Intendenzen — Überlegungen

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Ron Winkler und Christian Schlosser im Gespräch über poetologische Positionen in der Lyrik


Ron Wink­ler: Du hast mir ein­mal geschrie­ben, dass sich Dei­ne Gedich­te per­ma­nent den eige­nen poe­to­lo­gi­schen Über­le­gun­gen wider­set­zen. Könn­test du das etwas näher erläu­tern, wie sich das Poe­ti­sche den Inten­tio­nen des Autors fremd macht? Die­sen Pro­zess der Verselbständigung …

Chris­ti­an Schloy­er: Dazu müss­te ich ein Stück weit aus­ho­len, um mei­ne Inten­tio­nen etwas ein­zu­krei­sen. Lars-Arvid Brisch­ke hat neu­lich Gedich­te mit den Appa­ra­tu­ren des Schwei­zer Künst­lers Jean Tin­gue­ly ver­gli­chen. Das gefällt mir gut. Für Gedich­te — so wie sie mir vor­schwe­ben — bedeu­tet das, dass sie sich der miss­han­del­ten Spra­che anneh­men. Sie bre­chen mit der wer­be­geleck­ten Sprach­ober­flä­che, mit dem Glat­ten, Zugäng­li­chen, Zudring­li­chen, Kit­schi­gen und Auf­dring­li­chen — und bau­en aus dem Schrott etwas, was nicht mehr
unheim­lich ist. Die­ses Neue darf nur eines nicht sein: sinn­voll — im Sin­ne von »ver­wert­bar«. Wenn es einen Sinn erge­ben soll, dann ganz für sich selbst, einen blo­ßen
Eigensinn. Was sich aber nicht erge­ben darf, ist eine Bedeu­tung: es gibt nichts, was
anstel­le eines Gedich­tes ste­hen könn­te, nichts, was durch ein Gedicht ledig­lich bezeich­net, benannt, gesagt oder dar­ge­stellt wäre. Das Bezeich­nen, Benen­nen bzw. Dar­stel­len ist ein an sich para­do­xer Vor­gang: wie will man
etwas bezeich­nen (benen­nen, dar­stel­len), wenn jedes
denk­ba­re Etwas erst durch das Bezeich­nen selbst exis­tent wird? Bezeich­nen ist ein schöp­fe­ri­scher Gewalt­akt, der Rea­li­tät gene­riert. Die­se Rea­li­tät wird zu etwas Unum­stöß­li­chem, zu einem tyran­ni­schen Dog­ma, sobald man ver­gisst, dass sie sprach­li­ches Gebil­de ist, d.h. dass sie ledig­lich der Spon­ta­nei­tät sprach­lich ver­fass­ter Wahr­neh­mung ent­springt. Dann näm­lich neh­men wir nur noch auf Basis vor­se­lek­tier­ter, ein­ge­schränk­ter bis grob ver­hunz­ter Sprach­lich­keit wahr und ver­lie­ren die Fähig­keit, ver­ant­wort­lich (d.h. gestal­te­risch!) mit Rea­li­tät umzu­ge­hen. Gro­ße Bei­spie­le für fest­ge­fah­re­ne und daher miss­ge­stal­te­te Rea­li­tä­ten sind »Got­tes­gna­den­tum« oder »freie Markt­wirt­schaft« oder »Glo­ba­li­sie­rung«. Das Gedicht ist ein Spre­chen im Sin­ne eines befrei­en­den Erin­ne­rungs­vor­gangs: es stellt, sofern es Poe­sie ist, die Mons­ter­ap­pa­ra­tur des öko­no­mi­sier­ten All­tags­sprechs kraft sei­ner Exis­tenz in Fra­ge. Zumin­dest ein ganz klei­nes Biss­chen. Das tut es, indem es osten­ta­tiv etwas durch Spra­che erschafft — und so demons­triert, dass Spra­che schöp­fe­risch ist. Die All­tags­spra­che ver­fährt genau umge­kehrt: dadurch, dass in ihr der schöp­fe­ri­sche Akt ver­bor­gen bleibt, täuscht sie erfolg­reich vor, dass sie nichts erschaf­fe — was uns den­ken las­sen soll, alles wäre schon (unver­än­der­bar) so da, wie es die Spra­che angeb­lich vor­fin­det. Nun haben die­se Gedan­ken jedoch einen Haken, und die­ser Haken ist die Ant­wort auf die Fra­ge, inwie­fern sich mei­ne Gedich­te den eige­nen poe­to­lo­gi­schen Über­le­gun­gen wider­set­zen. Wenn Gedich­te etwas Neu­es aus dem vor­ge­fun­de­nen Mate­ri­al der All­tags­spra­che gene­rie­ren, dann kön­nen sie Spra­che zer­stü­ckeln, ver­dre­hen, neu zusam­men­set­zen und inso­fern schöp­fe­risch rege­ne­rie­ren. Sie grei­fen damit aber immer auf etwas Vor­han­de­nes zurück: auf die All­tags­spra­che selbst. Jede Arbeit an der Spra­che ist indi­rekt auch Bestä­ti­gung des vor­herr­schen­den Sprach­ma­te­ri­als — es wird ledig­lich in Fra­ge gestellt, dass die­ses Mate­ri­al in einer (durch eine »unver­än­der­li­che Rea­li­tät«) vor­her­be­stimm­ten Wei­se zusam­men­ge­fügt wer­den muss. Die Bruch­stel­len die­ser Ver­satz­stü­cke jedoch wider­spre­chen letzt­lich auch die­sem In-Fra­ge-Stel­len, sie rau­nen hart­nä­ckig: ich gehö­re nicht hier­her, denn ich
bezeich­ne eigent­lich etwas. So ent­steht um das Gedicht her­um ein wei­tes Asso­zia­ti­ons­feld, wie Licht, das auf die Glas­bruch­stü­cke einer Dis­co­ku­gel trifft und einen gan­zen Raum aus­malt. Die­sem Rau­nen und Reflek­tie­ren nach­zu­ge­hen scheint die Auf­ga­be der Gedicht­in­ter­pre­ta­ti­on zu sein. Ich bin mir nicht sicher, ob Dich­ten nicht viel­leicht sogar der Ver­such sein soll, die­se Bruch­stü­cke deut­lich zu Tage tre­ten zu las­sen. Ihnen das Rau­nen also zu erlau­ben — und mit ihrer Hil­fe eine »eigent­li­che, hin­ter der Spra­che befind­li­che Welt« zu simu­lie­ren — die frei­lich eine ande­re sein soll, als die in der All­tags­spra­che vor­ge­fun­de­ne öko­no­mi­sier­te Welt. Nicht ganz neu, ein ähn­li­ches Pro­gramm hat­te bereits die Roman­tik — und es war damals schon ein groß­ar­tig ver­geb­li­ches Bemü­hen. Ver­geb­lich aber eben nicht des­halb, weil nur die vor­ge­fun­de­ne All­tags­sprach­rea­li­tät die ein­zig mög­li­che wäre, son­dern ver­geb­lich in dem viel grund­sätz­li­che­ren Bemü­hen, auf der Suche nach einer Welt hin­ter der All­tags­welt sogleich hin­ter die Spra­che selbst zu gehen, ins Magi­sche. Poe­tisch ist ein sol­ches Tun inso­fern, dass es inner­halb der Koor­di­na­ten eines öko­no­mi­sier­ten All­tags­spre­chens offen­kun­dig kei­nen Sinn ergibt. Trotz­dem stel­len sich mir Fra­gen: Ist unser Sprach­schrott­ma­te­ri­al für ein sol­ches Unter­fan­gen geeig­net? Und kri­ti­scher: Funk­tio­niert ein der­art »roman­ti­sches« Pro­gramm als Simu­la­ti­on, als osten­ta­tiv luzi­de Ver­geb­lich­keit? Oder soll es eher dar­um gehen, die­se Brü­che so inein­an­der zu fügen, dass man sie nicht mehr als sol­che wahr­nimmt? Also ein (von hier aus gese­hen) unsin­ni­ges Par­al­lel­uni­ver­sum zu erschaf­fen, eine Umschrift der Welt? Das wäre das (eben­falls nicht neue) Pro­gramm einer auto­no­men Gegen­welt der Kunst — l’art pour l’art. Doch ohne Bruch (oder: Soll­bruch­stel­le) begibt sich das genau­so in Gefahr, dog­ma­tisch zu wer­den. Das hie­ße, das eine Abso­lu­tum durch ein ande­res zu erset­zen. Aber viel­leicht ist das eine Luxus­sor­ge, die man getrost hint­an­stel­len kann. Alles, was den sprach­li­chen Sta­tus quo hin­ter­fragt, scheint mir zunächst ein­mal gut zu sein. Und weil unse­re Gefan­gen­schaft in der fal­schen, weil öko­no­mi­schen Spra­che ein bri­san­tes Poli­ti­kum ist, ist jedes Gedicht, das sich an Spra­che abar­bei­tet, poten­ti­ell poli­tisch — wäh­rend Gedich­te, die dem modi­schen Social-Beat ver­fal­len, ein Aus­ver­kauf des Poli­ti­schen sind: die für sich in Anspruch genom­me­ne lebens­welt­li­che Not­wen­dig­keit neh­me ich den Tex­ten und ihren Autoren in den sel­tens­ten Fäl­len ab. Gesell­schafts­kri­tik ohne Sprach­kri­tik ist Authen­ti­zi­täts-Schmuck­werk für Lyrik, die am ver­meint­li­chen Puls der Zeit sein will. Denn ein von öko­no­mi­schen Zwän­gen bestimm­ter Sprach­ge­brauch ist nicht
Ver­mitt­ler einer unge­rech­ten sozia­len Wirk­lich­keit, son­dern ihre Ursa­che. Poli­ti­sche
Bezü­ge kann und soll Lyrik ger­ne haben, eine poli­ti­sche
Mes­sa­ge aber bit­te nicht, vor allem nicht zu Unter­hal­tungs­zwe­cken. Abschlie­ßend sei bemerkt, dass ich mein Schei­tern ein­ge­ste­hen müss­te, wenn mei­ne Gedich­te ledig­lich »Umset­zung« poe­to­lo­gi­scher Refle­xio­nen wären. Es ist eher umge­kehrt: Gedich­te sind Impuls­ge­ber zum Über-sie-Reflek­tie­ren. Sobald ich an und mit Gedich­ten nur etwas demons­trie­ren (sagen) woll­te, wür­de im Erfolgs­fall das zu Demons­trie­ren­de (das Gesag­te) an die Stel­le des Gedich­tes tre­ten — mei­ne Gedich­te wären dann blo­ßer Ver­weis auf eine (in mei­nem Fall erkennt­nis­theo­re­tisch ein­ge­färb­te) Fra­ge­stel­lung. Der Zwei­fel am eige­nen Tun muss im Übri­gen zum künst­le­ri­schen Han­deln dazu gehö­ren. So könn­te man auch bei den Tin­gue­ly-Appa­ra­tu­ren fra­gen: Ste­hen sie wirk­lich für sich oder demons­trie­ren sie ledig­lich etwas (z.B. die Unmög­lich­keit des Für-sich-Ste­hens)?

Ron Wink­ler: 
Und dem­zu­fol­ge begeis­tern dich wel­che poe­ti­schen Ent­wür­fe? Namen, Kosmen.

Chris­ti­an Schloy­er: Kos­men: Natür­lich Celan. Der frü­he Celan bis­her mehr als der spä­te­re. Ein Gedicht wie die »Todes­fu­ge« durch­kreuzt die Null­punkt-Nai­vi­tät der Kriegs­heim­keh­rer, nach 1945 plötz­lich in einer neu­en, ein­fa­chen und von jeder Schuld befrei­ten Spra­che dich­ten zu wol­len, mit bril­lant schau­der­haf­ter Sprach­schön­heit. Ich ken­ne bis heu­te kei­ne Dich­tung, die sprach­mäch­ti­ger, unver­söhn­li­cher und ambi­tio­nier­ter wäre als sei­ne. Der Schmerz dar­über, ein der­ar­ti­ges Niveau nie­mals errei­chen zu kön­nen, war für mich bei­na­he stark genug, authen­ti­sche Gedich­te her­vor­zu­brin­gen. Wirk­lich frucht­bar war für mich aller­dings die müh­sam erschrie­be­ne Erkennt­nis, dass eine Cel­an­sche Schwe­re Gift für mei­ne Gedich­te ist. Ich weiß, dass ich hier bes­ten­falls mit einer homöo­pa­thi­schen Dosis arbei­ten darf. Immer beein­druckt hat mich auch die intel­lek­tu­el­le Kon­stel­la­ti­on der Früh­ro­man­tik. Die Ver­schwis­te­rung mit der Phi­lo­so­phie. Kant. Fich­te. Die (im Gegen­satz zur katho­li­zis­ti­schen Hoch- und Spät­ro­man­tik) unglaub­li­che Beweg­lich­keit und Offen­heit der Poe­to­lo­gien. Eine wirk­li­che Not­wen­dig­keit zur Lyrik ent­steht für mich nicht zuletzt da, wo man sich emo­tio­nal an phi­lo­so­phi­schen (ins­be­son­de­re erkennt­nis­kri­ti­schen) Fra­ge­stel­lun­gen abar­bei­tet. Dann ist das plötz­lich kei­ne sport­li­che Intel­lekt-Jon­glier­übung mehr, son­dern kommt mit der eige­nen Lebens­wirk­lich­keit in Berüh­rung — das ist exis­ten­ti­ell, poten­ti­el­ler Wahn­sinn. Wer damals Kant wirk­lich begrif­fen hat­te, war natür­lich reif für die Irren­an­stalt. Wäh­rend ein Phi­lo­soph mit man­geln­dem Sprach­ver­trau­en sich sei­ne Grund­la­ge ent­zieht, blüht da ein Lyri­ker erst rich­tig auf (wenn auch nicht immer in einem gesun­den Sin­ne). Ich fin­de ambi­tio­nier­te Poe­to­lo­gien span­nend — auch dann, wenn die dazu­ge­hö­ri­ge Lyrik, wie z.B. bei Tho­mas Kling, für mei­nen Ein­druck hin­ter ihrem poe­to­lo­gi­schen Anspruch zurück bleibt. Bewegt haben mich auch Die­ter Schle­saks »Frag­men­te zu einer post­hu­men Poe­tik« (gefun­den im Band »Tun­nel­ef­fekt«). Höchst inter­es­sant der Streif­zug durch Jen­ni­fer Poeh­lers Gedicht­band »Tür­ki­ses Alpha­bet«. Eine Ent­de­ckung, die für mein eige­nes Schrei­ben prä­gend war, sind Gedich­te der Ber­li­ner Lyri­ke­rin Cor­ne­lia Schmer­le. Ins­ge­samt fin­de ich die Tex­te von Lyri­ke­rin­nen gegen­wär­tig span­nen­der als die Tex­te von Lyrikern.

Die­ser Bei­trag erschien erst­mals in “Her­me­tisch offen” in der Rei­he “inten­den­zen. Zeit­schrift für Lite­ra­tur” als Heft Nr. 11, her­aus­ge­ge­ben von Ron Wink­ler (Ber­lin, 2008). In “Her­me­tisch offen” geben 22 jun­ge Gegen­warts­ly­ri­ke­rin­nen und ‑lyri­ker Aus­kunft über ihre poe­to­lo­gi­schen Positionen.