon­den­ten und Kor­re­spon­den­tin­nen einen veri­ta­blen ‘Bin­nen­kult’, indem sie das Stil­ide­al Cla­ris­sas minu­zi­ös nach­ah­men; auch in die­ser Kor­re­spon­denz geht es elo­quent, höf­lich und vor­nehm, bis­wei­len gestelzt und über­mä­ßig umständ­lich zu, so als sol­le der Richard­son­sche Kult der Lang­sam­keit auch auf sozia­ler Ebe­ne aus­ge­lebt wer­den. Mehr noch als im Fal­le von Pame­la sorg­te der Cla­ris­sa-Kult für zahl­rei­che Nach­ah­mer: Cla­ris­sa wur­de adap­tiert, para­phra­siert, nach­er­zählt, in zahl­rei­che euro­päi­sche Spra­chen über­setzt, als Thea­ter­stück auf der Büh­ne prä­sen­tiert, nach- und umge­dich­tet (vgl. Bue­ler 2010). Zahl­lo­se inter­tex­tu­el­le Bezug­nah­men auf Cla­ris­sa in der euro­päi­schen Lite­ra­tur der Zeit bele­gen den hohen Bekannt­heits- und Beliebt­heits­grad des Romans. Die aus Cla­ris­sa zusam­men­ge­stell­ten Apho­ris­men und Sen­ten­zen wur­den als Inspi­ra­ti­on für reli­giö­se Medi­ta­tio­nen genutzt, und der Name “Cla­ris­sa” avan­cier­te zu einem belieb­ten Kose­na­men der Zeit. Die Ver­eh­rung für Richard­son kann­te kei­ne Gren­zen, selbst in Deutsch­land war man dem Eng­län­der ver­fal­len; Klop­stock ver­fass­te eine Ode auf Cla­ris­sa, und sei­ne Frau – von ihm zärt­lich als Cla­ra bezeich­net – lern­te eigens Eng­lisch, um mit dem Autor kor­re­spon­die­ren zu kön­nen (vgl. Bue­ler 2010: xiii-iv). Die Gemein­de­bil­dung zeig­te sich auch in der Rezep­ti­on des Romans. Cla­ris­sa wur­de mit Vor­lie­be im Fami­li­en­kreis vor­ge­le­sen und zu einem Gemein­schafts­er­leb­nis genutzt. So schrieb etwa Cathe­ri­ne Tal­bot an Eliza­beth Car­ter (1747):
As for us, we lived quite hap­py the who­le time we were rea­ding it [Cla­ris­sa], and we made that time as long as we could too, for we only read it en famil­le, at set hours, and all the rest of the day we tal­ked of it. One can scar­ce per­sua­de ones­elf that they are not real cha­rac­ters, and living peo­p­le. (Bue­ler 2010: 145)
Die Iden­ti­fi­ka­ti­on ein­zel­ner Leser und Lese­rin­nen mit der Hel­din ging so weit, dass man im Kaf­fee­haus oder im Salon plötz­lich jeman­den vor Schreck laut auf­schrei­en hör­te oder beob­ach­ten konn­te, wie er in Trä­nen aus­brach, wenn er an eine beson­ders auf­wüh­len­de Text­stel­le des Romans gelangt war. Vie­le Leser berich­ten von schlaf­lo­sen Näch­ten, die sie wegen Cla­ris­sa ver­bracht hät­ten, ande­re spra­chen davon, dass der Tag, an dem sie von Cla­ris­sas Tod erfuh­ren, zu den trau­rigs­ten Tagen ihres gesam­ten Lebens gezählt hät­ten. Pierre Le Tour­neur (1785) berich­tet:
Cla­ris­sa exci­ted so gre­at an inte­rest among his coun­try­men that it is clai­med that, as he gave it to the public in parts, they trem­bled more and more over the heroine’s fate as the novel moved toward its clo­se, and that in the peri­odi­cal papers of Lon­don could be found seve­ral let­ters deman­ding that the aut­hor do all in his power not to let her die. (Bue­ler 2010: 229)
Der Autor erhielt von Freun­den – aber auch von Unbe­kann­ten – fle­hent­li­che Brie­fe mit der Bit­te, er möge doch das Ende des Romans kor­ri­gie­ren, um Cla­ris­sa die Chan­ce zu geben, im Kreis ihrer Fami­lie glück­lich zu wer­den. Eine wahr­haft inten­si­ve inter­ak­ti­ve Kor­re­spon­denz ent­stand zwi­schen Richard­son und sei­nem Zir­kel. Sei­ne Leser zele­brier­ten den Kult der mora­li­schen Über­le­gen­heit, einer gleich­sam todes­ver­ach­ten­den Ver­eh­rung für das Shaf­tes­bu­ry­sche Tugend­ide­al und natür­lich den Glau­ben an die Unan­tast­bar­keit bür­ger­li­cher Moral, der der aris­to­kra­ti­sche Stan­des­dün­kel nichts ent­ge­gen­zu­set­zen hat­te. Kon­kret zeich­net sich die Über­win­dung der ‘par­ti­ku­la­ren Sub­jek­ti­vi­tät’ zahl­rei­cher jun­ger Frau­en und Män­ner dadurch ab, dass man nun Teil der gro­ßen Cla­ris­sa-Kult­ge­mein­de war, deren Lebens­stil es zu imi­tie­ren galt. Als Mit­glied der Kult­ge­mein­de beher­zig­te man den Wer­te­ka­non der schö­nen trau­ri­gen Hel­din, rezi­pier­te wil­lig die Bot­schaft der Tugend und erlern­te mit Eifer die Spra­che des Her­zens, um auf Augen­hö­he mit Cla­ris­sa zu sein. Dabei muss­te man in Bezug auf Reli­gi­on und Christ­lich­keit gar nicht ein­mal mit Cla­ris­sa wett­ei­fern, um dazu­zu­ge­hö­ren. Der Kult Cla­ris­sa erfüll­te sei­ne vika­ri­sche Funk­ti­on auch in abge­schat­te­ten Nuan­cen.

5. Exzesse des Personenkults: das Beispiel Franz Liszt

Das zwei­te Bei­spiel für die his­to­ri­sche Dimen­si­on von Kult­phä­no­me­nen ist der Welt der Kla­vier­mu­sik des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts ent­nom­men; trotz der stark ver­än­der­ten sozio­his­to­ri­schen Bedin­gun­gen ist die Haupt­funk­ti­on der kul­ti­schen Ver­eh­rung von Kunst auch in die­ser Zeit gleich geblie­ben. Die zahl­rei­chen poli­ti­schen Kon­flik­te, von denen das Jahr­hun­dert gera­de­zu über­bor­de­te, sorg­ten für Unru­he und Unsi­cher­heit; die nie wie­der gewon­ne­ne reli­giö­se Ein­heit und die Trau­ma­ti­sie­rung des reli­giö­sen Bewusst­seins durch die Erkennt­nis­se des Dar­wi­nis­mus schür­ten das Bedürf­nis des Ein­zel­nen, eine neue geis­ti­ge Hei­mat jen­seits des obso­let erschei­nen­den Reli­giö­sen zu suchen. Gera­de die Musik des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts, die trost­spen­den­den Inter­mez­zi eines Johan­nes Brahms (1833–1897), die Träu­me­rei­en eines Franz Schu­bert (1797–1828), die melan­cho­li­schen, aber den­noch beru­hi­gen­den Noc­turnes eines Fré­dé­ric Cho­pin (1810–1849) erfüll­ten die kul­ti­sche Auf­ga­be der Wie­der­ver­ei­ni­gung des Ein­zel­nen mit einer sub­li­men Welt, deren Haupt­kenn­zei­chen der Holis­mus geblie­ben war. Chopin Das gro­ße Zeit­al­ter der Vir­tuo­si­tät brach­te Musi­ker wie Richard Wag­ner (1813–1883) und Nic­colò Paga­ni­ni (1782–1840), aber auch Franz Liszt (1811–1886) her­vor, des­sen lang­jäh­ri­ge Kar­rie­re als “ein­zi­ger” Pia­nist der Zeit von der Aura des Kul­ti­schen umge­ben ist. Liszt Die Kraft der Musik, mit deren Hil­fe die ‘par­ti­ku­la­re Sub­jek­ti­vi­tät’ über­wun­den wer­den kön­ne, kommt bereits in den Wor­ten zum Aus­druck, mit denen Liszt sei­nen berühm­ten Kol­le­gen Cho­pin wür­digt; Cho­pin, so führt Liszt aus, habe kei­ne pia­nis­ti­sche Schu­le gegrün­det, viel­mehr müs­se man von “Cho­pins Kir­che” spre­chen (Zomoy­ski 2011: 233). Erin­nert der Kult um Cho­pin noch an die Andacht wäh­rend einer katho­li­schen Mes­se, so nimmt er in Bezug auf Liszt Züge an, die an die eleu­si­schen Spie­le den­ken las­sen. Mit nicht gerin­gem Spott sprach Hein­rich Hei­ne (1797–1856) von der wah­ren “Lisz­to­ma­nie” der Zeit (vgl. Hil­mes 2011: 39). Liszts undurch­sich­ti­ger Cha­rak­ter, sei­ne Oszil­la­ti­on zwi­schen Popu­la­ri­tät und Rät­sel­haf­tig­keit, sein Wan­del vom hedo­nis­ti­schen Frau­en­held zum aske­ti­schen Abbé ver­lie­hen ihm die Aura des Unnah­ba­ren und Unbe­re­chen­ba­ren. Die pseu­do-reli­giö­se, gera­de­zu kul­ti­sche Ver­eh­rung Liszts kann­te kei­ne Gren­zen: Bei sei­nem Besuch in sei­ner Hei­mat­stadt Rai­ding knie­ten alle anwe­sen­den Mäd­chen und Jun­gen vor ihm nie­der (vgl. Hil­mes 2011: 109; 119), ein Brauch, der spä­ter in Kon­zer­ten von jun­gen Frau­en inten­siv gepflegt wer­den soll­te. Liszt war der “Jupi­ter ful­min­ans des Kla­vier­spiels” (von Essen 2006: 194), gleich­sam die Stim­me Got­tes, wie auch Emma Sieg­mund mein­te, die urteil­te, nicht Liszt sei es, der bei Kon­zer­ten spie­le, son­dern er stel­le nur die Hül­le bereit, “aus der Gott spie­le” (von Essen 2006: 200). Wie Devo­tio­na­li­en wur­den die Uten­si­li­en des Pia­nis­ten gehan­delt, da von ihnen eine Heil­kraft aus­zu­ge­hen schien. Begehrt waren “Reli­qui­en” wie etwa benutz­te Taschen­tü­cher und weg­ge­wor­fe­ne Zigar­ren, deren Rauch eini­ge enthu­si­as­mier­te Ver­eh­re­rin­nen Liszts auch dann noch wei­ter inha­lier­ten, wenn ihnen davon spei­übel wur­de (vgl. Hil­mes 2011: 120). Eine Ame­ri­ka­ne­rin ließ sich den Über­zug eines Stuh­les rah­men, auf dem Liszt geses­sen hat­te, und häng­te sich das Kunst­werk an die Wand (vgl. Hil­mes 2011: 252); sei­ne auch im Alter noch beein­dru­cken­de Haar­pracht muss­te der Vir­tuo­se vor allem vor den kunst­be­geis­ter­ten Eng­län­dern schüt­zen, da die­se sich wohl nicht scheu­ten, ihm mit Pin­zet­ten heim­lich vor­zugs­wei­se ein­zel­ne Sil­ber­sträh­nen aus dem Haar zu zup­fen, wäh­rend Liszt im eksta­ti­schen Bann sei­ner eige­nen Musik vor sich hin impro­vi­sier­te (vgl. Hil­mes 2011: 253). Wie bei der Hei­li­gen­ver­eh­rung des Mit­tel­al­ters wur­den auch abjek­te Reli­qui­en des Ver­ehr­ten nicht aus­ge­spart; so soll eine Ver­eh­re­rin des Pia­nis­ten abge­stan­de­nes Wasch­was­ser aus Liszts Schlaf­zim­mer ent­wen­det haben, um es auf Fla­schen zu zie­hen, ein wert­vol­les Eli­xir, das sie dann auf der Brust zu tra­gen pfleg­te (vgl. Hil­mes 2011: 342).

6. Fazit

Die heu­te häu­fig unre­flek­tiert vor­ge­nom­me­ne Zuord­nung eines Kunst­wer­kes zum Bereich des Kul­ti­schen hat also sei­ne Wur­zeln in einem semi-reli­giö­sen, pseu­do-mys­ti­schen Kon­text, der die Zer­ris­sen­heit der jewei­li­gen Lebens­si­tua­ti­on durch wirk­li­che oder ver­meint­li­che Sinn­stif­tungs­pro­zes­se zu the­ra­pie­ren ver­sucht. Somit wird auch erklär­lich, dass die unzeit­ge­mäß wir­ken­de Ver­eh­rung von Per­so­nen, Ein­rich­tun­gen oder Wer­ken, die so gar nicht zu post-auf­klä­re­ri­schen Zeit­al­tern zu pas­sen scheint, den­noch ihre Berech­ti­gung fin­det. Gera­de als Kon­trast zu moder­nis­ti­schen Form­ex­pe­ri­men­ten in der Kunst, gera­de auch als Alter­na­ti­ve zu den sinn­ero­die­ren­den und wer­te­skep­ti­schen Dekon­struk­tio­nen post­mo­der­ner Befind­lich­kei­ten kön­nen Kul­te als Aus­druck einer unstill­ba­ren Sehn­sucht nach Ganz­heit gewer­tet wer­den. Die Gemein­de fei­ert sich selbst, aus Über­zeu­gung oder Not­wehr, aus Ver­zweif­lung oder Unbe­ha­gen an der frag­men­ta­ri­sier­ten Exis­ten­z­wei­se der All­tags­welt. Hier könn­ten die Grün­de für die Rele­vanz kul­ti­scher Fuß­ball­ver­ei­ne, Fern­seh­se­ri­en, soap operas, Kon­zer­te, Wer­be­sen­dun­gen, Königs­häu­ser, Schau­spie­ler, Bücher, Fil­me, Kaba­ret­tis­ten oder auch tech­ni­scher Gegen­stän­de lie­gen; die säku­la­ri­sier­te Meta­phy­sik gau­kelt ein Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl der Gemein­de­mit­glie­der vor, mit dem es sich leben lässt, ent­we­der für immer, oder bis zum nächs­ten Kult, der ganz bestimmt kommt, nein, kom­men muss. 1

Literaturverzeichnis

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Anmerkungen


  1. Für die Unter­stüt­zung bei der Recher­che zu die­sem Bei­trag möch­te ich mich bei Josef Gug­gen­ber­ger bedan­ken; für die Ein­rich­tung und sorg­fäl­ti­ge Kor­rek­tur des Manu­skrip­tes gilt mein Dank Nina Abas­si und Eve­lin Wer­ner. 

Rudolf Frei­burg wur­de 1956 in Hemer gebo­ren. Nach einem Stu­di­um der Anglis­tik, Ger­ma­nis­tik und Päd­ago­gik an der West­fä­li­schen-Wil­helms-Uni­ver­si­tät in Müns­ter pro­mo­vier­te er 1984 mit einer Stu­die zur Inten­tio­na­li­tät lite­ra­ri­scher Tex­te. 1985 wur­de er Hoch­schul­as­sis­tent an der Georg-August-Uni­ver­si­tät Göt­tin­gen, wo er sich 1992 mit einer Arbeit über Samu­el John­son habi­li­tier­te. 1995 wur­de er als Nach­fol­ger von Prof. Dr. Erwin Wolff auf den Lehr­stuhl für Anglis­tik an der Fried­rich-Alex­an­der-Uni­ver­si­tät Erlan­gen-Nürn­berg beru­fen, an der er auch gegen­wär­tig noch lehrt. Von 2002 bis 2004 lei­te­te er als Dekan die Phi­lo­so­phi­sche Fakul­tät und war anschlie­ßend von 2004 bis 2007 als Sena­tor der Uni­ver­si­tät tätig. Zur Zeit ist Frei­burg ‘Geschäfts­füh­ren­der Lei­ter des Insti­tuts für Anglis­tik und Ame­ri­ka­nis­tik’, ‘Spre­cher des Depart­ments Anglistik/Amerikanistik und Roma­nis­tik’ und ‘Spre­cher des Inter­dis­zi­pli­nä­ren Zen­trums für Lite­ra­tur und Kul­tur der Gegen­wart’. Er ist Mit­her­aus­ge­ber von 6 Sam­mel­bän­den – u.a. zu den The­men “Lite­ra­tur und Holo­caust”, “Lite­ra­tur und Theo­di­zee”, “Lite­ra­tur und Kult” – sowie Ver­fas­ser zahl­rei­cher wis­sen­schaft­li­cher Bei­trä­ge zur Lite­ra­tur und Kul­tur des acht­zehn­ten sowie des 20. und 21. Jahrhunderts.