Die Verwandlung

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von Johannes Pittroff 

Als Max Mey­er­ling eines Mor­gens aus einem traum­lo­sen Schlaf erwach­te, war er tot. Er lag eine Wei­le gedan­ken- und regungs­los da, nur gestört vom Klang der Autos, die vor sei­nem Fens­ter vor­bei­rausch­ten wie die Wel­len eines klei­nen Mee­res. Tages­licht schien durch den Vor­hang und erstick­te im dunk­len Schlei­er der wei­ßen Wän­de. Max Mey­er­ling tas­te­te vor­sich­tig sei­nen Kör­per ab, um zu erspü­ren, wie er sich fühl­te – kein Zwei­fel: Er war in der Nacht ver­stor­ben. Er sah sich in dem Raum um, in dem er noch am Vor­abend gelebt hat­te: Die Socken von ges­tern lagen vor dem Bett, neben dem Tisch zwei lee­re Piz­za­schach­teln, hier und da wohl etwas Staub; ansons­ten hat­te er das Zim­mer in einem akzep­ta­blen Zustand zurück­ge­las­sen. Er stand auf, zog Klei­dung an, mach­te sich eine Tas­se Kaf­fee und ging, die Tas­se in der Hand, in der selt­sam leer wir­ken­den Woh­nung auf und ab. Sei­ne Augen blie­ben an dem Foto von Fran­ka Fal­sen­fel­ser hän­gen, das über dem Schreib­tisch mit einem Strei­fen Tesa­film befes­tigt war; sie hat­te sich für heu­te Nach­mit­tag ange­kün­digt, er hat­te sich vor­ge­nom­men, Kuchen zu besor­gen, viel­leicht auch die lee­ren Piz­za­schach­teln weg­zu­räu­men, die noch von ihrem letz­ten Besuch dala­gen. In jäher Ent­schlos­sen­heit trank er lang­sam den Kaf­fee aus, zog sich eine Jacke über und mach­te sich auf den Weg in Rich­tung des Ede­ka-Mark­tes, in dem sich die nächst­ge­le­ge­ne Bäcke­rei befand. Ihm fiel ein, dass er bei der Gele­gen­heit noch Obst und Mar­ga­ri­ne kau­fen könn­te, da bei­des im Begriff war, aus­zu­ge­hen. Unter­wegs warf er immer wie­der heim­li­che Bli­cke auf die Gesich­ter vor­bei­glei­ten­der Pas­san­ten; er woll­te her­aus­fin­den, ob sie sei­ne Ver­än­de­rung bemerk­ten, doch nie­mand beach­te­te ihn. In die­ser Hin­sicht war also alles in Ordnung.

Der wei­te, hohe Raum des Super­markts emp­fing ihn gleich­gül­tig und freund­lich. Die Pro­duk­te erstrahl­ten in gelb-grün­li­chem Licht, wie aus einer inne­ren Kraft her­aus. Der Anblick ihrer Viel­falt sicker­te in sei­nen Magen hin­ab und gerann zu einem Klum­pen aus Melan­cho­lie. Er wür­de es ver­mis­sen, vor lücken­los gefüll­ten Rega­len die Frei­heit der Wahl in sich zu spü­ren. Wäh­rend er an der Kas­se stand und den jun­gen Kas­sie­rer betrach­te­te, der in behän­der Anmut das Gewähl­te scann­te und abrech­ne­te, wur­de Max Mey­er­ling sich schlag­ar­tig bewusst, dass die­ses Wochen­en­de für ihn ewig dau­ern wür­de; nie mehr früh auf­ste­hen, müde sein und funk­tio­nie­ren. Die Melan­cho­lie in sei­nem Magen lös­te sich, stieg durch Brust und Hals empor und ent­wich durch die Ohren. Beim Bäcker hat­te er eigent­lich zwei Stück Mar­mor­ku­chen kau­fen wol­len, ent­schied sich aber spon­tan für eine Scho­ko-Kirsch-Tor­te, die er sich zur Hälf­te ein­pa­cken ließ; Kalo­rien- und Cho­le­ste­rin­fra­gen konn­ten ihm jetzt auch egal sein. Die Tüte Äpfel, aus Gewohn­heit mit­ge­nom­men, warf er beim Hin­aus­ge­hen in den Müll­ei­mer. Ein Pro­dukt, das er sicher­lich nicht ver­mis­sen würde.

Als Fran­ka Fal­sen­fel­ser ihn am Nach­mit­tag besuch­te, schien auch sie zunächst kei­ne Ver­än­de­rung zu bemer­ken.
»Na, wie geht’s?«
»Es ist vor­bei mit mir.«
»Ja, so siehst du aus.«
Ein Kuss und ein Lächeln, dann Kaf­fee und jeder ein Stück Tor­te, er sogar noch ein zwei­tes hin­ter­her. Fran­ka Fal­sen­fel­ser schien unter­des­sen das gan­ze Aus­maß der Situa­ti­on zu begrei­fen und begann zu wei­nen. Max Mey­er­ling leg­te sei­ne Hand auf ihre und strei­chel­te sie leicht. Er ver­si­cher­te ihr, dass es kei­nen Grund zur Trau­er gebe; es gehe ihm viel bes­ser dort, wo er jetzt sei. Er war­te­te, bis sie ihren Kaf­fee aus­ge­trun­ken hat­te, um ihr behut­sam zu ver­mit­teln, dass man ihn nun in Frie­den ruhen las­sen möge. Zum Abschied stan­den sie sich noch ein­mal gegen­über, sie bereits auf dem Flur, er an den Tür­rah­men gelehnt. Ihre Augen blick­ten ihn glän­zend an, in Erwar­tung von irgend­et­was. Er ant­wor­te­te mit einem mil­den, ent­rück­ten Lächeln.

Max Mey­er­ling setz­te sich für eine Zeit, die für ihn bedeu­tungs­los war, ans Fens­ter und sah hin­aus auf die Stra­ße, wel­che die Men­schen wie jeden Tag nutz­ten, um ihrem Leben nach­zu­ge­hen. Er hat­te nie das Gefühl gehabt, es zu ver­ste­hen, das Leben, doch gab es dazu jetzt kei­ne Not­wen­dig­keit mehr. Er betrach­te­te den Raum, der um ihn lag, und erwog Mög­lich­kei­ten, sich die Zeit im Jen­seits ein wenig zu ver­trei­ben. Schließ­lich durch­stö­ber­te er sei­ne alte CD-Samm­lung, wähl­te ein Best-of von Janis Jop­lin und ließ ihre Auf­nah­me von Sum­mer­ti­me den Raum erfül­len. Er hol­te die übri­ge Tor­te aus der Küche und begann, den Rest mit den blo­ßen Fin­gern zu essen. Die Welt war Tor­te und Musik. Er war bereit für alles, was kom­men mochte.

Johan­nes Pit­troff, 1989 gebo­ren, stu­diert zur­zeit im Mas­ter Lite­ra­tur und Medi­en an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth. Sei­ne Tex­te sind meist von einem minia­tu­ris­ti­schen For­mat und einem Hang zum absur­den Rea­lis­mus geprägt. Neben dem Schrei­ben arbei­tet er gele­gent­lich an Fil­men und Videoinstallationen.