Mach es dir so richtig bequem. Lege deine Arme entspannt ab, auf die Stuhllehnen oder auf die Oberschenkel, so, wie es sich für dich gut anfühlt. Stell dir vor, wie dein Körper ganz schwer wird, und lass die Anspannung los. Dein Kopf ist leicht und frei. Nimm dir einen Moment, um diese Empfindung zu genießen. Du bist vollkommen ruhig.
Achte jetzt auf deine Atmung. Dein Bauch hebt und senkt sich langsam und gleichmäßig. Spüre, wie der Atem ein- und ausströmt, ganz von selbst. Mit jedem Einatmen atmest du Entspannung ein, mit jedem Ausatmen lässt du etwas mehr los.
Gedanken kommen und gehen, sie sind jetzt ohne Bedeutung. Du bist vollkommen ruhig.
Wir unternehmen nun gemeinsam eine Reise. Stell dir zunächst vor, dass an der Wand gegenüber eine Tür erscheint. Erst ist nur ein blasser, rechteckiger Umriss zu erkennen, aber je länger du hinsiehst, desto deutlicher kannst du den Türknauf und die Maserung des Holzes ausmachen. Lass dir Zeit und stelle es dir solange vor, bis du es klar vor deinem inneren Auge sehen kannst. Male dir anschließend aus, wie du aufstehst, auf die Tür zugehst, den Knauf umfasst und daran ziehst. Ganz ohne Widerstand lässt sich die Tür öffnen. Du schreitest hindurch und stellst fest, dass du dich nun in einem herrlichen Herbstwald befindest.
Du lässt deinen Blick in die Höhe schweifen: Ein blauer Himmel schaut freundlich auf dich herab. Wenige, weiche Wolken ziehen langsam und friedlich darüber, sie sehen rein und strahlend aus. Mit geschlossenen Augen genießt du die Sonnenstrahlen auf deinem Gesicht und deinen Armen, sie fühlen sich angenehm warm an.
Nach einer Weile bekommst du Lust, spazieren zu gehen. Du folgst einem Waldweg und betrachtest dabei die bunten Blätter an den Bäumen, die in rot, gelb, grün und orange leuchten. Auch der Waldboden ist von Blättern bedeckt. Sie rascheln unter deinen Schritten, hörst du es?
Genussvoll atmest du beim Gehen die Gerüche des Waldes ein. Es riecht würzig, nach Laub und feuchter Erde. Der Duft des Waldes umgibt dich ganz. Seine Luft tut dir gut, sie ist frisch und klar. Ein leichter Wind kommt auf, und du spürst, wie er sanft dein Gesicht streichelt und deine Haare wehen lässt. Er löst ein paar Blätter, die langsam zu Boden trudeln.
Lass auch du dich jetzt auf den Waldboden ins Moos sinken, das sich weich anfühlt und nach feuchtem Gras duftet. Hinter dir steht eine große, alte Kastanie. Du lehnst dich an ihren Stamm. Die Borke ist fest und beständig, sie gibt dir ein Gefühl von Geborgenheit. Bleib eine Weile so sitzen. Genieße die Geräusche des Waldes, das Knacken der Zweige und das Rauschen der Blätter im Wind. Betrachte ihr Farbenspiel über dir. Du fühlst dich wohl und sicher. Neben dir liegen runde, dicke Kastanien. Du hebst eine von ihnen auf und nimmst sie zwischen die Hände. Spürst du, wie sie ganz glatt und warm gegen deine Handflächen drückt?
Nach einer Weile stehst du wieder auf und folgst einem Pfad, der dich tiefer in den Wald hineinführt. Während du gehst, spürst du, wie die Wärme auf deinen Armen nachlässt. Du hebst den Blick und siehst, dass Wolken vor die Sonne gezogen sind. Der Wind streicht angenehm leicht und kühl über deine Wangen.
Der Weg, dem du folgst, wird nun abschüssig. Langsam tastest du dich über den steinigen Untergrund und setzt deine Schritte ganz bewusst. Du lässt dir Zeit und genießt das Gefühl, ohne Anstrengung bergab zu gehen.
Halte jetzt einen Moment inne und sieh dich im Wald um: Du stehst zwischen tiefgrünen Tannen, auf denen Eichhörnchen umherspringen. Eines von ihnen sitzt auf dem Baum direkt neben dir, und du erfreust dich an seiner Kraft und Wendigkeit, als es den Stamm hinabklettert und neugierig auf dich zukommt. Du gehst in die Knie, streckst vorsichtig deine Hand aus und streichelst es. Es fühlt sich warm und weich an. Das zutrauliche Tier klettert auf deine Schulter und schmiegt sich an deine Wange. Du genießt die Berührung und bist glücklich, dass du in diesem schönen Wald spazieren gehst.
Als das Eichhörnchen dich nach einer Weile verlässt, stehst du auf und setzt deine Wanderung fort. Über dir schließt sich das grüne Nadeldach der Bäume. Du spürst wieder den Wind, der durch das Tal fährt, auf deiner Haut und merkst, dass es kälter geworden ist.
Nachdem du ein Stück gegangen bist, spannt sich ein großes Spinnennetz mitten über deinen Weg. Kurz zögerst du, aber dann siehst du, dass das Netz verlassen ist. Du gehst hindurch und merkst, wie sich die Fäden auf deine geschlossenen Augen und deine Wangen legen.
Dann fühlst du, wie dünne Beine über dein Haar huschen, und verstehst, dass das Netz noch bewohnt war. Du hebst die Hand und willst die Spinne abstreifen, aber sie ist schon in deinen Nacken gesprungen und hinten in deinem T‑Shirt gelandet. Du schlägst mit der flachen Hand auf deinen Rücken, bis die Spinne tot hinausfällt, ein schwarzes Knäuel aus Beinen und Sekret. Du schüttelst dich vor Ekel und spürst, wie die Gänsehaut von deinen Schultern die Arme hinabwandert.
Du kommst an einer Gruppe von großen Felsen vorbei, die sich wie ein Tor über den Weg wölben. Die Steine ragen bedrohlich vor dir auf, du lässt deinen Blick darüber streifen und siehst Moose und Flechten leuchten, in blassgrün, grau und weiß. Du berührst den Fels, er fühlt sich rau an. Als du deine Hand wieder zurückziehst, schneidest du dich an seinen scharfen Kanten. Du merkst, wie ein kleiner Tropfen Blut an deinem Daumen herabrinnt, und spürst ein gleichmäßiges Pochen. Dann schreitest du durch das Felsentor.
Hier ist es dunkler, die Bäume sind nur noch schwarze Schemen am Wegesrand. Du gehst weiter. Der Geruch von Moder steigt in deine Nase, du atmest ihn tief ein. Vor dir auf dem Weg siehst du einen länglichen Gegenstand. Du näherst dich ihm und stellst fest, dass es eine verwesende Leiche ist. Du trittst näher heran und betastest ihre Finger, die sich wie Gummi anfühlen, und spürst, wie dir übel wird. Dein Blick folgt der Linie der seltsam verrenkten Gliedmaßen, wandert über offene Stellen, von fetten Maden durchsetzt, die Ränder ausgefranst, hinauf zu dem entstellten Gesicht. Du erkennst, dass dort dein ehemaliger Turnlehrer liegt. Seine leeren Augen verfolgen dich, als du stolpernd und schreiend das Weite suchst.
Nach einer Weile beruhigst du dich wieder und siehst dich um. Bäume gibt es hier keine mehr, schroffer Fels umgibt dich. Du stehst in einer Schlucht. Du setzt dich auf den Boden und spürst seine unangenehme Feuchtigkeit, bald fühlt sich deine Kleidung klamm und kalt an. Der Wind pfeift laut in deinen Ohren. Am anderen Ende der Schlucht taucht ein schwarzer Schatten auf. Du erstarrst, während sich die Bestie dir nähert. Sie hat Zähne und Klauen, sie stinkt aus dem geifernden Maul. Aber ihr Blick ist nicht auf dich gerichtet, sondern auf etwas, das sich hinter dir befindet. Du drehst dich um und siehst am anderen Ende der Schlucht ein Reh stehen. Der Schatten beachtet dich nicht weiter, sondern bewegt sich auf das Tier zu, das gelähmt ist vor Angst. Du lehnst deinen Rücken an den Fels und verschränkst die Arme hinter dem Kopf.
Die Bestie macht einen Satz und versenkt ihre Zähne in der Flanke des Rehs. Du hörst seine kläglichen Schreie und kannst dir seinen Schmerz vorstellen, als das Ungeheuer ihm die Hälfte des Beins abreißt. Das Reh versucht sich fortzuschleppen, aber das Ungetüm ihm springt auf den Rücken und verbeißt sich in seinem Genick. Was es danach noch mit dem zarten Tier anstellt, willst du nicht mehr sehen, und du rennst los, während das rhythmische Grunzen der Bestie hinter dir leiser wird.
Du verlässt die schlucht und gehst weiter. Dir wird bewusst, dass du den weg zurück längst nicht mehr finden könntest. Du irrst durch den wald, während es nacht wird und wieder tag, und wieder nacht, und wieder tag. Irgendwann wirfst du dich auf den boden und beschließt, dort liegen zu bleiben. Du spürst, wie das laub unter dir fault, lässt dich von regen begießen und von der sonne bescheinen. Irgendwann fällt der erste schnee, aber du liegst und liegst, mal weinend, mal stumm.
Und eines morgens weißt du, dass es genug ist. Du stützt dich auf die abgemagerten unterarme, sie schmerzen auf dem eisigen grund. Du schüttelst den schnee ab und bewegst dich vorsichtig, während das blut kribbelnd zurückströmt. Und brichst zum letzten teil der reise auf.
der schnee knirscht bei jedem schritt. eisiger nachtwind flüstert in den tannen am wegesrand. klar und kalt die verschneite welt. du wanderst einsam. der weg ist steil, der gipfel fern. weiße wolken entstehen und vergehen. in der ferne die lichter eines dorfes. rauch wabert über den schornsteinen, der wind trägt ihn fort. die häuser schmiegen sich zum schutz vor der kälte eng aneinander. unerreichbar. die andere richtung. der weg ist steil, der gipfel fern.
das gepäck auf den schultern, woher kommt es? es beschwert die schritte und macht den rücken krumm. undeutliche formen säumen den weg. es sind die anderen, diejenigen, die gescheitert sind. ihre bleichen erstarrten gesichter erzählen von sehnsucht und hoffnung. die eiszapfen an ihrer kleidung berichten von leid. im dunkel zwischen den tannen liegen abgründe. wer sich hier oben verirrt, findet nicht mehr zurück. der weg ist steil, der gipfel fern.
wie weit es noch ist nebelschwaden ein fuß vor den anderen vom weiß verschluckt
eisbrücken schwingen sich in schwindelnder höhe über bodenlose schlünde
dunstige nebelfetzen ziehen über die eisigen schluchten es fällt ihnen leicht sie sind nicht so menschenschwer
zu beiden seiten die felsen schwarz und drohend
der weg ist steil der gipfel fern
das eis greift tief die hauchdünne luft der mut ist längst dahin zu viele andenken zu viel sehnsucht
taubheit breitet sich aus
die felsen sind verschwunden
unendliche wälder ziehen vorüber vermischen sich mit dem himmel den gebirgen dem all eiskristalle
das ferne ende der nahe anfang das nächtliche weiß zerfasert dreht sich im strudel der schwärze der nacht der ewigkeit der sehnsucht der
schneebedeckte gipfel ragen hoch in die klare nacht
unter dir ziehen die weißen wolken
der gesang der schwerelosigkeit klingt in deinen ohren
die menschen sind unendlich fern
die sterne zum greifen nah
die ruhe ist
vollkommen
vollkommen
vollkommen
nur
schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen
schweigen
Florian Kurz, geboren 1992, begann zunächst ein Studium der Psychologie und Asienwissenschaften. Obwohl auch hier gute Geschichten zu finden waren, wechselte er recht bald zur Literaturwissenschaft, um sich intensiver der Arbeit am Text zu widmen. Er nähert sich der Sprache aber nicht nur wissenschaftlich, sondern auch gerne journalistisch und kreativ — seit der Teilnahme an der Bayerischen Akademie des Schreibens 2017/2018 mit neuen Impulsen und noch größerer Motivation.