Bild: schauinsblau
von Azaliia Sibgatullina
Selbst die Lehrerin kann den Tsunami im Klassenzimmer zu Beginn der großen Pause nicht aufhalten. So sehr sie sich auch anstrengt, sieht sie in keinster Weise wie ein furchteinflößender Piratenkapitän mit einem Holzbein und einer Augenklappe aus. Überall wuseln Schüler herum wie Krebstiere, eine Federmappe fliegt in Richtung der frisch geputzten Tafel und hunderte Stifte liegen über die Tische verstreut herum. Wie ein Sturm auf offener See.
Während die verträumte Lehrerin mit ihrem Stift eine Melodie klopft, die entfernt an I want to break free erinnert, werden in einer ganz anderen Ecke des Klassenzimmers Geheimnisse ausgetauscht.
Drei große Sticker liegen in der Handfläche eines pummeligen Mädchens: eine weiße Katze mit einer silbernen Schleife am Ohr, ein Krokodil mit schielenden Augen und ein Fuchs mit abgerissener Schwanzspitze.
»Ich hatte Glück mit dem Fuchs, der Verkäufer hat ihn mir umsonst gegeben … Hey, nimm deine Griffel da weg!« Sofort verschwindet die Hand wieder.
»Schmoll nicht, du bist voller Kekskrümel.« Das Mädchen versteckt ihren Schatz eilig in einem funkelnden Brustbeutel und greift nach ihrer Brotdose.
»Igitt, du hast aber Pech mit dem Mittagessen! Sind das etwa aufgeweichte Käfer? «, ertönt eine leise Stimme.
»Vera, echt jetzt? Hast du noch nie Chia-Pudding gegessen? Meine Mama macht den jeden Tag für uns. Sie will, dass unsere Bäuche wie eine Uhr arbeiten …«
»Ich tausche einen von Omas Apfelmarmeladekeksen gegen dein Krokodil. Deal?«, schiebt sich der Junge direkt neben ihr ins Gespräch.
»Oh, komm schon, das ist nicht fair«, sagt Vera, ihre Stupsnase runzelnd. „Sie nimmt sich einen Keks, und in fünf Minuten hat sie nichts mehr: keinen Keks, keinen Aufkleber.«
»Und eigentlich soll ich ja gesünder essen …«, beschwert sich das Mädchen, den Aufkleber nimmt sie aber trotzdem aus ihrem Täschchen und wirft ihn dem Jungen zu. »Wurscht!« Der Keks ist dann nach einem Biss schon halb verschwunden.
»Das war ein gutes Geschäft!“, seufzt der Junge glücklich. »Ich dachte schon, diese Woche würde die schlimmste meines Lebens werden! Das Kino wurde abgesagt! Nur weil ich Toffees Fell abgesichelt habe! Ihm steht es eigentlich gut.« Er winkt mürrisch ab. »Vera, erzähl doch du jetzt was, du hast immer gute Geschichten.«
»Lass mich nachdenken«, antwortet sie und steckt sich ihren dünnen Pferdeschwanz zurecht. »Nichts wirklich Besonderes.« Als ihre Freunde bedauernd seufzen, lässt sich Vera schließlich doch hinreißen. »Bis auf die Tatsache, dass mein Zimmer renoviert wird, und ich kann alles aussuchen, was ich will.«
Der Junge stöhnt auf: »Aber du hattest doch schon eine Renovierung, erst vor ein paar Monaten! Unser Zimmer wurde vor fünf Millionen Jahren zuletzt renoviert. Ich will auch so wohnen! Hast du dir denn schon überlegt, was du möchtest?«
»Bestimmt ist dein Zimmer genauso schön, einem geschenkten Gaul schaut man doch nicht ins Maul. Ich warte noch auf etwas, und wenn das angekommen ist, kann ich sofort anfangen. Diesmal möchte ich zitronengelbe Wände, vielleicht sogar mit Pünktchen. Der Sommer kommt ja bald, und ich möchte, dass er in meinem Zimmer noch früher anfängt«, erzählt Vera und überschlägt sich fast mit ihren Worten. »Und ich möchte lilafarbige Vorhänge: Sie müssen oben Millionen von kleinen Rüschen und unten große Volants haben. Dann stelle ich mir unbedingt ein Etagenbett neben das Fenster, damit ich morgens von der Sonne geweckt werde und nachts die Sterne beobachten kann. Genug Platz für die Schaukel brauche ich ja auch noch …«
»Aber wie passt eine ganze Schaukel in ein Zimmer? Ist es so groß wie unsere Turnhalle?«, fragt der Junge und rückt nervös seine Brille zurecht. »Wann lädst du uns eigentlich endlich mal ein? Irgendwann muss es deine Mutter doch erlauben, oder?«
»Ein Wunder der Innenarchitektur!«, entgegnet Vera. Ein Satz, den sie letztens von einem Werbeschild abgelesen hat. »Und ihr werdet es nicht glauben, das ist nicht einmal die größte Neuigkeit! Ratet mal, was ich noch darf!« Ihre Freunde schnappen sich den Köder wie kleine Haie, und die wildesten Spekulationen fallen wie aus einem Füllhorn: »Darfst du ganz allein ins Freibad?! Gehst du auf eine Schatzsuche? Dürfen wir dich doch besuchen kommen?«
»Quatsch. Ich darf ein Haustier haben!« Die Reaktion enttäuscht nicht: Sie reißen die Augen auf und wippen vor Ungeduld, mehr zu erfahren. »Aber es ist so schwer, sich für eines zu entscheiden. Vielleicht bekomme ich einen süßen Welpen mit Schlappohren und lockigem Fell. Wir könnten zusammen im Park spazieren gehen, und ich würde ihm beibringen, mir sein Pfötchen zu geben. Oder ein flauschiges Kätzchen, das auf meinem Schoß liegt und stundenlang schnurrt? Oder sogar zwei?«
»Hunde sind die Besten! Wenn du auch einen hast, kannst du mit meinem Toffee und mir spazieren gehen«, bietet der Junge mit erröteten Wangen an, aber die laute Glocke ruft zur nächsten Stunde und verhindert Veras Antwort.
Die Straßenbahnfahrt nach der Schule kommt ihr heute nur halb so lang vor. Der Hund, der seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt und auf ihre Hose gesabbert hat, stört sie nicht, ebenso wenig wie die Menschen, die sich auf den Nachbarsitzen lautstark streiten. Alles, woran sie denken kann, ist die lebhafte Vision vor ihren Augen: ihre Finger, die über die seidigen Vorhänge gleiten, das weiße Holz des neuen Bettes berühren, das Ohr des neuen Haustiers streicheln.
Endlich wird die richtige Haltestelle angesagt, und Vera springt über die Füße der anderen Fahrgäste aus der Straßenbahn heraus und rennt los, als ob sie verfolgt würde. Das einzige Grüne in ihrem Viertel ist das Dach des Gewürzladens an der Ecke – und dennoch ist es ihr Lieblingsviertel. Der Aufzug des Plattenbaus, der einmal beige war und jetzt fast mit dem Bitumen verschmilzt, ist wieder mal außer Betrieb, und so rennt Vera die Treppe in den achten Stock hinauf. Meistens bleibt sie etwas länger im Treppenhaus, wie in einem Märchenturm, und versinkt in Tagträumen, aber dafür ist heute keine Zeit.
In der Wohnung ist es dunkel und etwas kühler als draußen. Die Küche bietet ein vertrautes Bild: Auf einem kleinen Holztisch steht eine Teekanne aus Keramik von ihrer Oma – sie hat einen leicht zerbrochenen Ausguss, aber der Tee darin schmeckt am besten. Daneben steht noch eine Packung Milch, vergessen vom Frühstück. Ist sie schon sauer, oder gibt es noch eine Chance, sie zu retten? Lieber schnell in den Kühlschrank stellen, damit das Müsli nicht wieder trocken genascht werden muss.
Auf der Couch im Wohnzimmer liegen noch ihre Decke und ihr Kissen, aber daneben sieht sie es endlich: den größten Stapel von Katalogen, den sie je erblickt hat. Nur für sie. Und wie unterschiedlich sie alle sind: hochglänzend, aus Zeitungspapier, gefaltet und in Magazinform. Sogar den ganz dicken hat sie gefunden! Erst dann bemerkt sie den Zettel daneben.
Liebes Töchterchen, bin bei der Arbeit. Heute wird es wieder später! Aber schau mal, was ich alles für dich sammeln konnte. Deine Mutti
Unter der Couch holt Vera eines der wichtigsten Elemente ihres Tages hervor: ein großes, in Leder gebundenes Notizbuch. Auf einer der umgeknickten Seiten ist ein Soßenfleck. Sie hatte sich damals beim Abendessen geweigert, das Notizbuch wegzulegen und lange geweint, als eine Nudel mit einem gezielten Schlag heruntergefallen war.
Sie blättert zu einer neuen Seite, bemalt die obere Hälfte des Blattes mit einem gelben Stift und zeichnet viele kleine Kugeln darauf. Dazwischen kommt ein Fenster, an das sie Vorhänge mit feinen, fliederfarbenen Rüschen malt. In dem ersten Katalog, der so herrlich nach Druckerschwärze riecht und den man endlos durchblättern kann, findet sie ein Doppelstockbett in einer entzückenden Mahagoni-Farbe. In der unteren Ebene könnte jemand während einer Übernachtungsparty schlafen. Nachdem sie es mit Entenbettwäsche bezogen hat, wählt sie einen Tisch aus. Irgendwo muss sie ja ihre Hausaufgaben machen. Und die Schaukel nicht vergessen, die findet sie in den Sommerangeboten.
Das Papier ist sehr durchsichtig und macht ihre Hände schmutzig, aber Vera schneidet sie trotzdem aus. Sobald sie die Tierabteilung aufschlägt, bricht ein quietschendes Geräusch aus ihren Lungen. Da liegen zwei Kätzchen auf einem großen roten Bett. Euphorisch schickt Vera die beiden – die sie Milch und Schnitte nennt – unter die Schaukel, damit sie sich dort am Nachmittag für ein Nickerchen verstecken können. Mit dem Zeigefinger streichelt Vera das weiche Fell der Kätzchen, und sie miauen zurück. Futter und eine Toilette bekommen sie natürlich auch ausgeschnitten. Als kleine Belohnung findet Vera noch eine große Tafel Schokolade in dem Lebensmittelkatalog und legt sie sich auf den Tisch.
Dann das große Finale. Mit einem ganz gewöhnlichen Bleistift schreibt sie unlesbar in die Ecke des Blattes:
Mein Zimmer.

Literatur ist zu einem allgegenwärtigen Teil des Lebens geworden: das Studium an der Literaturfakultät, aktive Stunden als Mitarbeiterin in der Bibliothek, und natürlich das Lesen aller möglichen Bücher und Geschichten sowie das Schreiben eigener Texte. Yoga und Tanzen sorgen für eine träumerische Balance. (Azaliia Sibgatullina)