Paradiso

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Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Thomas Klupp

von Manu­el Illi

“Was zum Bei­spiel eine Gene­ra­ti­on ist, das ist mir gar nicht klar. In jeder Alters­grup­pe leben extrem vie­le Indi­vi­du­en mit extrem unter­schied­li­chen Lebens­ent­wür­fen, da ist es pro­ble­ma­tisch zu beur­tei­len, ob ein Prot­ago­nist, also mein Prot­ago­nist, reprä­sen­ta­tiv ist.”

SCHAU INS BLAU: Dein Roman Paradi­so ist häu­fig in den Rezen­sio­nen als Hei­mat­ro­man bezeich­net wor­den. Ist das in Dei­nen Augen eine tref­fen­de Bezeichnung?

THOMAS KLUPP: Ich hat­te zunächst nicht geplant, einen Hei­mat­ro­man zu schrei­ben. Für mich stand am Anfang ganz klar die Figur eines Mit­läu­fers im Vor­der­grund, eines Oppor­tu­nis­ten, den man so ins Feld führt, dass er zunächst einen nach­voll­zieh­ba­ren Cha­rak­ter hat, dem Leser Iden­ti­fi­ka­ti­ons­po­ten­tia­le bie­tet und der dann lang­sam zu kip­pen beginnt. Es ist schon wich­tig für die­ses Kipp­mo­ment, dass auch der Hei­mat­raum, der für den Prot­ago­nis­ten Alex Böhm mit einer gan­zen Men­ge Gespens­tern besetzt ist, vor­kommt. Aber er hat sich qua­si wie von selbst in den Roman ein­ge­schrie­ben. Ich habe nicht ein­mal geplant, dass tat­säch­lich der Groß­teil des Romans in Alex’ Hei­mat spie­len würde.

SCHAU INS BLAU: In sei­ner Hei­mat erwar­tet ihn eine Men­ge an Gespens­tern. Das ist für den Leser zunächst nicht abzu­se­hen. Man erfährt von sei­ner Hei­mat durch das Gespräch mit dem alten Schul­au­ßen­sei­ter Kon­rad, von dem er an einer Tank­stel­le mit­ge­nom­men wird. Erst im Ver­lauf der Erzäh­lung erkennt man die Hin­ter­grün­de zu den ein­zel­nen Bezie­hun­gen. Zu Beginn sagt Alex, die Zeit in Wei­den sei Ver­gan­gen­heit, nach und nach zeigt sich aber, dass das völ­lig falsch ist. Ist also die Hei­mat, die ober­pfäl­zi­sche Stadt Wei­den, tat­säch­lich ambi­va­lent für den Prot­ago­nis­ten: Einer­seits ist sie fas­zi­nie­rend, dort ver­brach­te er sei­ne Jugend­zeit, dort lebt Leni, die immer noch begehr­te Exfreun­din. Ande­rer­seits war­ten dort Gespens­ter, die ganz uner­war­tet auf­tau­chen können.

THOMAS KLUPP: Das fin­de ich ganz gut beschrie­ben. Zunächst hat Alex an die­sem Tag – der Roman spielt ja bloß an einem Tag – gar nicht die Absicht, nach Wei­den zu fah­ren. Hei­mat stellt sich ihm bis zu einem gewis­sen Grad als ein über­wun­de­nes Pro­blem­feld dar, das in vie­ler­lei Hin­sicht posi­tiv besetzt ist: Da sind wit­zi­ge, schrä­ge, und prä­gen­de Sachen pas­siert, aber sein Pots­dam-Leben an der Film­hoch­schu­le, das er sich letzt­lich erschwin­delt hat, die­ses Leben ist sozu­sa­gen der leuch­ten­de Stern Alex Böhm, als den er sich selbst ger­ne sehen wür­de. Zugleich spürt und weiß er aber, dass die­ses Bild nicht ganz stimmt, und in die­sem Bewusst­sein gerät er dann zufäl­lig in die Hei­mat. Dort öff­nen sich dann auch all die Kis­ten, in denen die erwähn­ten Gespens­ter lau­ern. Es ist auf jeden Fall ein hoch ambi­va­len­tes Ver­hält­nis zur Hei­mat und zur eige­nen Ver­gan­gen­heit. Dass so einem Typen, der extrem situa­tio­nis­tisch, extrem gegen­warts­be­zo­gen han­delt, der, solan­ge er mit gewis­sen Din­gen nicht kon­fron­tiert ist, die­sen Din­gen auch kei­ne gro­ße Beach­tung schenkt – dass so einem Typen in geball­ter Wucht die Abgrün­de sei­ner Ver­gan­gen­heit ein­ho­len, ist natür­lich eine Trieb­fe­der des Romans.

SCHAU INS BLAU: Erhält Hei­mat ihre Bedeu­tung also erst durch eine Ver­lust­er­fah­rung, durch das Ver­las­sen des Ortes, den man rück­bli­ckend als Hei­mat emp­fin­det bezie­hungs­wei­se kon­stru­iert? Heim­kom­men hie­ße dann nicht nur, alle fal­len sich in die Arme, man sieht alte Freun­de wie­der und fei­ert zusam­men, son­dern es gibt auch hand­fes­te Grün­de, war­um Alex mög­lichst schnell wei­ter zum Flug­ha­fen nach Mün­chen, dem eigent­li­chen Ziel der Rei­se, will. Zeit­wei­se hat er ja gro­ßen Unmut beim Gedan­ken an die Urlaubs­rei­se mit sei­ner neu­en Freundin.

THOMAS KLUPP: Der aller­ers­te Grund, mög­lichst schnell wie­der aus Wei­den weg­zu­kom­men, ist natür­lich ein halb­tot geprü­gel­ter Freund im Wald – das sozu­sa­gen auf der Hand­lungs­ebe­ne. Aber tat­säch­lich ist Böhm ein Typ, der mit­nimmt, was gera­de so pas­siert, und sich in einer stän­di­gen Flucht­be­we­gung nach vor­ne befin­det. Ihm wür­de es wahr­schein­lich auch rela­tiv schnell in die­ser Hei­mat lang­wei­lig wer­den. Die­se Weg­be­we­gung ergibt sich für mich des­halb not­wen­dig oder logisch aus dem Cha­rak­ter her­aus. Eins möch­te ich aber noch zum The­ma Hei­mat hin­zu­fü­gen: Einer­seits ist für Alex Hei­mat ein topo­gra­phi­scher Raum, also Wei­den; dar­über hin­aus hat Hei­mat für ihn aber vor allem auch eine zeit­li­che Kom­po­nen­te. Sei­ne Erin­ne­run­gen bezie­hen sich immer wie­der auf den Zeit­raum sei­ner Puber­tät plus­mi­nus zwei, drei Jah­re. Es ist die­ser Zeit­raum zwi­schen 14 und 17, der im Wesent­li­chen her­bei­zi­tiert wird. Da ent­stan­den vie­le der Freund­schaf­ten, da ereig­ne­ten sich vie­le der Sachen, die ihn stark geprägt haben. In dem Zusam­men­hang ist Hei­mat für mich unab­hän­gig noch­mal vom Ort auch stark zeit­ge­bun­den. Michel Hou­el­le­becq hat ein­mal gesagt, es gibt eine Zeit im Leben, in der sich die Erfah­run­gen wie ein Stem­pel in wei­ches Wachs prä­gen und da kommt man nie mehr von weg. Man könn­te das als eine Form von men­ta­ler, psy­cho­lo­gi­scher Hei­mat bezeich­nen. Das spielt, glau­be ich, eine ganz wesent­li­che Rol­le in mei­nem und in Böhms Hei­mat­be­griff gleichermaßen.

SCHAU INS BLAU: Könn­te man das even­tu­ell wei­ter den­ken? Sind der Roman und das Erwach­sen­wer­den des Prot­ago­nis­ten als eine Rei­se zu ver­ste­hen, aber nicht als topo­gra­phi­sche Rei­se, eine Rei­se und Suche nach solch einer men­ta­len Heimat?

THOMAS KLUPP: Ja, wobei die­se Suche nach men­ta­ler Hei­mat in Paradi­so rela­tiv zu ver­ste­hen ist. Böhm ist ein außen­ge­steu­er­ter Cha­rak­ter. Er spie­gelt den Leu­ten immer das vor, von dem er glaubt, dass es bei den Leu­ten gut ankommt. Er geht für Erfolg oder für die­ses Sys­tem, das ihm ja letz­ten Endes dann Erfolg besche­ren soll, über Lei­chen – nicht wort­wört­lich, aber in die Rich­tung geht’s. Des­we­gen fra­ge ich mich, ob so ein Cha­rak­ter über­haupt eine ech­te Form von men­ta­ler Hei­mat im posi­ti­ven Sin­ne – und das ist für mich posi­tiv besetzt, wenn man von „men­ta­ler Hei­mat“ spricht – fin­den kann; ob er sich das nicht schon selbst längst zer­stört hat, durch das wie er ist und wie er handelt.

SCHAU INS BLAU: Könn­te man sogar sagen, Alex Böhm ist mehr als „nur“ ein Prot­ago­nist in einem Roman, son­dern tat­säch­lich zeigt er Sym­pto­me, die man so oder ähn­lich bei vie­len der Alters­grup­pe zwi­schen 20 und 30 beob­ach­ten könn­te? Die Fra­ge, die sich anschließt, wäre dann, wel­che Ursa­che die­se Sym­pto­me haben?

THOMAS KLUPP: Das ist eine gro­ße Fra­ge in meh­rer­lei Hin­sicht. Was zum Bei­spiel eine Gene­ra­ti­on ist, das ist mir gar nicht klar. In jeder Alters­grup­pe leben extrem vie­le Indi­vi­du­en mit extrem unter­schied­li­chen Lebens­ent­wür­fen, da ist es pro­ble­ma­tisch zu beur­tei­len, ob ein Prot­ago­nist, also mein Prot­ago­nist, reprä­sen­ta­tiv ist. Ich glau­be aber, wenn man es viel­leicht klei­ner fasst und die Gesell­schaft stär­ker seg­men­tiert, etwa all die Leu­te, die ins Künst­le­ri­sche oder ins Medi­en­busi­ness stre­ben, die also ein Leben füh­ren wol­len, das ein biss­chen spe­zi­el­ler oder gla­mou­rö­ser ist, dann könn­te man sagen, dass Alex Böhm gewis­se Momen­te in sich trägt, die reprä­sen­ta­tiv für die­se Men­schen sind. Zum zwei­ten ist mei­ner Ansicht nach das Lügen, Blen­den und Täu­schen grund­sätz­lich ein Teil der mensch­li­chen Natur in allen Schich­ten, in allen Klas­sen, in allen Alters­stu­fen, zu allen Zei­ten; sich ein biss­chen bes­ser dar­zu­stel­len, sich vor den Augen ande­rer zu opti­mie­ren, fängt in der Lite­ra­tur­ge­schich­te bereits mit Odys­seus an. Lis­ten und Tricks, um eige­ne Zie­le zu errei­chen, schei­nen eine anthro­po­lo­gi­sche Grund­kom­po­nen­te zu sein. Und das drit­te wären die Lebens­ent­wür­fe. Ich glau­be schon, dass die mög­li­chen oder vor­stell­ba­ren Lebens­ent­wür­fe, die für einen Zwan­zig­jäh­ri­gen rea­lis­tisch erschei­nen, in die­ser Wohl­stands­ge­sell­schaft – die so vie­le Mög­lich­kei­ten der Selbst­ver­wirk­li­chung bie­tet, in der so vie­le Pro­jek­ti­ons­flä­chen von dem bestehen, was man viel­leicht sein könn­te –, sehr viel­fäl­tig sind. Jun­ge Leu­te ste­hen vor dem Hin­ter­grund einer sich zuneh­mend ver­äs­teln­den Wirk­lich­keit vor einer gro­ßen Her­aus­for­de­rung: sich ein fes­tes Selbst­bild, ein gefes­tig­tes Ich und eine gefes­tig­te Zukunfts­vor­stel­lung auf­zu­bau­en, sehe ich als kei­ne gerin­ge Leis­tung an. Auf den Punkt gebracht: Die bewuss­te Ent­schei­dung für einen bestimm­ten Lebens­weg hat sich noch nie so kom­plex gestal­tet wie in unse­rer Zeit. An Alex zeigt sich die­ses Phä­no­men. Er will immer so lan­ge wie mög­lich alle Wege offen hal­ten, nie eine letzt­gül­ti­ge Ent­schei­dung tref­fen, die ihn auf etwas fest­le­gen könnte.

SCHAU INS BLAU: Es ent­steht der Ein­druck, dass Alex Böhm sei­ne mit­mensch­li­chen Bezie­hun­gen, die für ihn zwar wich­tig sind, immer auch funk­tio­na­li­siert. Wenn man etwa die Stel­le betrach­tet, an der er sei­nen alten Freund Simon tele­fo­nisch nicht erreicht und auf dem Anruf­be­ant­wor­ter eine fast schon kit­schi­ge Freund­schafts­lie­bes­be­zeu­gung hin­ter­lässt, die im Rück­blick als blan­ker Hohn erscheint, da er eben jenen Simon bei­na­he zu Tode prü­gelt. Wie erklärt sich die­se Dif­fe­renz zwi­schen akti­vem Leben, also dem Funk­tio­na­li­sie­ren von mensch­li­chen Bezie­hun­gen, und der ersehn­ten Idea­li­tät einer selbst­lo­sen Freundschaft?

THOMAS KLUPP: Ich glau­be nicht, dass Alex patho­lo­gisch ist, aber die ange­spro­che­nen Züge lie­gen nahe an der Gren­ze zum Patho­lo­gi­schen. Zwei Bil­der von ein und dem­sel­ben zu erzeu­gen, die sich kom­plett wider­spre­chen, ist für mich zugleich auch eine inne­re Poe­tik des Romans. Wenn man Paradi­so liest, das ist mir erst im Nach­hin­ein auf­ge­fal­len, kom­men dau­ernd sich wider­spre­chen­de Aus­sa­gen die­ser Figur zum Tra­gen, die von Minus auf Plus, von Plus auf Minus in ganz radi­ka­ler Wei­se wech­seln. Also er liebt in einem Moment genau das, war er im nächs­ten zer­stört und umge­kehrt. Genau die­ses Oszil­lie­ren hal­te ich ihm aber auch zugu­te, und des­we­gen ist er mir trotz sei­ner teils unge­heu­er­li­chen Taten doch auch sympathisch.

SCHAU INS BLAU: Das führt nun doch wie­der zu Fra­gen nach der Gesell­schaft, in der wir leben. Wenn man die Aus­sa­ge eines Rezen­sen­ten betrach­tet, Paradi­so sei ein Gesell­schafts­ro­man, dann trifft das mei­nes Erach­tens nicht den Kern. Das Leben, das Alex Böhm führt, ist in sei­ner spe­zi­el­len Art ein fast deka­den­tes Leben. Für ihn ist Armut, das wird im Gespräch mit dem Fern­kraft­fah­rer deut­lich, am Ran­de sei­ner Wahr­neh­mung ange­sie­delt, näm­lich in der Tsche­chei. Für ihn ist auf­grund sei­nes rei­chen Eltern­hau­ses Geld kein The­ma. Er drückt aus Ver­le­gen­heit der Kas­sie­re­rin in dem Ero­tik­shop ein­fach 50 Euro für eine Rech­nung von vier Euro in die Hand. Wenn Paradi­so im umfas­sen­den Sin­ne ein Gesell­schafts­ro­man wäre, wäre der Blick auf die Gesell­schaft sehr ein­ge­engt – auf die Per­spek­ti­ve des Protagonisten.

THOMAS KLUPP: Da gehe ich voll mit. Also wenn Gesell­schaft im Roman gespie­gelt wird, dann nur, das mein­te ich vor­hin, indem die­se Figur stell­ver­tre­tend für ein Seg­ment der Gesell­schaft ist. Die­ses Seg­ment kann man als eine Peer­group bezeich­nen – die abso­lu­te Peer­group wären in die­sem Sinn dann Stars, der Film­star oder der erfolg­reich Kunst Schaf­fen­de. In genau die­se Nische will – wie so vie­le es wol­len – auch Alex hin­ein… Und das, was vie­le wol­len, erzählt schon etwas über gesell­schaft­li­che Wer­te, über gewis­se Pro­jek­ti­ons­flä­chen der Gesell­schaft im Heu­te und Hier. Weil aber ledig­lich die­ses bestimm­te gesell­schaft­li­che Seg­ment im Roman genau aus­ge­leuch­tet wird, wür­de ich auch nicht sagen, dass Paradi­so ein Gesell­schafts­pan­ora­ma ist, son­dern mehr eine Cha­rak­ter­stu­die eines Typen, der sich in einem gewis­sen Milieu bewegt und der womög­lich reprä­sen­ta­tiv für die­ses Milieu ist.

SCHAU INS BLAU: Die Per­spek­ti­ve, die der Roman eröff­net, lässt dafür sehr tief bli­cken. Man kann dar­in auch eine Kri­tik am Kul­tur­be­trieb oder am kul­tu­rel­len Leben in Deutsch­land erken­nen. Alex hat kei­nen Erfolg, erhält aber einen Stu­di­en­platz auf­grund eines Kurz­films, den er einem Bekann­ten aus Wei­den gestoh­len hat. Der wie­der­um endet als Taxi­fah­rer. Könn­te man das als Kri­tik dar­an lesen, dass im Kul­tur­be­trieb als Ort kri­ti­schen Reflek­tie­rens nur der­je­ni­ge sei­nen Platz fin­det, der sich wie Alex durch­mo­gelt, der sich anpasst, ob das nun auf einer Film­hoch­schu­le oder in einer Aka­de­mie ist? Bedeu­tet das, um in eine Posi­ti­on zu kom­men, von der aus man Gehör fin­det, muss man sich so weit anpas­sen, dass das krea­ti­ve und kri­ti­sche Poten­zi­al sozu­sa­gen schon abge­wöhnt wurde?

THOMAS KLUPP: Man kann das natür­lich so lesen, aber ich selbst bin da etwas vor­sich­ti­ger und wür­de einen Schritt zurück­ge­hen. Was mich wirk­lich beschäf­tigt hat in der Anla­ge des Romans, ist die Fra­ge, war­um es in unse­rer Gesell­schaft bestimm­te Bil­der von Gewin­nern gibt und vor allem: Was sich hin­ter dem schö­nen Schein die­ser Bil­der für Abgrün­de ver­ber­gen. In ers­ter Linie wer­den die­se Gewin­ner­bil­der ja durch die Medi­en trans­por­tiert und strah­len von dort auf die Men­schen ab. Vie­le ver­su­chen die­sen Bil­dern zu ent­spre­chen, und Alex Böhm ist einer von ihnen. Das Tra­gi­sche dabei ist mei­ner Ansicht nach sei­ne inne­re Lee­re. Als Dreh­buch­schrei­ber etwa hat er kei­ne Visi­on von dem, was er eigent­lich erzäh­len, was er eigent­lich zei­gen möch­te. Böhm ist ein Typ, der nur des­halb etwas zei­gen möch­te, um nach oben zu kom­men. Der Inhalt sei­nes Debüt­films bei­spiels­wei­se ist ihm rela­tiv egal, solan­ge er Aner­ken­nung für ihn bekommt, solan­ge er dafür bewun­dert wird. Die­sen Men­schen­ty­pus vor dem Hin­ter­grund die­ses Gewin­ner-Com­mon­sen­se, der in unse­rer Gesell­schaft herrscht, den woll­te ich dar­stel­len. Das ist nicht im klas­si­schen Sin­ne poli­tisch, aber das war mein Ansatz und der wird natür­lich irgend­wo gesellschaftskritisch.

SCHAU INS BLAU: Da stellt sich die Fra­ge, was einen Men­schen wie Alex Böhm so weit brin­gen könn­te, sich sei­nes Han­delns mit all den Kon­se­quen­zen bewusst zu wer­den. Denn selbst der am Boden halb ver­blu­ten­de Freund lässt ihn nicht ins Grü­beln kom­men. Er steigt statt­des­sen ins Auto und fährt sofort wei­ter. Gibt es tat­säch­lich aus­sichts­lo­se Fäl­le oder kön­nen sol­che Cha­rak­te­re „geknackt“ wer­den? Im Buch erfah­ren wir es nicht.

THOMAS KLUPP: Eine span­nen­de Fra­ge, die ich mir oft selbst gestellt habe. Ich habe beim Schrei­ben oft an Patri­cia High­s­mit­hs Figur des Talen­ted Mr. Ripley gedacht, der mehr­fach mor­det, um dahin zu kom­men, wo er hin will. Die letz­ten Wor­te des Romans sind dann im über­tra­ge­nen Sinn auch „ich habe es geschafft“. Er sel­ber sagt: „Il meglio, il meglio, ich möch­te das Bes­te, das Bes­te!“. Ich weiß es nicht genau, aber ich glau­be, es gibt Figu­ren, für die jede Hoff­nung zu spät kommt. Ripley ist defi­ni­tiv eine sol­che Figur, Böhm womög­lich auch. Chan­cen wür­de ich für ihn sehen, wenn er für all sei­ne began­ge­nen Taten zur Ver­ant­wor­tung gezo­gen wer­den wür­de. Im zehn­ten Kapi­tel gibt es eine kur­ze Sze­ne, in der er den tota­len Unter­gang sei­ner Exis­tenz skiz­ziert: Leni fährt mit dem Taxi­fah­rer Berg­ler nach Pots­dam. Berg­ler zeigt die von Alex erschli­che­nen Fil­me, der dar­auf­hin aus der Hoch­schu­le gewor­fen wird. Leni klärt Johan­na über sei­nen wah­ren Cha­rak­ter auf, die­se macht wie­der­um Schluss und er ver­liert sei­ne Bezie­hung. Sein Freund Simon erzählt sei­nem gan­zen Umfeld, was ihm von Alex ange­tan wur­de, wor­auf er auch noch die­se Home­ba­se ver­liert, und der Vater dreht schließ­lich den Geld­hahn zu, weil er den BMW auf dem Weg zum Flug­ha­fen geschrot­tet hat. Das ist schon bewusst so ange­legt, dass der Roman an einem Punkt endet, an dem irgend­wie noch alles okay ist, aber gleich­zei­tig die Mög­lich­kei­ten besteht, dass jeder ein­zel­ne Halt, wäh­rend Alex in Por­tu­gal sei­ne viel­leicht noch letz­ten schö­nen Tage ver­bringt, weg­bre­chen könn­te. Ich weiß nicht, ob so ein Cha­rak­ter durch die ganz har­te Kon­fron­ta­ti­on mit sei­nen Taten gedreht oder ob er nicht ein ganz bit­te­rer Typ wer­den wür­de. Ein bit­te­rer Typ, der in eine dunk­le, men­schen­feind­li­che Com­pu­ter­exis­tenz abrutscht zum Bei­spiel. Das sind viel­leicht die zwei Mög­lich­kei­ten. Ich habe da kei­ne letzt­gül­ti­ge Ant­wort für mich.

SCHAU INS BLAU: Inter­es­sant ist dabei, dass er eigent­lich die Frei­heit oder Mög­lich­keit hät­te, all die Din­ge in Angriff zu neh­men, aber gera­de die­se Frei­heit schreckt ihn. Auf der einen Sei­te ist er ein sehr frei­heits­lie­ben­der Mensch, auf der ande­ren Sei­te beschränkt er sich lie­ber sel­ber, nur damit sei­ne Gau­ne­rei­en nicht auf­flie­gen. Wie kommt die­se para­do­xe Situa­ti­on zustan­de, dass der Wunsch und die­ser unbe­ding­te Wil­le nach Frei­heit, danach, sich jede Mög­lich­keit offen zu hal­ten, an die abgrund­tie­fe Angst gekop­pelt ist, die Frei­heit, die letzt­lich in Ver­ant­wor­tung mün­det, wahrzunehmen?

THOMAS KLUPP: Fin­de ich eine gute Fra­ge. Ich muss ganz ehr­lich sagen, ich habe kei­ne Ant­wort dar­auf. Es gab im Rah­men des Schreib­pro­zes­ses ein paar Ele­men­te über die ich nicht nach­den­ken muss­te, die plötz­lich oder auch von vorn­her­ein klar waren. Oft, nach­dem ich das Geschrie­be­ne gele­sen habe, habe ich gemerkt: aha, das macht einen Kern aus, ohne es vor­her geplant zu haben. Im Unter­schied dazu muss­te ich lan­ge an der Zeit­struk­tur fei­len, auch an der Spra­che habe ich lan­ge gear­bei­tet. Aber die Dis­po­si­ti­on der Haupt­fi­gur, die­ses Mit­läu­fer­tum, der Oppor­tu­nis­mus und eben auch der Situa­tio­nis­mus mit einer grund­sätz­lich gespal­te­nen Per­sön­lich­keits­struk­tur – noch nicht im patho­lo­gi­schen Sin­ne, son­dern so wie eben Men­schen ins­ge­samt gespal­ten sind –, waren Selbst­läu­fer. Es war mir ein­fach klar, dass Alex so ein Typ ist. Ich habe das nicht lang­sam Schritt für Schritt entwickelt.

SCHAU INS BLAU: Da Du gera­de das The­ma Zeit­struk­tur erwähnt hast: Du hast den Erzähl­stil dei­nes Romans ein­mal als „Echt­zeit­er­zäh­len“ bezeich­net. War der Grund für die­se Art des Erzäh­lens, die­se Rast­lo­sig­keit aus­zu­drü­cken zu kön­nen, die­ses nicht zu einem Ruhe­punkt Kom­men, um ja nicht reflek­tie­ren zu müssen?

THOMAS KLUPP: Was mich grund­sätz­lich begeis­tert, ist eine Lite­ra­tur, die eine gro­ße Unmit­tel­bar­keit besitzt. Mich begeis­tern natür­lich vie­le Bücher, aber ins­be­son­de­re eben auch Lite­ra­tur, die Unmit­tel­bar­keit erzeugt, die dem Leser den Ein­druck ver­mit­telt, mit­ten im Gesche­hen zu sein. Man hat kei­nen olym­pi­schen Über­blick, son­dern man folgt der Figur, die selbst – das ist ja der Trick dran – ein Ich-Erzäh­ler ist, der in der Jetzt-Zeit erzählt, was in Wirk­lich­keit ja unmög­lich ist. Aber die­ser Effekt der Unmit­tel­bar­keit war für mich ein zen­tra­les Moment. Um ihn für so eine Kipp­ge­schich­te her­zu­stel­len, in der ein stän­dig Getrie­be­ner wie Alex Böhm auf der Flucht nach vor­ne ist, war das Prä­sens und eine Annä­he­rung an ein Echt­zeit­er­le­ben das idea­le ästhe­ti­sche Mit­tel. Schließ­lich muss ich mei­ne frü­he­re Aus­sa­ge revi­die­ren: Eigent­lich han­delt es sich nicht um Echt­zeit­er­zäh­len, weil doch auch viel in die­sen lan­gen Gedan­ken­schlau­fen Böhms pas­siert, Rück­blen­den im Grun­de. Wenn man sich bei­spiels­wei­se das zwei­te Kapi­tel anschaut: Ich glau­be maxi­mal ein Vier­tel des Tex­tes ist Hand­lung, die­se gute Stun­de mit Roland in der Last­wa­gen­ka­bi­ne, die ist auf drei, vier Sei­ten aber­zählt; die Erin­ne­rungs­schlau­fen wie­der­um machen zwei Drit­tel des Kapi­tels aus. Es ist schon eine arg fin­gier­te Echt­zeit, muss ich zugeben.

SCHAU INS BLAU: Du schreibst gera­de an einer Dis­ser­ta­ti­on über die Poe­tik von Gegen­warts­ro­ma­nen und hast gleich­zei­tig sel­ber einen Gegen­warts­ro­man ver­öf­fent­licht. Emp­fin­dest Du eine Kluft zwi­schen lite­ra­ri­schem Schrei­ben bzw. lite­ra­ri­schem Umgang mit Spra­che und wis­sen­schaft­lich-reflek­tie­ren­dem? Oder ist bei­des für Dich gar nicht so weit auseinander?

THOMAS KLUPP: Doch, das ist eine Kluft, und ich bin mir nicht klar, wie lan­ge ich – um auf mei­ne eige­nen Dop­pel­le­bens­truk­tu­ren zu spre­chen zu kom­men – das noch machen kann. Es sind defi­ni­tiv ver­schie­de­ne Arbeits­wei­sen. Bei­des benö­tigt eine enor­me Kon­zen­tra­ti­on, einen enor­men Fokus. Mei­ner Ansicht nach könn­te man es neu­ro­lo­gisch sogar nach­wei­sen, ent­spre­chen­de Mess­in­stru­men­te vor­aus­ge­setzt, dass bei der jewei­li­gen Tätig­keit ande­re Hirn­area­le akti­viert wer­den, die aber auch dau­ernd ein­ge­übt wer­den müs­sen. Des­we­gen sind für mich wis­sen­schaft­li­ches Arbei­ten und lite­ra­ri­sches Arbei­ten zwei Berei­che, die ich im Moment nur mit einem enor­men Spa­gat ver­bin­den kann, aber wenn ich an die nächs­ten fünf bis zehn Jah­re den­ke… Wenn ich die Uni rich­tig mache, mache ich Uni rich­tig. Wenn ich aber Lite­ra­ri­sches rich­tig mache, dann das. Da spie­gelt sich eine Böhm’sche Struk­tur des Offen­hal­tens von Mög­lich­kei­ten. Ich emp­fin­de es im Moment nicht als ver­söhn­li­ches Mit­ein­an­der, son­dern durch­aus als Gegen­ein­an­der. Es ist schlicht und ein­fach der Fak­tor Zeit: Ich habe nur 24 Stun­den am Tag und davon schla­fe ich sieben.

SCHAU INS BLAU: Und jen­seits des Fak­tors Zeit: Man könn­te ver­mu­ten, dass die Ger­ma­nis­tik oder Lite­ra­tur­wis­sen­schaft ein pri­ma Instru­men­ta­ri­um zur Ver­fü­gung stellt, um einen per­fek­ten Roman zu schrei­ben – ich glau­be es gibt sogar einen Titel: „Wie man einen ver­dammt guten Roman schreibt“. Stimmt die­se Ver­mu­tung oder hin­dert even­tu­ell sogar das Wis­sen der Literaturwissenschaft?

THOMAS KLUPP: Ich wür­de nicht sagen, dass es hin­der­lich ist, es ist aber auch nicht wirk­lich hilf­reich, denn mir hel­fen alle theo­re­ti­schen Über­le­gun­gen nichts, sofern ich nicht für den Stoff bren­ne, sofern ich nicht den Erzähl­ton fin­de, um den Stoff zu ver­ar­bei­ten. Einen Erzähl­ton zu fin­den, hat für mich damit zu tun, immer wie­der um gewis­se Momen­te her­um zu schrei­ben, sich immer wie­der an das anzu­nä­hern, das einem selbst gar nicht wirk­lich bewusst ist. Die ein­zi­ge Ret­tung wäre wohl eine Zau­ber­ma­schi­ne, die mei­ne Tage 48 Stun­den lang macht; dann wür­de ich auf lan­ge Sicht sehr ger­ne Wis­sen­schaft­li­ches und Lite­ra­ri­sches mit­ein­an­der ver­bin­den wollen.

SCHAU INS BLAU: Tho­mas, vie­len Dank für das Gespräch.

Tho­mas Klupp ist gebür­ti­ger Erlan­ger, stu­dier­te Thea­ter­wis­sen­schaf­ten und Publi­zis­tik an der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin sowie Krea­ti­ves Schrei­ben und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten an der Uni­ver­si­tät Hil­des­heim. Dort ist er der­zeit wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter und unter­sucht in sei­ner Dis­ser­ta­ti­on die Poe­ti­ken zeit­ge­nös­si­scher Roma­ne. Von Tho­mas Klupp erschie­nen Erzäh­lun­gen in Lite­ra­tur­zeit­schrif­ten und Antho­lo­gien. Außer­dem war er Her­aus­ge­ber der Lite­ra­tur­zeit­schrift BELLA triste.