Ein Text von Florian Kurz

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Mach es dir so rich­tig bequem. Lege dei­ne Arme ent­spannt ab, auf die Stuhl­leh­nen oder auf die Ober­schen­kel, so, wie es sich für dich gut anfühlt. Stell dir vor, wie dein Kör­per ganz schwer wird, und lass die Anspan­nung los. Dein Kopf ist leicht und frei. Nimm dir einen Moment, um die­se Emp­fin­dung zu genie­ßen. Du bist voll­kom­men ruhig. Ach­te jetzt auf dei­ne Atmung. Dein Bauch hebt und senkt sich lang­sam und gleich­mä­ßig. Spü­re, wie der Atem ein- und aus­strömt, ganz von selbst. Mit jedem Ein­at­men atmest du Ent­span­nung ein, mit jedem Aus­at­men lässt du etwas mehr los. Gedan­ken kom­men und gehen, sie sind jetzt ohne Bedeu­tung. Du bist voll­kom­men ruhig. Wir unter­neh­men nun gemein­sam eine Rei­se. Stell dir zunächst vor, dass an der Wand gegen­über eine Tür erscheint. Erst ist nur ein blas­ser, recht­ecki­ger Umriss zu erken­nen, aber je län­ger du hin­siehst, des­to deut­li­cher kannst du den Tür­knauf und die Mase­rung des Hol­zes aus­ma­chen. Lass dir Zeit und stel­le es dir solan­ge vor, bis du es klar vor dei­nem inne­ren Auge sehen kannst. Male dir anschlie­ßend aus, wie du auf­stehst, auf die Tür zugehst, den Knauf umfasst und dar­an ziehst. Ganz ohne Wider­stand lässt sich die Tür öff­nen. Du schrei­test hin­durch und stellst fest, dass du dich nun in einem herr­li­chen Herbst­wald befin­dest. Du lässt dei­nen Blick in die Höhe schwei­fen: Ein blau­er Him­mel schaut freund­lich auf dich her­ab. Weni­ge, wei­che Wol­ken zie­hen lang­sam und fried­lich dar­über, sie sehen rein und strah­lend aus. Mit geschlos­se­nen Augen genießt du die Son­nen­strah­len auf dei­nem Gesicht und dei­nen Armen, sie füh­len sich ange­nehm warm an. Nach einer Wei­le bekommst du Lust, spa­zie­ren zu gehen. Du folgst einem Wald­weg und betrach­test dabei die bun­ten Blät­ter an den Bäu­men, die in rot, gelb, grün und oran­ge leuch­ten. Auch der Wald­bo­den ist von Blät­tern bedeckt. Sie rascheln unter dei­nen Schrit­ten, hörst du es? Genuss­voll atmest du beim Gehen die Gerü­che des Wal­des ein. Es riecht wür­zig, nach Laub und feuch­ter Erde. Der Duft des Wal­des umgibt dich ganz. Sei­ne Luft tut dir gut, sie ist frisch und klar. Ein leich­ter Wind kommt auf, und du spürst, wie er sanft dein Gesicht strei­chelt und dei­ne Haa­re wehen lässt. Er löst ein paar Blät­ter, die lang­sam zu Boden tru­deln. Lass auch du dich jetzt auf den Wald­bo­den ins Moos sin­ken, das sich weich anfühlt und nach feuch­tem Gras duf­tet. Hin­ter dir steht eine gro­ße, alte Kas­ta­nie. Du lehnst dich an ihren Stamm. Die Bor­ke ist fest und bestän­dig, sie gibt dir ein Gefühl von Gebor­gen­heit.  Bleib eine Wei­le so sit­zen. Genie­ße die Geräu­sche des Wal­des, das Kna­cken der Zwei­ge und das Rau­schen der Blät­ter im Wind. Betrach­te ihr Far­ben­spiel über dir. Du fühlst dich wohl und sicher. Neben dir lie­gen run­de, dicke Kas­ta­ni­en. Du hebst eine von ihnen auf und nimmst sie zwi­schen die Hän­de. Spürst du, wie sie ganz glatt und warm gegen dei­ne Hand­flä­chen drückt? Nach einer Wei­le stehst du wie­der auf und folgst einem Pfad, der dich tie­fer in den Wald hin­ein­führt. Wäh­rend du gehst, spürst du, wie die Wär­me auf dei­nen Armen nach­lässt. Du hebst den Blick und siehst, dass Wol­ken vor die Son­ne gezo­gen sind. Der Wind streicht ange­nehm leicht und kühl über dei­ne Wan­gen. Der Weg, dem du folgst, wird nun abschüs­sig. Lang­sam tas­test du dich über den stei­ni­gen Unter­grund und setzt dei­ne Schrit­te ganz bewusst. Du lässt dir Zeit und genießt das Gefühl, ohne Anstren­gung berg­ab zu gehen. Hal­te jetzt einen Moment inne und sieh dich im Wald um: Du stehst zwi­schen tief­grü­nen Tan­nen, auf denen Eich­hörn­chen umher­sprin­gen. Eines von ihnen sitzt auf dem Baum direkt neben dir, und du erfreust dich an sei­ner Kraft und Wen­dig­keit, als es den Stamm hin­ab­klet­tert und neu­gie­rig auf dich zukommt. Du gehst in die Knie, streckst vor­sich­tig dei­ne Hand aus und strei­chelst es. Es fühlt sich warm und weich an. Das zutrau­li­che Tier klet­tert auf dei­ne Schul­ter und schmiegt sich an dei­ne Wan­ge. Du genießt die Berüh­rung und bist glück­lich, dass du in die­sem schö­nen Wald spa­zie­ren gehst.  Als das Eich­hörn­chen dich nach einer Wei­le ver­lässt, stehst du auf und setzt dei­ne Wan­de­rung fort. Über dir schließt sich das grü­ne Nadel­dach der Bäu­me. Du spürst wie­der den Wind, der durch das Tal fährt, auf dei­ner Haut und merkst, dass es käl­ter gewor­den ist. Nach­dem du ein Stück gegan­gen bist, spannt sich ein gro­ßes Spin­nen­netz mit­ten über dei­nen Weg. Kurz zögerst du, aber dann siehst du, dass das Netz ver­las­sen ist. Du gehst hin­durch und merkst, wie sich die Fäden auf dei­ne geschlos­se­nen Augen und dei­ne Wan­gen legen.  Dann fühlst du, wie dün­ne Bei­ne über dein Haar huschen, und ver­stehst, dass das Netz noch bewohnt war. Du hebst die Hand und willst die Spin­ne abstrei­fen, aber sie ist schon in dei­nen Nacken gesprun­gen und hin­ten in dei­nem T‑Shirt gelan­det. Du schlägst mit der fla­chen Hand auf dei­nen Rücken, bis die Spin­ne tot hin­aus­fällt, ein schwar­zes Knäu­el aus Bei­nen und Sekret. Du schüt­telst dich vor Ekel und spürst, wie die Gän­se­haut von dei­nen Schul­tern die Arme hin­ab­wan­dert. Du kommst an einer Grup­pe von gro­ßen Fel­sen vor­bei, die sich wie ein Tor über den Weg wöl­ben. Die Stei­ne ragen bedroh­lich vor dir auf, du lässt dei­nen Blick dar­über strei­fen und siehst Moo­se und Flech­ten leuch­ten, in blass­grün, grau und weiß. Du berührst den Fels, er fühlt sich rau an. Als du dei­ne Hand wie­der zurück­ziehst, schnei­dest du dich an sei­nen schar­fen Kan­ten. Du merkst, wie ein klei­ner Trop­fen Blut an dei­nem Dau­men her­ab­rinnt, und spürst ein gleich­mä­ßi­ges Pochen. Dann schrei­test du durch das Fel­sen­tor. Hier ist es dunk­ler, die Bäu­me sind nur noch schwar­ze Sche­men am Weges­rand. Du gehst wei­ter. Der Geruch von Moder steigt in dei­ne Nase, du atmest ihn tief ein. Vor dir auf dem Weg siehst du einen läng­li­chen Gegen­stand. Du näherst dich ihm und stellst fest, dass es eine ver­we­sen­de Lei­che ist. Du trittst näher her­an und betas­test ihre Fin­ger, die sich wie Gum­mi anfüh­len, und spürst, wie dir übel wird. Dein Blick folgt der Linie der selt­sam ver­renk­ten Glied­ma­ßen, wan­dert über offe­ne Stel­len, von fet­ten Maden durch­setzt, die Rän­der aus­ge­franst, hin­auf zu dem ent­stell­ten Gesicht. Du erkennst, dass dort dein ehe­ma­li­ger Turn­leh­rer liegt. Sei­ne lee­ren Augen ver­fol­gen dich, als du stol­pernd und schrei­end das Wei­te suchst. Nach einer Wei­le beru­higst du dich wie­der und siehst dich um. Bäu­me gibt es hier kei­ne mehr, schrof­fer Fels umgibt dich. Du stehst in einer Schlucht. Du setzt dich auf den Boden und spürst sei­ne unan­ge­neh­me Feuch­tig­keit, bald fühlt sich dei­ne Klei­dung klamm und kalt an. Der Wind pfeift laut in dei­nen Ohren. Am ande­ren Ende der Schlucht taucht ein schwar­zer Schat­ten auf. Du erstarrst, wäh­rend sich die Bes­tie  dir nähert. Sie hat Zäh­ne und Klau­en, sie stinkt aus dem gei­fern­den Maul. Aber ihr Blick ist nicht auf dich gerich­tet, son­dern auf etwas, das sich hin­ter dir befin­det. Du drehst dich um und siehst am ande­ren Ende der Schlucht ein Reh ste­hen. Der Schat­ten beach­tet dich nicht wei­ter, son­dern bewegt sich auf das Tier zu, das gelähmt ist vor Angst. Du lehnst dei­nen Rücken an den Fels und ver­schränkst die Arme hin­ter dem Kopf. Die Bes­tie macht einen Satz und ver­senkt ihre Zäh­ne in der Flan­ke des Rehs. Du hörst sei­ne kläg­li­chen Schreie und kannst dir sei­nen Schmerz vor­stel­len, als das Unge­heu­er ihm die Hälf­te des Beins abreißt. Das Reh ver­sucht sich fort­zu­schlep­pen, aber das Unge­tüm ihm springt auf den Rücken und ver­beißt sich in sei­nem Genick. Was es danach noch mit dem zar­ten Tier anstellt, willst du nicht mehr sehen, und du rennst los, wäh­rend das rhyth­mi­sche Grun­zen der Bes­tie hin­ter dir lei­ser wird. Du ver­lässt die schlucht und gehst wei­ter. Dir wird bewusst, dass du den weg zurück längst nicht mehr fin­den könn­test. Du irrst durch den wald, wäh­rend es nacht wird und wie­der tag, und wie­der nacht, und wie­der tag. Irgend­wann wirfst du dich auf den boden und beschließt, dort lie­gen zu blei­ben. Du spürst, wie das laub unter dir fault, lässt dich von regen begie­ßen und von der son­ne beschei­nen. Irgend­wann fällt der ers­te schnee, aber du liegst und liegst, mal wei­nend, mal stumm. Und eines mor­gens weißt du, dass es genug ist. Du stützt dich auf die abge­ma­ger­ten unter­ar­me, sie schmer­zen auf dem eisi­gen grund. Du schüt­telst den schnee ab und bewegst dich vor­sich­tig, wäh­rend das blut krib­belnd zurück­strömt. Und brichst zum letz­ten teil der rei­se auf. der schnee knirscht bei jedem schritt. eisi­ger nacht­wind flüs­tert in den tan­nen am weges­rand. klar und kalt die ver­schnei­te welt. du wan­derst ein­sam. der weg ist steil, der gip­fel fern. wei­ße wol­ken ent­ste­hen und ver­ge­hen. in der fer­ne die lich­ter eines dor­fes. rauch wabert über den schorn­stei­nen, der wind trägt ihn fort. die häu­ser schmie­gen sich zum schutz vor der käl­te eng anein­an­der. uner­reich­bar. die ande­re rich­tung. der weg ist steil, der gip­fel fern. das gepäck auf den schul­tern, woher kommt es? es beschwert die schrit­te und macht den rücken krumm. undeut­li­che for­men säu­men den weg. es sind die ande­ren, die­je­ni­gen, die geschei­tert sind. ihre blei­chen erstarr­ten gesich­ter erzäh­len von sehn­sucht und hoff­nung. die eis­zap­fen an ihrer klei­dung berich­ten von leid. im dun­kel zwi­schen den tan­nen lie­gen abgrün­de. wer sich hier oben ver­irrt, fin­det nicht mehr zurück. der weg ist steil, der gip­fel fern. wie weit es noch ist nebel­schwa­den ein fuß vor den ande­ren vom weiß ver­schluckt  eis­brü­cken schwin­gen sich in schwin­deln­der höhe über boden­lo­se schlün­de  duns­ti­ge nebel­fet­zen zie­hen über die eisi­gen schluch­ten es fällt ihnen leicht sie sind nicht so men­schen­schwer zu bei­den sei­ten die fel­sen schwarz und dro­hend der weg ist steil der gip­fel fern das eis greift tief die hauch­dün­ne luft der mut ist längst dahin zu vie­le andenken zu viel sehn­sucht  taub­heit brei­tet sich aus die fel­sen sind ver­schwun­den unend­li­che wäl­der zie­hen vor­über ver­mi­schen sich mit dem him­mel den gebir­gen dem all eis­kris­tal­le das fer­ne ende der nahe anfang das nächt­li­che weiß zer­fa­sert dreht sich im stru­del der schwär­ze der nacht der ewig­keit der sehn­sucht der schnee­be­deck­te gip­fel ragen hoch in die kla­re nacht  unter dir zie­hen die wei­ßen wol­ken  der gesang der schwe­re­lo­sig­keit klingt in dei­nen ohren  die men­schen sind unend­lich fern  die ster­ne zum grei­fen nah  die ruhe ist voll­kom­men voll­kom­men voll­kom­men nur schwei­gen schwei­gen schwei­gen schwei­gen schwei­gen schwei­gen schwei­gen schwei­gen schwei­gen schwei­gen schwei­gen schwei­gen schwei­gen schwei­gen schweigen 

Flo­ri­an Kurz, gebo­ren 1992, begann zunächst ein Stu­di­um der Psy­cho­lo­gie und Asi­en­wis­sen­schaf­ten. Obwohl auch hier gute Geschich­ten zu fin­den waren, wech­sel­te er recht bald zur Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, um sich inten­si­ver der Arbeit am Text zu wid­men. Er nähert sich der Spra­che aber nicht nur wis­sen­schaft­lich, son­dern auch ger­ne jour­na­lis­tisch und krea­tiv — seit der Teil­nah­me an der Baye­ri­schen Aka­de­mie des Schrei­bens 2017/2018 mit neu­en Impul­sen und noch grö­ße­rer Motivation.