Leben im Fotoalbum

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© Lukas Schepers

von Mesut Bayraktar

Da liegst du, allein, in einem Zuhau­se, das euer gemein­sa­mes war. Dein Kör­per befin­det sich auf einer Matrat­ze, die auf dem Boden ist. Du bist in sowas wie einem Wohn­zim­mer, zumin­dest umzin­gelt von vier Wän­den, die du nicht ver­las­sen willst. Sie sind dir fremd, und doch ver­traut. Du willst Gefan­ge­ner dei­nes Gedächt­nis­ses blei­ben, ahnst du doch, was Gegen­wart heißt: ein Jetzt, auf das ein Jetzt folgt, auf das ein Jetzt folgt, auf das ein Jetzt folgt. Rechts von dir ist eine schwar­ze Couch, links sind Schrän­ke, wor­in Bücher hocken und neu­gie­ri­ge Bli­cke auf dich wer­fen, die dich nichts ange­hen. Vor dir ist eine Wand mit zwei gro­ßen Fens­tern, die über die Dächer der Nach­bars­häu­ser bli­cken und ihre Hori­zon­te auf Wol­ken­ket­ten hef­ten, die glanz­los durch die Wei­te wan­dern, ohne zu grü­ßen. Du siehst bloß ver­ein­zel­te Schnee­flo­cken, die sie hin­ter­las­sen, und denkst, dass Ster­ne vom Him­mel fal­len. Ger­ne wür­dest du sie mit den Hän­den auf­fan­gen. Aber lässt du es, zün­dest noch eine Ziga­ret­te an und bleibst auf der Matrat­ze lie­gen, wo dich eine sam­te­ne Lee­re bedeckt.

Der Sinn eines Uhr­zei­gers ist dir abhan­den­ge­kom­men. Viel­leicht ist es Tag, viel­leicht ist Nacht, viel­leicht die wun­der­sa­me Röte dazwi­schen, die zuwei­len vio­lett schim­mert. Jeden­falls sind Stun­den, Tage, Wochen ver­stri­chen. Zeit hat sich gestreckt in Raum, in den sie geflo­hen ist wie ein ver­wun­de­tes Tier in eine Höh­le. Sie ver­harrt in Raum­zeit. Zur Arbeit bist du nicht gegan­gen und das, was Hun­ger heißt, ver­spürt dein Kör­per seit­her auch nicht mehr, der mit Wein und Was­ser aus­kommt. Die Erin­ne­rung mer­gelt dei­nen Kör­per von Innen aus und so sehr es dich auch ver­wun­dert: Dir gefällt, dass sich ein Mes­ser in dei­nem Bauch als Zei­chen dei­ner Exis­tenz win­det. Irgend­was stirbt in dir und das bedeu­tet, dass du lebst. Nur Leben­di­ges kann Ster­ben emp­fin­den. Wäh­rend du aus den Fens­tern guckst, dreht sich dein Blick nach und nach in dein Genick und ein Strom von Bil­dern zieht an dir vor­bei. Lie­gend rollt dir eine Trä­ne über die Wan­ge, die du nicht bemerkt hast. Du wischst sie mit der Hand weg. Du lernst, dass man Trä­nen ver­lie­ren kann, ohne dass man weint. Es gibt Blut, das aus­dringt, ohne dass es dafür offe­ne Wun­den braucht. Die­ses Blut schmeckst du.

 

Vor eini­gen Tagen, Wochen oder Stun­den hast du dir die Bil­der­rah­men an der Wand ange­schaut, die neben den Bücher­re­ga­len das Fres­ko einer Welt bil­den, die sich ver­flüch­tigt wie Nebel­schwa­den über einem See, sobald Tag wird. In einem Bil­der­rah­men war ein Foto von einer Frau, die sich mit gesenk­tem Kopf über eine Wie­se hockt. Sie sam­melt Gän­se­blu­men, um sie zu einer Kro­ne zusam­men­zu­bin­den, die sie dir auf­set­zen wird. Das war ein Sonn­tag. Ihr hat­tet euch neu ken­nen­ge­lernt und an irgend­ei­nem Sams­tag davor hat sie bei dir geschla­fen. Ihr habt in die­ser Nacht das Unmög­li­che bezwun­gen, indem ihr der Ein­sam­keit ent­kom­men seid, vor der es kein end­gül­ti­ges Ent­kom­men gibt. Am fol­gen­den Tag wart ihr spa­zie­ren. Ihr gingt durch einen Park, wo alte Bäu­me ins Blaue rag­ten. Ihr moch­tet es, euch in den Schat­ten der Wip­fel zu stel­len und dem Ras­seln der Blät­ter zu lau­schen, wenn der Früh­ling Wind in die Äste pus­te­te. Dabei lös­ten sich eini­ge ihrer kas­ta­ni­en­brau­nen Haar­sträh­nen und flat­ter­ten über ihre Stirn. Lächelnd strich sie die Sträh­nen hin­ter ihr Ohr und sah dich dabei an. Du nahmst ihre Hand und ihr gingt wei­ter. Am See habt ihr Schwä­nen zuge­se­hen und Enten Brot­krü­mel zuge­wor­fen. Kam ein Vogel, streck­te sie ihren Zei­ge­fin­ger und rief den Namen aus. Nur den Spatz kann­test du, die ande­ren waren für dich namen­los. Die Vögel hat­ten dich nicht beein­druckt. Dei­ne Gedan­ken waren noch bei den Sträh­nen, die der Früh­ling über ihre glat­te Stirn legte.

Ihr ward lan­ge spa­zie­ren, durch eine Baum­al­lee, über abste­hen­de Wur­zeln, an Baum­stümp­fen vor­bei, durch ein Spiel­platz, hin­ter den Rücken von Ang­lern und Was­ser­sport­lern ent­lang, die am See saßen, auf dem die Son­ne perl­te. Schließ­lich kamt ihr an jener Wie­se an, wo sie Gän­se­blu­men sam­mel­te und du die­ses Foto geschos­sen hat­test. Anschlie­ßend lag dein Kopf auf ihrem Schoß und sie strich mit ihrer Hand durch dein Haar. Das nann­test du Geborgenheit.

 

Irgend­wann nahmst du einen ande­ren Bil­der­rah­men in die Hand. Dar­in war ein Foto, auch von ihr. Sie trug ihre Haa­re kür­zer als üblich, nacken­frei. Seit­lich blickt sie dich an. Ihre Knie sind ange­win­kelt und auf ihrem rech­ten biegt sich ihr Ell­bo­gen in Rich­tung ihres Kinns. Zwi­schen Zei­ge- und Mit­tel­fin­ger sitzt eine glim­men­de Ziga­ret­te. Ihre Lip­pen sau­gen an der Ziga­ret­te und ihre Blu­se ist dun­kel­blau. Von der Sei­te segelt das Licht einer ungreif­ba­ren Later­ne über ihr Haar. Da es Abend war, ist das Foto etwas unscharf, aber eben dar­um scheint ihr hel­les Gesicht um so kla­rer her­vor, wor­in ihre Lider wie gestrick­te Gar­di­nen halb über ihre brau­nen Augen lie­gen, die einen leich­ten Grün­stich haben. Als eine Frau mit Hoff­nun­gen und Zwei­feln, mit Wün­schen und Ängs­ten, mit Stär­ken und Schwä­chen blickt sie dich an, als wol­le sie sich an dir festhalten.

Das war irgend­wo im Süden, wo der See­tang vom Mit­tel­meer in den Gas­sen zu rie­chen ist. Ihr saßt in einer Bar und trankt Alko­hol, nicht wenig. Am Tag lagt ihr noch auf einer Sand­bank, beschat­tet von einem Schirm, und hör­tet die Rufe der Wel­len, die aus der Tie­fe auf­stie­gen und eine unbe­kann­te und mäch­ti­ge Stim­me an die Küs­ten hoben, sobald die Boten schäu­mend über das Fest­land bra­chen. Ihr ver­such­tet die­se Rufe zu ent­zif­fern, aber ver­geb­lich. Ihr muss­tet schei­tern, aber ihr fan­det Zuver­sicht dar­in, dass ihr die Rufe jener Tie­fe ver­nom­men hat­tet, die sonst nur Matro­sen bekannt sind. Am Abend des­sel­ben Tages saßt ihr in die­ser Bar und spracht über die Unge­wiss­heit des Mor­gi­gen. Sie woll­te die Büh­nen der Kunst erobern und du, du hast unmensch­li­che Ansprü­che gestellt, indem du dei­ner Nai­vi­tät nach­gabst. Da ihr bei­de viel woll­tet, viel­leicht zu viel, ver­misch­te sich die­se Unge­wiss­heit mit einer Begeis­te­rung, die Revo­lu­tio­nä­re spü­ren müs­sen, wenn sie die rote Fah­ne in die Luft heben. Ihr wart groß­mü­tig und das gefiel euch, da der Groß­mut eure Her­zen lüf­te­te. So konn­tet ihr tie­fer atmen und euren Durst nach Welt stei­gern. Spä­ter, es war schon Nacht und die Bar hat­te bereits geschlos­sen, lagt ihr am Strand. Der Strand war kalt, aber der Alko­hol in euren Kör­pern mach­te euch wider­stän­dig. Das Salz des Mit­tel­meers wusch der­wei­len eure Füße. Als ihr für einen Augen­blick geschwie­gen hat­tet, die Milch­stra­ße hin­ter den Ster­nen ahnend, die über den schwar­zen Was­ser­mas­sen blinz­ten, spür­test du eine Hand auf dei­ner. Du wand­test dei­nen Blick nach ihr und die halb über ihren Augen gestrick­ten Gar­di­nen, ihre Lider, ver­rie­ten dir ein Geheim­nis, das du mit jenem Foto in der Bar ein­ge­fan­gen hat­test. Dem Geheim­nis gabst du einen Namen. Das nann­test du Vertrauen.

 

Zwi­schen all den Bil­der­rah­men an der Wand hat­test du am sel­ben oder einem ande­ren Tag noch einen abge­han­gen, auf dem ein Mann zu sehen war. Das warst du. Du stehst auf einer Trep­pen­stu­fe und trägst einen dun­kel­grau­en Anzug mit wei­ßem Hemd und Bor­deaux-Kra­wat­te. Du siehst lächer­lich aus, beson­ders dein Grin­sen, aus dem dei­ne Schnei­de­zäh­ne krie­chen. Hin­ter dir ist eine brei­te Glas­tür. Es ist die Ein­gangs­tür der Uni­ver­si­tät, wo du stu­diert hast. In dei­ner Hand befin­det sich ein Stück Papier. Du hältst es in einer Art, wie ein Demons­trant sein Schild in den Hän­den hat, um eine Bot­schaft in die Öffent­lich­keit zu tra­gen. Dei­ne Bot­schaft ist, dass du dein Examen erfolg­reich abge­schlos­sen hast, was nie­man­den inter­es­siert. Aber dein Gesicht ver­rät, dass es die gan­ze Welt etwas ange­hen müss­te. Nichts sieht lächer­li­cher aus, als ein Gesicht, das mit Stolz beklei­det ist. Denn es pak­tiert mit dem Unehr­li­chen. Für die­sen Tag hat­test du lan­ge hin­ge­ar­bei­tet. Es war der Tag, an dem du ein Fet­zen Papier erhieltst, der mit einem Knopf­druck aus der schma­len Öff­nung eines Dru­ckers her­aus­krab­belt. Die in dei­nen Schä­del gefal­le­nen Wan­gen und dei­ne Haut über­ra­schen dich. Mit der Zeit ging die Bläs­se der Bücher­sei­ten näm­lich auf dei­ne Haut über, da du hun­der­te Stun­den in Biblio­the­ken ver­brach­test, ver­brin­gen muss­test. Immer öfter kam es vor, dass du Ein­la­dun­gen alter Freun­de absa­gen muss­test, da dein Kör­per die Wochen­en­den brauch­te, um die Kraft zu sam­meln, die die Werk­ta­ge erfor­dert hat­ten. So standst du oft am Schei­de­weg vor zwei Türen, die eine her­künf­ti­ge, alte und eine ande­re, neue Welt von­ein­an­der trenn­ten. Du ent­schiedst dich für die zwei­te und ver­rietst die ers­te. So ver­ab­schie­de­te sich im Stil­len ein alter Freund nach dem ande­ren, bis nur noch ein paar weni­ge blie­ben, die sich letzt­lich auch ver­ab­schie­de­ten. Nur eine Per­son war schließ­lich da, näm­lich die, die die­ses Foto geschos­sen hat­te. Ohne sie, hät­test du ver­sagt. Sie hat­te dich nicht ver­las­sen. Sie stand neben dir und wenn es sein muss­te, stell­te sie sich hin­ter dich, damit du nicht fällst, weder auf den Rücken noch auf die Knie. Das hat­tet ihr ein­an­der ver­spro­chen. Das nann­test du Loyalität.

 

Als du dir die­ses Foto noch ein­mal anschau­test, aus dem dein Grin­sen wie eine Spin­ne her­aus­sprang, hast du den Bil­der­rah­men in einem Anfall von Wut gegen die Wand gewor­fen. Das Glas zer­sprang und unter den Split­tern liegt nun die­ses Foto, das du als Schmach und Betrug emp­fin­dest. Seit­her hast du es nicht auf­ge­ho­ben oder die Glas­split­ter zusam­men­ge­fegt. Über­haupt hast du nichts gemacht, außer auf der Matrat­ze zu lie­gen, aus den Fens­tern zu schau­en und Ziga­ret­ten zu rau­chen. Viel­leicht warst du dann und wann mal drau­ßen. Dann erschie­nen dir die Men­schen wie durch Stra­ßen wan­deln­de Tor­sos, gesichts- und laut­los. Sie spuk­ten durch die Stadt. Du sahst Autos an dir vor­bei­rau­schen, aber sie mach­ten kei­nen Lärm. Oder warst du taub? Es herrsch­te abso­lu­te Stil­le, da sich über­all um dich her­um das abso­lu­te Nichts wei­de­te. Ganz inwen­dig gingst du wie eine aus­ge­sto­ße­ne Krä­he durch die Stra­ßen, bis du wie­der in den vier Wän­den warst, wo du dich für eine frei­wil­li­ge Gefan­gen­schaft ent­schie­den hast. Die Welt, da drau­ßen, eine gefan­ge­ne, was mit ihr in einem Monat oder in einem Jahr wer­den soll­te, spiel­te sich hier bei dir ab.

 

Immer wie­der drehst du dei­nen Blick aus dei­nem Genick und lässt ihn durch das Zim­mer segeln. Allem, jedem Gegen­stand, selbst der Decke, dem Boden und den Wän­den, haf­tet ein Stück dei­ner Exis­tenz an, von der du weißt, dass es nur eine Fra­ge von Stun­den ist, dass die­se Exis­tenz zer­bre­chen wird, sobald die Gegen­stän­de, die dir und ihr gehö­ren, getrennt und weg­ge­tra­gen wer­den. Was Eins aus Zwei wur­de, wird wie­der Zwei wer­den, ohne wie­der Eins wer­den zu kön­nen. Du ahnst, dass auf die­se Exis­tenz ein Nichts fol­gen könn­te, was dich beängs­tigt. So schließt du dei­ne Augen und reißt dein Herz wie ein Kis­sen auf und wirfst die Federn um dich, damit du dich im Regen der Federn ver­ge­wis­sern kannst, wer du warst und wer du nicht mehr sein wirst.

Dann klin­gelt die Tür. Für einen Augen­blick ergreift dich eine Unge­duld, die dei­nen Puls stei­gert. Sie kann es nicht sein, das weißt du, sie kommt erst mor­gen in der Frü­he. Also stehst du auf und öff­nest die Tür. Ein Freund, der für dich da sein will, tritt ein.

Er schaut sich um und sagt, dass er dir hel­fen will, die Kar­tons zu packen.

Du lehnst ab.

Er wird unru­hig und fragt dich, ob du was isst.

Du bejahst.

Er glaubt dir nicht. Das ver­rät sein Nicken. Dann fragt er dich, war­um du dich quälst.

Du ant­wor­test, dass du dich nicht quälst.

Er sagt, dein Zim­mer in der Woh­nung sei fer­tig, du könn­test es beziehen.

Du sagst, dass du das tun wirst.

Er sagt, wann.

Du sagst, bald.

Er sagt, du musst sie vergessen.

Du sagst, dass du es nicht musst, da das Ver­ges­sen stär­ker ist.

Er sagt, was machst du dann noch hier.

Du sagst, dar­an arbei­ten, dass das Ver­ges­sen es nicht leicht haben soll.

Er lacht.

Du lachst nicht.

Er sagt, sei ver­nünf­tig, seit einem Monat bist du hier und lebst wie in einem Fotoalbum.

Du sagst – aber du kannst nichts sagen und verstummst.

Er merkt es dir an. Dann sagt er, lass uns dei­ne Sachen packen.

Du rührst dich nicht.

Er wie­der­holt sich.

Du rührst dich nicht.

Er wie­der­holt sich, dies­mal schroffer.

Du rührst dich nicht.

Dann geht er.

Nun bist du wie­der allein. Du hast dich nicht gerührt, weil ein Klum­pen dei­nen Hals ver­stopf­te. Dir ging es dar­um ihn zu ver­ber­gen, aus fal­scher Stär­ke. Der Freund ver­steht dich nicht, aber du ver­langst auch nicht, dass er dich ver­steht. Es gibt Kämp­fe, die kann man nur allei­ne füh­ren, da bei ihnen kein Sieg, son­dern nur Nie­der­la­ge mög­lich ist. Inmit­ten die­ser Kämp­fe ver­geht die Nacht, in der du immer und immer wie­der auf­wachst und durch das Zim­mer patrouil­lierst wie ein guter Sol­dat, der Befeh­len Fol­ge leis­tet und Lan­des­gren­zen schützt. Dabei lässt du dei­nen Blick an die­sem oder jenem Gegen­stand haf­ten, ohne auch nur die gerings­te Rück­sicht mit dir zu haben. Du fragst dich, war­um all das? Weil du weißt, dass du schon mor­gen ein ande­rer sein könn­test; nein, sein wirst, der die Fül­le des Lebens, die du mit ihr erreicht hast, zu einer arm­se­li­gen Erin­ne­rung her­ab­drü­cken könn­te, die dir ent­ge­gen­scheint, wenn er in fer­ner Zukunft an sie denkt. Du bist hier, in die­sen vier Wän­den, weil ihr hier etwas auf­ge­baut habt, das unter­ge­hen wird, und ehe es unter­geht, willst du es mit einem Brand­ei­sen in dei­ne See­le drü­cken. Denn schon mor­gen wird es ver­schwun­den sein und das Ein­zi­ge, was du ret­ten kannst, ist die Bedeu­tung, die es für dich hat­te. Wer bist du schon, ohne dei­ne Geschichte?

 

Am nächs­ten Mor­gen emp­fin­dest du eine Bedro­hung. Du ver­lässt die Woh­nung. Du ziehst durch die Stadt und fin­dest einen Bäcker, wo du einen Kaf­fee trinkst und eine Ziga­ret­te rauchst. Dann ziehst du wei­ter durch die Stadt. Die Zeit beginnt sich all­mäh­lich wie­der aus der Höh­le zu tas­ten und trennt sich zag­haft vom Raum, neben dem sie wie­der zu ste­hen ver­sucht, Raum-Zeit. Wahl­los biegst du ab, beob­ach­test die müden Men­schen­kör­per, die vom Haupt­bahn­hof auf­ge­so­gen wer­den und zur Arbeit fah­ren, wo sie sich selbst ver­ges­sen sol­len. Nun sind sie kei­ne Tor­sos mehr, aber haben auch noch kei­ne rich­ti­gen Gesich­ter. Ihnen feh­len, wie dir scheint, die Bli­cke – das, was Men­schen erkenn­bar macht. Du bist noch nicht soweit. Aber du beginnst ein lei­ses Pie­pen zu hören, wenn Autos an dir vor­bei­fah­ren. Die auf­wa­chen­den Spu­ren des All­tags ängs­ti­gen dich, weißt du doch, dass der All­tag das Medi­um der Gewöh­nung ist und weißt dar­über hin­aus, dass Gewöh­nung der Anfang aller Unbe­wusst­heit ist. Du schaust auf die Bahn­hofs­uhr. Der Zei­ger bewegt sich. Das ernüch­tert dich, da dich die ver­dräng­te Wahr­heit beschleicht, dass die Zeit gegen dich arbeitet.

Irgend­wann machst du dich auf in ein Zuhau­se, das dei­ne Gegen­stän­de ver­wahrt. Sie muss inzwi­schen fer­tig sein. Du hast extra eine Stun­de län­ger als abge­spro­chen gewar­tet, damit du sicher­ge­hen kannst. Als du der Kreu­zung ent­ge­gen­gehst, an der auf der lin­ken Abbie­gung das Zuhau­se liegt, fährt ein wei­ßer Trans­por­ter aus der Stra­ße her­aus. Wäh­rend der Trans­por­ter links abbiegt und du von rechts kommst, siehst du für einen Augen­blick das letz­te Mal jenes Gesicht von der Sei­te, dass dir gelehrt hat, was du Gebor­gen­heit, Ver­trau­en und Loya­li­tät nennst. Im nächs­ten Augen­blick ist die­ses Gesicht, das dich nicht gese­hen hat, im Cha­os der Welt ver­schwun­den. Du erhebst kei­nen Vor­wurf, nein, sie ist, die sie ist. Du erschreckst nur dar­über, dass das, was sie war, in ihr ist.

Mit Blei um den Knö­cheln steigst du die Trep­pen auf, öff­nest dir Tür und bemerkst, dass das Zuhau­se auf­ge­hört hat, ein Zuhau­se zu sein. Du gehst ins Wohn­zim­mer. Die Bücher­schrän­ke sind halb leer. Die Bil­der­rah­men sind größ­ten­teils weg. Die Couch ist weg. Die Schrän­ke in der Küche sind offen. Die Matrat­ze, auf der du dich mit sam­te­ner Lee­re bedeckt hat­test, ist an die Wand gelehnt. Der Boden ist gefegt und die Glas­split­ter des Bil­der­rah­mens sind auch weg. Der Bil­der­rah­men liegt auf der Fens­ter­bank. Das Foto von dir ist nicht mehr drin. Es ist auch weg. Sie hat es mit­ge­nom­men, was dich kurz Lächeln macht. Wäh­rend du den Bil­der­rah­men noch in Hän­den hältst, schaust du dich um und siehst, dass der Bag­ger des Ver­ges­sens das Foto­al­bum ver­wüs­tet und zer­trüm­mert hat. Nun ist es vor­bei und du bist bereit. Du hörst auf, Du zu sein. Ich set­ze ein Fuß aus dem Fotoalbum.

Mesut Bay­rakt­ar, geb. 1990 in Wup­per­tal, grün­de­te »nous – kon­fron­ta­ti­ve Lite­ra­tur« 2013 gemein­sam mit Kamil Tybel. Er hat Rechts­wis­sen­schaf­ten und Phi­lo­so­phie in Düs­sel­dorf, Lau­sanne, Köln und Stutt­gart stu­diert. Er ist Autor der Roma­ne »Brie­fe aus Istan­bul« (Dia­log-Edi­ti­on, 2018), »Wunsch der Ver­wüst­li­chen« (Autum­nus Ver­lag, 2021) und »Aydin – Erin­ne­rung an ein ver­wei­ger­tes Leben« (Unrast Ver­lag, 2021) sowie eines Buchs über G.W.F. Hegel mit dem Titel »Der Pöbel und die Frei­heit« (Papy­ros­sa Ver­lag, 2021). Auch erschien sein Thea­ter­stück »Die Bela­ger­ten« als Buch (Dia­log-Edi­ti­on, 2018), das 2020 in tür­ki­scher Über­set­zung mit dem Titel »Kuşa­tıl­mışlar« durch Tay­fun Demir ver­öf­fent­licht wur­de. 2019 hat er vom Thea­ter tri-büh­ne sei­nen ers­ten Stück­auf­trag zum The­ma Ger­da Taro und der spa­ni­sche Bür­ger­krieg erhal­ten. Der Text wur­de fer­tig­ge­stellt, die Urauf­füh­rung Anfang 2020 fiel jedoch auf­grund der Coro­na-Pan­de­mie aus. Im Rah­men des Pro­jekts »Fehlt Ihnen / Dir Schil­ler« des Deut­schen Lite­ra­tur­ar­chivs Mar­bach im Som­mer 2021 wur­de er als Sti­pen­di­at durch den Pro­jekt­pa­ten Burk­hard C. Kos­min­ski (Inten­dant des Staats­thea­ters Stutt­gart Schau­spiel) aus­ge­wählt. Sein Thea­ter­stück »Gast­ar­bei­ter-Mono­lo­ge« wur­de als Sze­ni­sche Ein­rich­tung (Micha­el Weber) am 25. Novem­ber 2021 am Deut­schen Schau­Spiel­Haus Ham­burg urauf­ge­führt. Auf­füh­run­gen in Hanau, Ber­lin, Bochum, Köln u.a. fol­gen. Er ist Sti­pen­di­at der Kunst­stif­tung Baden-Würt­tem­berg in der Spar­te Lite­ra­tur 2019.