Augsburg — Venedig — Washington

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© Hen­schel Schauspiel

von Paula Fünfeck

Wenn Du wis­sen willst, mit wem du es zu tun hast, schau dir die Ver­wand­ten an… Schau’n wir also mal.
Das Ritu­al, unse­re Haupt­fi­gur, hat eine klei­ne Schwes­ter, die mich inter­es­siert: Das Fräulein Routine.

Die bei­den wer­den manch­mal ver­wech­selt.
Dabei haben sie nichts Wesent­li­ches gemein­sam. Im Gegen­teil.
Sie könnten gegensätzlicher nicht sein.

Fräulein Rou­ti­ne ist ein Stra­ßen­kind mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund — nicht, weil sie sich in den Stra­ßen her­um­treibt.
Son­dern, weil sie so heißt: ’Rou­te’ — französisch für: Weg oder Stra­ße, und das in der Verniedlichungsform.

Hier ist also ein Weg vor­ge­ge­ben. Aber offen­bar kein gro­ßer, kein bedeut­sa­mer Weg zu einem erho­be­nen Ziel. Son­dern ein Weg­lein, ein Alltags-Tröttchen mit all­zu bekann­tem Ausgang.

Fräulein Rou­ti­ne geht immer den­sel­ben Weg.
Sie verlässt das Haus, schaut in den Him­mel, ob sie den Kra­gen hoch­schla­gen soll und dann stapft sie die Stra­ße ent­lang bis zur nächsten Ecke.
Dort wech­selt sie die Sei­te, weil sie von dort siche­rer über die Stra­ße kommt.
Sie taucht ein in das Dun­kel der U‑Bahnstation. Beharr­lich nimmt sie die Roll­trep­pe und pos­tiert sich dann am Gleis so, dass sie den aller­hin­ters­ten Wagen erwischt — so kommt sie am Ziel­bahn­hof am schnells­ten raus.

Da Fräulein Rou­ti­ne wie auto­ma­tisch immer den­sel­ben Weg geht, ohne groß nach­zu­den­ken, kann sie sich auf wesent­li­che­re Din­ge kon­zen­trie­ren, ohne sich gleich zu ver­ir­ren.
Geh nicht vom Wege ab… pflücke kei­ne Blu­men im Wald, so echot es in mei­ner Assoziationskammer.

Moment — Wesent­li­che­re Din­ge? Also, wel­che Wege ich gehe, ist dem­nach nicht wesent­lich? Hm.
Immer­hin: Die Gewiss­heit anzu­kom­men macht den All­tag hand­hab­bar. Das Fräulein Rou­ti­ne ist noch nie dem bösen Wolf begegnet.

Zwi­schen­an­mer­kung:

Kurz nach der Geburt eines Kin­des sprie­ßen in sei­nem Gehirn Zel­len wie Blütenknospen. Mil­li­ar­den Zel­len ent­ste­hen — so vie­le, dass sie nicht alle ver­wal­tet wer­den können.
Sie würden unend­li­che Kalo­rien­men­gen ver­brau­chen — mir würde so ein Mega­ver­brauch ganz gut in den Kram pas­sen nur, bei Neu­ge­bo­re­nen geht das gar nicht.
Nähre nicht mehr Geist, als der Körper ertra­gen kann!
Da muss selek­tiert wer­den.
Es bil­den sich Bah­nen im Gehirn, gang­ba­re Wege: Das Bean­spruch­te eta­bliert sich, unan­ge­spro­che­nes Poten­ti­al zerfällt so schnell, wie es ent­stan­den ist.
Es auto­ma­ti­sie­ren sich Pro­zes­se, damit sie beherrsch- und hand­hab­bar wer­den.
Hier hat Fräulein Rou­ti­ne ihre Wie­ge stehen.

Die­se Wie­der­ho­lung, die­ses Gefal­len an fest gefügten Abläufen — das ist die trügerische Familienähnlichkeit zwi­schen der Rou­ti­ne und dem Ritual.

Übrigens wider­spre­che ich der weit ver­brei­te­ten Mei­nung, nach der Kin­der von Geburt an unheim­lich offen sind für alles und jedes; ich tei­le nicht die Ansicht, dass sie unvor­ein­ge­nom­men neu­gie­rig sind auf die gan­ze Welt, durch Erzie­hung nur ver­dor­ben wer­den und überhaupt wir Ollen gut dar­an täten von ihnen zu ler­nen, wie das geht mit der Fremdheits-Freundlichkeit.

Es ist etwas dran und etwas dar­an stimmt überhaupt nicht. Denn Kin­der ver­wer­fen sofort Optio­nen, bei denen sie schlech­te Erfah­run­gen machen. Und nach­hal­ti­ge Offen­heit ver­langt Tole­ranz und Geduld mit Miss­erfol­gen, mit nega­ti­ven Begegnungen.

Ich möchte behaupten:

Frus­tra­ti­ons-resis­ten­te Offen­heit für das Unbe­kann­te wird erwor­ben und ist eine unse­rer gro­ßen Kul­tur­leis­tun­gen. Mich inter­es­siert, ob das Ritu­al dabei eine Rol­le spie­len kann.

Zum Ritu­al

Zuerst inter­es­siert mich immer die ursprüngliche Bedeu­tung der Begrif­fe, das ’Hand­lungs­mo­ment’ in etwas Imma­te­ri­el­lem wie einem Wort.

Das Ritu­al — da kom­me ich natürlich auf Ritus, auf eine hei­li­ge oder zumin­dest bedeut­sa­me Hand­lung. Die Nach­sil­be ’al’ fügt dem Wort noch etwas hin­zu… das lässt mich das Wort Ritu­al übersetzen als: Gefäß der Hei­lig­keit.
Genau so sehe ich das: Unter Ritu­al ver­ste­he ich eine for­ma­li­sier­te Hand­lung, die ein Gefäß für Bedeut­sam­keit, sogar Hei­lig­keit dar­stellt und je weni­ger Abwand­lun­gen von der for­ma­li­sier­ten Hand­lung, je sta­bi­ler das Gefäß.

Das Ritu­al schaut wie die Rou­ti­ne nicht rechts, wo die Wölfe in den Büschen lau­ern und nicht links, wo die schönen Blu­men ste­hen; tatsächlich besteht die Magie des Ritu­als dar­in, neben oder in der ritu­ell voll­zo­ge­nen Hand­lung kei­ne Neben­ge­scheh­nis­se oder ‑Gedan­ken zu dul­den; aber Ursprung und Bedeu­tung der For­ma­li­sie­rung sind ganz verschieden.

Wel­che Hand­lung das Zeug zu einem Gefäß für Hei­lig­keit hat, da sind kei­ne Gren­zen gesetzt. Alles kann Ritu­al sein.
Muss die Hand­lung an sich etwas Bedeut­sa­mes sym­bo­li­sie­ren?

Ich mei­ne, nein.

Es ist sogar inter­es­san­ter, wenn ihr Ursprung so banal wie möglich ist, wenn sie erst durch den Auf­wer­tungs­vor­gang, durch die Fokus­sie­rung auf den rausch­frei­en Voll­zug der­sel­ben zu etwas Inter­es­san­tem und Bedeu­tungs­vol­len wird.

Zur Ver­an­schau­li­chung möchte ich Ihnen eine klei­ne Übung mit­ge­ben. Den­ken Sie sich eine Hand­lung. So banal wie nur möglich. Und führen Sie sie mit der größtmöglichen Fei­er­lich­keit aus. Geben Sie kei­nem ande­ren Gedan­ken Raum, leis­ten Sie kei­nem ande­ren Impuls Fol­ge. Ich habe mei­ne Übung schon gemacht, ich habe, wenn Sie den klei­nen Film ange­schaut haben, ein Ei ver­schluckt. Ich muss­te lan­ge überlegen, was ich wählen würde für mein persönliches Ritu­al, das mir belie­big genug erschien. Je länger ich nach­sann, je kla­rer kam her­aus, dass es vor allem die Art ist, in der wir die Din­ge tun und die darüber ent­schei­det, ob sie bedeu­tungs­voll sind oder belanglos.

Hier kommt wie­der ein ’Übrigens’: Ich fin­de, dies kann uns ein Trost sein in Coro­na-Zei­ten.
Wir dürfen fest­stel­len, dass ein recht Weni­ges genügen kann, um dem Leben Sinn und Intensität abzu­ge­win­nen. Ein Ritu­al kann ein Klos­ter sein. 

Das Ritu­al ist ein Aufwertungsvorgang

Ein Ritu­al ist eine Hand­lung, mit der durch gestei­ger­te Acht­sam­keit alltägliche Hand­lun­gen zu überalltäglichen Hand­lun­gen auf­ge­wer­tet werden.

Es geht nicht dar­um, dass die Hand­lung an sich etwas Beson­de­res sein muss.

Füße waschen, essen, spre­chen, win­ken — all die­se Hand­lun­gen können sowohl Rou­ti­ne als auch Ritu­al sein; aber während man eine Rou­ti­ne in ein Ritu­al ver­wan­deln kann, so ist es nicht möglich, ein Ritu­al als Rou­ti­ne zu behan­deln, denn in dem Moment, wo dies geschieht, fehlt genau das, was das eine zu dem ande­ren wer­den lässt, nämlich die vol­le, mich ganz ausfüllende Acht­sam­keit. Und dann ist es kein Ritu­al mehr.

Ritua­li­sie­rung kann ver­schie­de­ne Levels erreichen.

Sie kann eine Auf­wer­tung des All­tags sein, ein Akt um unse­rem gesam­ten Leben eine höhere Qualität zu geben.

Sie kann ein sinn­li­ches Fest bedeu­ten unter Ein­be­zie­hung von thea­tra­li­schen Aspek­ten vor Publi­kum oder in einer eben­falls fei­er­lich gestimm­ten Gemeinschaft.

Die drit­te Stu­fe ist: Tadamm! The­se: Magie. Die maxi­ma­le Inten­si­vie­rung der Acht­sam­keit ver­mag den sprichwörtlichen Berg zu versetzen.

Anek­do­te mit Präambel.

Unser Gedächtnis ist ein Betrüger. Hirn­for­scher wie Eric Kan­del sind ihm auf die Schli­che gekom­men, es gibt umfas­sen­de und höchstspannende Lite­ra­tur dazu.

Man kann auch ein­fach die diver­gie­ren­den Ansich­ten geschie­de­ner Ehe­leu­te zum Schei­tern ihrer Bezie­hung (oder den aktu­el­len US-Wahl­kampf) anschau­en, um sich darüber klar zu wer­den, wie unter­schied­lich ein und das­sel­be Ereig­nis erin­nert wer­den kann und wie erbar­mungs­los überzeugt Kon­tra­hen­ten von ihren aus­ein­an­der klaf­fen­den Erin­ne­run­gen sein können.

Wenn das Gedächtnis aber ein Betrüger ist — wie kann ich dann sicher­stel­len, dass die Din­ge — so, wie ich sie erle­be und so, wie die Welt sie sieht, dass die — wenn sie schon nicht iden­tisch sind — doch wenigs­tens eine gewis­se lebens­not­wen­di­ge und Frie­den erhal­ten­de Schnitt­men­ge aufweisen?

Woher weiß ich, dass ich nicht in vol­ler Überzeugung eine Sicht auf die Din­ge ver­tre­te, die kei­ne ande­re objek­ti­ve Wahr­heit enthält als mein eige­nes Davon‑Überzeugtsein?

Und — wenn ich mir unsi­cher bin, aber nicht lügen will — erzähle ich dann lie­ber Geschich­ten, ver­tre­te ich dann lie­ber Überzeugungen, die möglichst viel Kon­sens-Poten­ti­al haben und unse­re Kon­sti­tu­tio­nen nicht infra­ge stel­len, anstatt mich aufs Glatt­eis zu wagen und eine Geschich­te zu erzählen, die irri­tiert, die anstößt, die ver­wirrt oder Ansich­ten zu ver­tre­ten, die zum Wider­spruch rei­zen und mei­ne Mit­men­schen aufbringen?

Wie unend­lich wich­tig ist für uns als han­deln­de Wesen, denen Urteils­kraft von Belang ist, die Gewiss­heit, im eige­nen Gedächtnis einen verlässlichen Part­ner zu haben, wenn wir nicht nur das Dasein über uns erge­hen las­sen und dem lau­tes­ten Brüllaffen hin­ter­her­lau­fen wol­len! — oder anders her­um sel­ber den Sieg über schwächere Indi­vi­du­en zur Bewahr­hei­tung unse­rer rein sub­jek­ti­ven Gewiss­hei­ten miss­brau­chen wollen.

Viel­leicht hat es zu mei­nen Leb­zei­ten kei­ne Epo­che gege­ben, in der mir das nicht nur für mich persönlich, son­dern gesamt­ge­sell­schaft­lich so essen­ti­ell erschien wie heute.

Viel­leicht führt das jetzt zu weit.
Ich woll­te jeden­falls mei­ner Überzeugung Aus­druck ver­lei­hen, dass sich eine Gesell­schaft aus Indi­vi­du­en bil­det und dass unse­re grund­le­gen­de indi­vi­du­el­le Lebens- und Gedankenführung auch in gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Zusammenhängen ’mat­ters’ — um es knapp zu sagen — und ich des­halb den Blick ger­ne zwi­schen dem Ein­zel­nen und dem Kol­lek­ti­ven hin und her wan­dern las­se, manch­mal lie­ber eige­ne All­tags­er­leb­nis­se zu Rate zie­he, um mir auf kol­lek­ti­ve Phänomene einen Reim zu machen.

Von ele­men­ta­rer Bedeu­tung scheint mir die Gewiss­heit, dass die Din­ge sich so zuge­tra­gen haben wie ich sie erin­ne­re, bezie­hungs­wei­se, die Fähigkeit, Din­ge so zu erin­nern, wie sie sich tatsächlich zuge­tra­gen haben.

Und wenn die­se Gewiss­heit oder die­se Fähigkeit nicht da ist?

Es gibt eine Hil­fe. Sie ist nicht per­fekt, aber bes­ser als nichts. Das ist, mei­ne ich, die Drei­tei­lung unse­res Gedan­ken-Zeit­rau­mes in bewuss­tes Anti­zi­pie­ren, acht­sa­mes Erle­ben und kri­ti­sche Reflexion.

Wir können uns unse­rer eige­nen Erleb­nis­se auch im Nach­hin­ein halb­wegs sicher sein, wenn wir sie vor­her­se­hen, bewusst erle­ben und her­nach reflek­tie­ren, anstatt uns ihnen wie zufalls­ge­lenkt zu überlassen.

Ohne Erin­ne­rung ist alles nichts.

Eine der größten Fort­schrit­te in der Evo­lu­ti­on des Gehirns war das Gedächtnis.
Futterplätze und: die Unter­schei­dung zwi­schen Freund und Feind.
Das waren die Grund­be­din­gun­gen für unse­re Vor­fah­ren sich zu sozia­len Wesen zu entwickeln.

Was hat das aber mit Ritua­len zu tun?

In mei­nem persönlichen Leben gibt es ein klei­nes, magisch auf­ge­la­de­nes Moment, das ich hier erzählen möchte:

Ich hat­te eine Bekannt­schaft in Ita­li­en, Mau­ro L., der in Bolo­gna bei Umber­to Eco Vor­le­sun­gen hörte und sich gera­de das Hero­in­schnup­fen abgewöhnte — sei­ne Fami­lie leb­te in Ber­ga­mo, die Schwes­ter: Stu­den­tin in Padua.

Er hat­te mich beim Tram­pen auf­ge­le­sen, wir ver­brach­ten zwei Wochen mit sei­nen Freun­den in Kroa­ti­en, dann haben sich unse­re Wege in bes­ter Freund­schaft getrennt und wir hörten nichts mehr voneinander.

Als ich mich zwei Jah­re später anschick­te, einen Kurz­trip nach Vene­dig zu machen, überkam mich der Wunsch, ihn zu sehen. Ich war aller­dings inzwi­schen mit einem sehr eifersüchtigen Kna­ben liiert und der Gedan­ke an die unver­meid­li­chen Aus­ein­an­der­set­zun­gen über so ein Wie­der­se­hen hiel­ten mich davon ab ihn zu kontaktieren.

Ich besaß ein Foto von besag­tem Mau­ro, ein prä-digitales Sel­fie, wenn man so will, denn er jobb­te in einem Foto­stu­dio und hat­te sich selbst foto­gra­fiert, um die Lichtverhältnisse zu prüfen.

Auf dem Bild steht er auf einem wei­ßen, Wand und Fuß­bo­den bede­cken­den Bogen Papier, hat eine Hand auf die Hüfte gestützt und schaut mit dem aller­leers­ten Gesichts­aus­druck in die Kamera.

Ich begann, die­ses Bild zu betrach­ten, mehr als das, ich fixier­te es und zwar nicht gefühlvoll, son­dern, als wenn es Arbeit wäre. Es war Arbeit. Ich streng­te mich an. Ich rich­te­te jeden Tag mei­ne Gedan­ken auf das Bild und spiel­te eine Sze­ne in Gedan­ken wie­der und wie­der durch.

Die Sze­ne ging sehr ein­fach: Mein aktu­el­ler Freund und ich gehen durch eine Gas­se in Vene­dig. Mau­ro L. kommt mir ent­ge­gen. Er ist in Beglei­tung. Er erkennt mich nicht und geht an mir vor­bei. Ich dre­he mich nach ihm um und rufe sei­nen Namen. Auf mei­nen Ruf hin dreht er sich um.

Jeden Tag wie­der­hol­te ich die­se Übung. Sie können raten: Wie geht die­se Anek­do­te zu Ende?

Die Geschich­te wäre des Erzählers nicht wert, wenn sie sich rein zufällig ein­fach so zuge­tra­gen hätte.

Dadurch, dass ich sie absicht­lich und bewusst anti­zi­piert habe, dass es einen mate­ri­el­len Gegen­stand gibt, der ein­be­zo­gen war und der sogar immer noch exis­tiert und dass die anti­zi­pier­te Sze­ne sich dann ganz genau­so in der Wirk­lich­keit abge­spielt hat, ist sie ein Mira­kel, eine beson­de­re Erfah­rung in mei­nem Leben.

Ich konn­te die­ses Erleb­nis nicht anders als für den Beweis anse­hen, dass die Übertragung von Gedan­ken- und Wil­lens­schwin­gun­gen abso­lut möglich ist, es sich nur die Fra­ge stellt, wie sich die­se Übertragung steu­ern lässt. Denn, kei­ne Angst — ich beherr­sche die­se Kunst nicht, Sie müssen nicht in ihre Hand­ta­schen grei­fen und nach­schau­en, ob die Porte­mon­naies noch da sind. Es ist das eine Mal gelun­gen — nicht gesche­hen — aber dann nicht wie­der oder jeden­falls… selten.

Die Geschich­te stammt aus ja vor-digi­ta­ler Zeit. Heu­te fin­de ich es oft belus­ti­gend, wie man­che Men­schen die­se Art von Ener­gie­trans­fer für eso­te­ri­schen Quark erach­ten, sich zugleich aber kein biss­chen wun­dern, dass sie mit einem Maus­klick einen 90-minütigen Film von Aus­tra­li­en nach Flens­burg schi­cken können — oder was auch immer.

Ich habe die Geschich­te schon öfter im pri­va­ten Umfeld erzählt, aber noch nie öffentlich. Viel­leicht war die Auf­for­de­rung, sich mit der poten­ti­el­len Wirkmächtigkeit von Ritua­len zu befas­sen, genau der rich­ti­ge Anlass dafür.

Ritua­le können magisch sein durch die poten­ti­ell unbe­grenz­te Auf­wer­tung unse­rer Handlungen.

Sie können uns hel­fen, durch das, was ich den Drei­zei­ten-Raum nen­nen möchte, uns unse­rer Nar­ra­ti­ve zu vergewissern.

Sie befrei­en uns von unse­ren Gewohn­hei­ten und bewah­ren uns vor Zufällen.

Sie hel­fen uns, unbe­fan­gen mit dem Unbe­kann­ten in Kon­takt zu tre­ten, weil wir durch sie ler­nen, uns anti­zi­pie­rend, acht­sam und reflek­tie­rend zugleich in Zeit und Raum sowohl zu bewe­gen als auch inne­zu­hal­ten — je nach­dem wie die Situa­ti­on es erfordert.

Zum Abschluss möchte ich ein Lied in Erin­ne­rung brin­gen, in dem die­ser Drei­zei­ten­raum, so wie ich das ver­ste­he, sehr poe­tisch beschrie­ben ist und das Elend, das der Ver­lust des­sel­ben mit sich bringt. Das ist das Lied ’Die Neben­son­nen’ aus der Win­ter­rei­se von Wil­helm Müller und Franz Schubert.

 

Die Neben­son­nen

 

Drei Son­nen sah ich am Him­mel stehn 

Hab lang und fest sie angesehen

Und sie auch stan­den da so stier

Als woll­ten sie nicht weg von mir

Ja, neu­lich hatt’ ich auch wohl drei 

Nun sind hin­ab die bes­ten zwei 

Ging nur die dritt erst hinterdrein 

Im Dun­kel wird mir woh­ler sein

 

Ich habe die­ses enig­ma­ti­sche Gedicht immer gedeu­tet als das Zer­bre­chen des Drei­zei­ten­raums und das Unter­ge­hen von Ver­gan­gen­heit und Zukunft. Eine Gegen­wart, die bleibt, wenn die Ver­gan­gen­heit ver­blasst ist und die Zukunft dun­kel, hat für den Wan­de­rer kei­nen Wert mehr.

Wenn wir im Ritu­al das Gefäß erken­nen, das die drei Zei­ten in einem Raum beher­bergt und in die­sem Raum unser Leben zu führen ler­nen, dann können wir, da bin ich sicher, auch auf poli­ti­scher Ebe­ne Ber­ge ver­set­zen. Ich würde aber nicht mei­ne Hand dafür ins Feu­er legen, dass die Geschich­te not­wen­di­ger­wei­se die Namen der wirkmächtigsten Figu­ren auf die Titel­sei­te druckt.

Pau­la Fünfeck. Okto­ber 2020

Pau­la Fünfeck (ali­as Irmelin Gödecke) wur­de 1963 in Hil­des­heim gebo­ren. Sie stu­dier­te an der HfMT Ham­burg Gesang und arbei­te­te von 1994 bis 1997 am Staats­thea­ter Olden­burg, bevor sie sich ab 1999 einen Namen als Autorin und Übersetzerin von Hörspielen und Theaterstücken für Kin­der und Jugend­li­che mach­te. Zu ihren Stücken zählen u.a. «Maxund­Murx», «Pfaf­fen­schnit­zel» oder «Mein lie­ber verrückter Vater». Für «Pini­en­ker­ne wach­sen nicht in Tüten» erhielt sie 2006 den Inno­va­ti­ons­preis des Hei­del­ber­ger Stückemarktes sowie den Münchner Jugend-Dra­ma­ti­ker-Preis der Spar­kas­se München. Zudem führt Pau­la Fünfeck Regie, war künstlerische Lei­te­rin des Pro­jek­tes Apollo18! und kom­po­niert seit Kur­zem. Momen­tan berei­tet sie die Uraufführung ihrer ers­ten Oper vor.